Kapitel 35

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Kralle's Sicht

„Hey Pia, lange nichts mehr von dir gehört. Wie geht es dir?“ Unser letztes Telefonat ist schon einige Wochen her und ich freue mich sehr mal was von ihr zu hören. Als Pia im Dezember letzten Jahres nach Hattingen zog, wegen einem Kerl, den ich doch recht komisch finde, habe ich das nicht so ganz verstanden. Bei unserem ersten Telefonat hat sie mir dann erklärt, dass sie es als Chance gesehen hatte, endlich aus ihrem Elternhaus raus zu kommen und nicht mehr die Putze sein zu müssen. Anfangs war unsere ganze Clique ziemlich sauer auf sie, aber nach diesem Gespräch konnte ich den anderen ihre Gründe erklären und die Wut verflog recht schnell wieder.
„Mir geht es ganz gut und dir“, fragt Pia, „was macht Carina? Ist sie immer noch in der Bäckerei am Arbeiten?“
„Mir geht’s auch ganz gut. Noch arbeitet sie in der Bäckerei, aber sie fühlt sich dort seit längerem echt unwohl …“ Ich erzähle Pia die ganze Geschichte, wie meine Freundin dort gemobbt wird und für jeden Fehler klein gemacht wird. Auch erzähle ich ihr von dem Plan, dass Carina sich demnächst in der Firma Kux, einem großen Logistikzentrum für Baumärkte, wo auch ich arbeite, vorstellen wird. „Und wie läuft es im BZH so?“, frage ich Pia anschließend und muss wegen diesen etwas unpassenden Abschluss meiner Story lachen.
„Man da ist was los bei euch“, Pia lacht leise auf, „aber ja, so weit läuft es ganz gut im BZH. Sind halt viele dabei, die genauso bescheuert sind wie wir. Vor allem Anna, von der ich dir schon mal erzählt habe, die mag ich echt gerne, weil sie einfach genau so durch ist und wir viel lachen können. Du musst unbedingt mal herkommen und sie kennenlernen, ihr würdet euch echt gut verstehen.“ Pia und ich sprachen noch ein wenig über Anna und das BZH und sie erzählte mir ein wenig, wie es ihrem Freund und seiner Familie so ging und was sie machten.
„Hör mal“, unterbreche ich sie, „schick mir mal die Adresse von dem BZH Dings und wir machen einen Tag aus, wann ich vorbeikomme. Ich muss gleich noch etwas einkaufen und sauber machen, bevor Carina von der Spätschicht kommt.“
„Ich schick dir die Adresse nachher. Lass uns Anfang nächster Woche mal telefonieren, wann wir uns da treffen. Du musst aber mit dem Motorrad kommen, versprochen?“ Ich muss lachen: „Kann ich gerne machen, wenn ich den Weg finde. Alles klar, dann bis die Tage.“ Wir verabschieden uns und ich bin echt jetzt schon gespannt, ob ich den Weg dorthin wirklich finde. Ich habe Pia so lange nicht mehr gesehen und vermisse unsere lustigen und tiefsinnigen Abende richtig.


Es vergingen ein paar Tage bis Pia wieder anrief und wir einen festen Termin machen konnten, aber es passte alles. Ich hatte das Wetter überprüft, denn in strömendem Regen mit dem Motorrad zu fahren ist ekelhaft und gefährlich, und nachgesehen, wie lange in etwa ich brauchen würde, wenn ich über die Landstraße fahre. Ich hasse Autobahnen mit dem Motorrad zu fahren. Heute ist es endlich so weit und ich bin den ganzen Morgen schon ganz aufgeregt vor Freude, aber auch etwas in Sorge, dass ich mich mal wieder verfahre. Ich habe einen Orientierungssinn wie ein Stein, am besten gar nicht bewegen und mein Navi macht auch nicht immer was es soll. Ich mache mich in Ruhe fertig, rauche mir eine zum Kaffee und ziehe mich entspannt an. Pia hatte mir noch gesagt, dass Ron, ich glaub so hieß der Typ, total scharf darauf ist meine Harley zu betrachten und nur deswegen soll ich damit kommen. Ein ziemlich dämlicher Grund, aber ich fahre gerne Motorrad und deswegen stört es mich eigentlich auch nicht, trotzdem ist der Grund dämlich, nur mal so nebenbei bemerkt. Auch dieser Anna hat sie ganz stolz erzählt, was für ein tolles Moped ich fahre und wie verrückt ich bin und all sowas, obwohl ich doch eigentlich der totale Gentleman bin, mit etwas tiefschwarzem Humor und einem Hang zum Blödsinn. Während ich so darüber nachdenke, wer und was mich erwartet, Schraube ich das Navi am Lenker fest und setzte mir den Helm auf. Kaum steige ich auf mein Moped fühlt es sich an, als würde ich in eine andere Welt eintreten. Sofort steigt mir der Geruch nach Benzin in die Nase und ich freue mich riesig auf die Fahrt. Das dumpfe blubbern beim Anlassen ist Balsam für meine Seele und gekonnt drehe ich das Gas auf. Los geht’s, Pia ich bin unterwegs.
Ich bin froh, als ich endlich ankomme, denn die Fahrt war etwas anstrengend. Knapp eineinhalb Stunden habe ich über die Landstraße gebraucht und die ganzen blöden Hubbel haben das Navi gelockert, sodass ich alle Nase lange daran rumfummeln konnte, um überhaupt zu sehen, wo ich hin muss. So ein blöder Kasten. Ich stelle mich einfach direkt vor den Haupteingang am BZH, ist ja platzt genug, allerdings ist noch keiner da. Ich denke mal Pia und die anderen werden schon mitbekommen haben, dass ich da bin, bei dem Krach den ich veranstalte. Es dauert keine zehn Minuten und mir halt ein lautes Hii entgegen.
„Na du, auch endlich mal Pause von dem Mist da drin“, grinse ich Pia an und nehme sie zur Begrüßung in den Arm.
„Ich durfte etwa früher raus, weil ich dem Dozenten gesagt habe, dass du kommst und einen weiten Weg hinter dir hast.“
„Das ist aber nett von dem. Sag mal, gibt es hier irgendwo Kaffee?“, frage ich sie und schaue mich gespielt fragend um.
„Es gibt in der Cafeteria einen Automaten, aber der kostet 50 Cent und ist nicht so gut, aaaaaber …“, Pia fummelt an den Taschen ihrer Jacke herum und fischt zwei Dosen Red Bull raus, „ich hab da mal was mitgebracht.“ Grinsend reicht sie mir eine Dose.
„Du bist genial, danke. Komm lass uns in die Sonne setzten, mir tun die Knochen weh von der langen Fahrt“, sage ich und zeige auf eine Mauer am Ende des Parkplatzes, wo die Sonne schön drauf scheint. Gemeinsam setzten wir uns auf die Mauer und rauchen uns erstmal eine. Es dauert nicht lange und die anderen aus der Gruppe kommen aus der Tür heraus. Eine kleine Gruppe von ihnen kommt in unsere Richtung.
„Ron, endlich seid ihr Mal fertig. Das ist Kralle, von dem ich euch schon erzählt habe“, erklärt Pia den anderen, „Ach ja, Anna ist heute nicht da. Sie ist zum Arzt gegangen, ihr ging es wohl echt nicht so gut“, gibt sie kleinlaut zu.
„Das macht nichts, ich bin ja deinetwegen hier und es kommt sicher noch die Gelegenheit, dass ich sie kennenlernen kann“, lächle ich Pia an. Wir quatschen noch einige Zeit in der Sonne, bis Ron es nicht mehr bei sich halten kann: „Lass mal dein Moped gucken, ich will auch mal fahren“ Geiert er los und marschiert schnurstracks zur Harley.
„Ich kann dich gerne mal mitnehmen, aber bevor ich jemanden damit fahren lasse, Hack ich dem die Hände ab“, gebe ich klar zu verstehen und zwinkre Pia dabei zu. Sie kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Am Moped angekommen werde ich sofort mit fragen durchlöchert: „Wie viel PS hat die?“
„Wie teuer war die?“
„Wie lange hast du die schon?“, und so weiter. Freundlich wie ich bin, beantworte ich alle Fragen und lasse den Motor einmal zur Schau aufheulen. Da hab ich die anderen wohl beeindruckt, ups wollte ich ja gar nicht. Wir quatschen noch etwas über das Moped und woher Pia und ich uns kennen, als es auch wieder läutet.
„Kralle, wartest du noch etwas, wir haben in einer Stunde Schluss und dann können wir noch etwas quatschen bis der Bus kommt.“ Pias große Kulleraugen sprechen für sich und ich bejahe einfach, hab ja sonst nicht viel zu tun und ich freue mich auch mal wieder etwas Zeit mit ihr zu haben. Während die anderen im Unterricht hocken, vertreibe ich mir die Zeit und schaue mir die Umgebung etwas an. Gut, dass ich ein paar Zigaretten mehr eingepackt habe, denn mach zwei Runden um das Gebäude wird mir langweilig und ich rauche ganze drei Stück weg. Zehn Minuten vor Schluss setzte ich mich in das Gebäude und warte. Die Minuten vergehen schnell und ich höre Rons Stimme und seine Kommentare.
„Na war dir langweilig?“, fragt Pia mich.
„Nö nicht wirklich. Nette Gegend hier unten." Grinsend Strecke ich ihr die Zunge raus und gemeinsam verlassen wir das Gebäude.
„Mein Bus kommt gleich“, sagt Ron und schaut dabei mich an, „kannst du mich vielleicht bis da vorne an die Haltestelle auf dem Moped mitnehmen?“ Er grinst über beide Ohren. Ich verstehe die Augen, muss aber auch grinsen: „Ja, komm ich bring dich da rüber.“
„Wuuuuuh." Ist alles was hervorbringt. Pia und ich müssen lachen. Ich setzte mich auf mein Moped und deute Ron an, sich hinter mich zu setzen. Seine Freude merkt man ihm richtig an. Als ich den Motor starte, johlt er los und wir fahren zur Haltestelle. Im Rückspiegel sehe ich wie Pia uns gemütlich folgt. An der Haltestelle angekommen meint sie: „Mein Bus kommt auch gleich. Ich denke mal du musst bestimmt auch jetzt los, es war schön, dass du mal da warst und vielleicht wiederholen wir das demnächst noch mal!?“
„Ich wollte mich jetzt auch auf den Weg nach Hause machen, stimmt. Pass auf, wir telefonieren die Tage wieder und schauen, wann wir uns das nächste Mal treffen werden, was hältst du davon?“
„Machen wir so.“ Und mit den Worten geben wir uns eine innige Umarmung zum Abschied und ich mache mich auf den Heimweg.

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now