Kapitel 10

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Unsicher knibble ich an einem Hautfetzen, am Fingernagel. Ich stehe bestimmt schon zehn Minuten vor Chris Tür und traue mich nicht zu klingeln. Was ist, wenn er mich nicht sehen will? Seit vier Wochen habe ich nichts mehr von ihm gehört. Vielleicht hat er eine Freundin. Krampfhaft zieht sich mein Magen zusammen. Nein, so was darf ich nicht denken. Tief atme ich ein letztes Mal durch und halte meinen Finger über die Klingeln. Nervös drücke ich den Knopf und beiße mir auf die Lippe. Flehend schaue ich auf die Tür und warte auf das vertraute Summen. Doch die Minuten verstreichen und keiner öffnet mir. Seufzend drehe ich mich um und setze zum Gehen an, als eine ältere Frau mich am Arm packt.
„Wollen Sie zum Herrn Meis?“, fragt sie mich sanft und ihre braunen Augen Mustern mich. Schnell nicke ich.
„Ja, ich. Ähm ich habe ihn schon länger nicht gesehen“, stammle ich und beiße abermals auf meine Lippe.
„Es wird Ihnen zwar nicht viel bringen, aber er ist schon seit drei Wochen nicht mehr zu Hause. Leider weiß ich auch nicht wo er sich befindet. Tut mir leid Liebes“, ihre Stimme bebt leicht und ihre Hand zittert. Wieder seufze ich und nicke kurz: „Trotzdem danke.“ Niedergeschlagen laufen ich nach Hause. Er kann doch nicht einfach verschwinden und mich ohne ein Wort zurücklassen. Ohne zu klopfen reiße ich dir Zimmertür von Tim auf und staune nicht schlecht, als ich das neue Dachfenster sehe. Und ich habe nur ein altes gammliges Fenster. Tim zieht seine Kopfhörer ab und schaut mich fragend an.
„Weißt du was mit Chris ist? Wir. Er wollte mir letzte Woche eine CD fertig machen, aber ich erreiche ihn nicht.“ Nervös tippel ich auf dem Boden und versuche in Tims Gesicht etwas zu sehen, doch er schüttelt nur den Kopf.
„Keine Ahnung. Hab ihn letzten Monat gesehen, aber seit dem auch nicht mehr.“ Schulterzuckend widmet er sich wieder dem Computer und scheucht mich mit einer Handbewegung raus. Das kann doch nicht sein. In mir breitet sich eine schreckliche Leere aus. Er kann mich doch nicht verlassen. Tränen sammeln sich in meinen Augen und verirren sich hinaus. Laut scheppert meine Tür zu und ich schmeiße mich auf mein Bett. Warum tut er mir das an? Er hat doch gesagt, dass er immer für mich da ist. Wieso verlässt er mich dann? Frustriert schreie ich auf und schlage auf mein Kissen ein. Wütend springe ich wieder auf, reiße die Tür auf und treffe mit voller Wucht auf das Holz. Erschrocken ziehe ich meine Faust aus der Tür heraus und starre auf meine Knöchel, leichte Schürfwunden und etwas Blut ist zu sehen. Viel mehr sorgen mache ich mir um die Tür. Mein Vater bringt mich um, wenn er das sieht. Wieder schreie ich auf. Das kann doch alles nicht wahr sein. Mit aller Kraft ziehe ich an meinen nachgewachsenen Haaren, doch ich finde kaum Halt. Unaufhörlich pocht meine Hand und in mir droht alles zusammenzubrechen. All die Mauern die ich gebaut habe wanken und erdrücken mich. Mein Herz fühlt sich unfassbar leer und das atmen fällt mir schwer. Gestresst laufe ich in meinem Zimmer auf und ab. Das Messer lächelt mich an und ruft leise nach mir. Kopfschüttelnd drehe ich mich weg und schlage erneut gegen die Tür. Es bringt mir absolut keine Erleichterung. Ich weiß nicht wohin mit mir. In mir tobt dieser unaufhörlich Kampf, zwischen selbstverletzen oder nicht. Krampfhaft klammere ich mich an mein Bett und haue immer wieder mit dem Kopf gegen die Kante. Ich gebe den Kampf auf. Schnell greife ich nach dem Messer und kratze mit der kompletten Klinge die Hautschicht ab. Es ist nicht tief, aber doch genug um mir wieder Luft zum atmen zu geben. Unruhig zapple ich mit meinen Füßen und kratze immer weiter auf der Haut. Es fängt an zu brennen. An einigen Stellen tritt Blut hervor. Jedes Mal, wenn das Messer über die Haut geht verteilt es das Blut und neues quillt hervor. Alles in mir zieht sich wieder zusammen, ich schmeiße das Messer auf den Tisch und Rolle mich in meinem Bett zusammen. Eine unglaubliche schwere drückt mich nach unten und ich will nur noch liegen bleiben und gar nichts tun. Wie ein Bleimantel, welche mir auf den Körper gelegt wird, drückt mein Körper auf die Matratze. Leise summt mein Handy, doch ich habe nicht die Kraft um es an mich zu nehmen. Ich habe gar keine Kraft. Das Atmen fällt mir zunehmend schwerer. Mein Körper zittert. Das helle Licht von draußen tut mir in den Augen weh, sodass ich mit fest zusammen gekniffenen Augen meine Decke über den Kopf ziehe. Ungehalten laufen die Tränen über mein Gesicht. Warum verlassen mich alle, die mir irgendwas bedeuten? Schluchzend packe ich meinen Arm und drücke zu. Der Schmerz zieht hoch bis in meine Schulter und breitet sich von dort über meinen gesamten Körper aus. Ich bin allein. Ich werde es immer sein. Wieder summt mein Handy, doch ich will es nicht hören. Will niemanden sehen. Noch fester kneife ich in die Wunde, bis der Schmerz verebbt.


Müde schaue ich mein Spiegelbild an. Meine Augen sind vom ganzen weinen rot und geschwollen, die Schminke verteilt über mein ganzes Gesicht. Ich fühle mich so leer. Tief ziehe ich die Luft durch die Nase ein und halte den Atem an. Langsam wische ich, mit dem Wattepad, die schwarzen Flecken weg und lasse die Luft wieder aus meiner Lunge entweichen. Minutenlang bleibe ich vor dem Spiegel stehen. Ich kann mich nicht bewegen und will es auch gar nicht. Was ist nur aus mir geworden? So wie ich jetzt bin wollte ich nie sein. Ich greife nach dem Make-up und verteile es über mein Gesicht. Die roten Flecken sind abgedeckt und niemand kann mehr sehen wie es mir wirklich geht.

Wie in Trance gehe ich zur Bushaltestelle, ignoriere alles und jeden und quetsche mich in den Bus hinein. In der Raucherecke bleibe ich stehen, um die letzten paar Minuten Ruhe vor der Schule zu genießen. Irgendjemand spricht mich an, doch ich starre stur auf den Boden. Ich will mit niemanden reden und erst recht nicht jemanden angucken. Desinteressiert kritzle ich auf meinem Block herum und beiße mir kleine Hautfetzen von der Lippe. Keiner hat bis jetzt auch nur ein Wort mit mir gesprochen und selbst die Lehrer scheint es nicht zu interessieren.
Weit entfernt höre ich Herrn Geller sagen: „Eine letzte Gruppenarbeit steht an. Bereitet ein Referat über das dritte Reich vor und wie es dazu kommen konnte.“ Genervt verdrehe ich meine Augen und bleibe sitzen. Ich muss die Gruppenarbeit so wie so alleine machen, also brauche ich gar nicht gucken mit wem ich in eine Gruppe könnte.
„Anna, was ist mit dir? Zu wem möchtest du?“ Herr Geller steht direkt vor mir und hockt sich auf meine Höhe.
„Bringt doch nichts. Ich mach alleine was“, seufze ich und kritzle weiter auf meinem Block.
„Nicht in meinem Unterricht“, Herr Geller steht auf und schaut sich um, „Florian, Max und Sarah, ihr arbeitet mit Anna zusammen“, verkündet er, was alle drei aufstöhnen lässt. Auch ich stöhne genervt und kneife die Augen zusammen. Warum kann man mich nicht einfach in Ruhe lassen?
„Keine widerrede. Es ist eine Gruppenarbeit. Also los, setzt euch zusammen und arbeitet.“ Gelangweilt schleppe ich meine Sachen zu den anderen und setze mich dazu.
„Was sollen wir jetzt noch mal machen?“, fragt Max die andern beiden und krempelt seine Ärmel hoch.
„Drittes Reich, wie es dazu kam“, antworte ich genervt und schlage das Geschichtsbuch auf.
„Hitler konnte es einfach“, lacht Florian und schreibt irgendwas auf seinen Block, welchen er zu Sarah rüber schiebt.
„Er hatte Charisma und das ausgesprochen was viele gedacht haben. Mein Gott habt ihr gar nichts gelernt?“ Ich schiebe das Buch in die Mitte und tippe auf die Seite, „Hitler war ein guter Redner und hat dadurch alle in seinen Bann gezogen.“ Fragend schauen mich die drei an, was mich wieder genervt stöhnen lässt.
„Erklärt aber nicht wie es zum dritten Reich kam“, gibt Sarah zickig von sich und knotet ihre braunen Haare zusammen.
„Natürlich. Er hat nun mal den nerv der Zeit getroffen und dadurch hat er immer mehr Stimmen des Volkes bekommen.“
„Mach einfach gar nichts Anna. Wir machen das schon alleine“, meint Max und nimmt sich mein Buch. Schnell ziehe ich es wieder zu mir, bevor er etwas da rein schreiben kann und stütze meinen Kopf auf der Hand ab. Dann sollen sie es halt alleine machen, ist mir auch egal.

Wann hört es auf? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt