Kapitel 16

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Seit zwei Wochen wohne ich schon regelrecht bei meiner Schwester. Ich will nicht nach Hause, dass ganze Chaos da kann ich mir nicht antun. Michelle hat sich schon so sehr an meine Anwesenheit, dass sie mich sofort anrufen will, wenn ich mal nicht unmittelbar nach der Schule zu ihr komme. Langsam schlendere ich grinsend durch den Park hinter dem Haus und beobachte wie das Wasser im Teich sich beim Wind bewegt. Katerchen läuft die ganze Zeit mit mir über den Schotterweg. Leise miaut er mich an und streicht an meinem Bein entlang.
„Sollen wir rein gehen?“, frage ich ihn beiläufig, hocke mich zu ihm hinunter und tätschle seinen Kopf. In dem Moment höre ich jemanden laut nach mir rufen. Die Stimme kommt mir bekannt vor. Langsam drehe ich mich in die Richtung, woher die Stimme kam und sehe Silvia. Mit weit aufgerissenen Augen renne ich auf sie zu. Ich kann es nicht glauben. Sie steht hier, vor mir, in einer viel zu weiten blauen Jacke und zu stark geschminkten Augen. Das war nie ihr Ding. Eher dezent und unauffällig, aber wie ist hier.
„Was machst du hier?“, frage ich mit einer zu piepsigen Stimme und halte sie an den Schultern. Fest drücke ich sie an mich, was sie leise stöhnen lässt.
„Ich bekomme keine Luft“, jappst sie und fängt an zu lachen, „Wir haben uns lang nicht gesehen und ich dachte, ich fahr einfach mal vorbei.“ Schulterzuckend sieht sie mich an und nimmt mich noch mal in ihre Arme. Grinsend ziehe ich sie zu einer Parkbank nicht weit von uns entfernt.
„Was hast du so gemacht? Wie ist es bei deiner Mutter? Warum zum Teufel hast du dich nicht gemeldet?“, plappere ich wild drauf los und Trommel ungeduldig mit den Fingern auf meinem Oberschenkel. Seufzend erzählt sie mir genau dass, was ich ihr prophezeit habe. Ihre Mutter benutzt sie, als billigen Babysitter und ist nur unterwegs.
„Hab ich es dir nicht gesagt?“ Besserwisserisch ziehe ich eine Augenbraue hoch und haue ihr leicht vor die Schulter, „Komm mit Michelle hat auch schon nach dir gefragt.“ Ich greife nach ihrer Hand und zerre sie um den Wohnblock herum. Schnell schließe ich die Tür auf und renne mit Silvia in die erste Etage.
„Anna!“, ruft Michelle sofort nach mir und kommt aus ihrem Zimmer gerannt, „Silvia?“ Fragend bleibt sie vor uns stehen. Abwechselnd schaut sie uns an, springt mir dann aber doch in die Arme.
„Hey Kleine“, sanft tätschelt Silvia ihren Arm.
„Ich bin nicht klein“, protestiert sie und schiebt ihre Unterlippe hervor. Lachend gebe ich ihr einen Kuss auf die Wange und trage sie ins Wohnzimmer.
„Nicole, Silvia ist da“, gebe ich ihr kund, doch sie ist gar nicht im Wohnzimmer.
„Mama schläft, wir müssen leise sein“, flüstert Michelle nah an meinem Ohr und zappelt mit ihren Beinen, damit ich sie wieder runter lasse. Ich nicke nur zur Bestätigung und deute Silvia an auf den Balkon zu gehen.


„Bevor ich es vergesse“, lächelnd kramt Silvia in ihrer Tasche und holt eine kleine Schachtel heraus, „Alles Gute nachträglich zum Geburtstag.“ Dankend nehme ich ihr Geschenk ab und öffne es ungeduldig. In Regenbogenfarben schimmert ein Zippofeuerzeug, im Sonnenlicht. Lächelnd nehme ich es heraus, in kaum zu erkennender Gravur steht Best friend darauf.
„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, vorsichtig streiche ich über das Zippo und lächle vor mich hin, „Darauf rauchen wir uns eine.“ Lachend greife ich nach der Schachtel Zigaretten, auf dem Gartentisch und reiche Silvia eine, bevor ich mir eine herausnehme.
„Weißt du noch, als wir uns kennengelernt haben?“, frage ich beiläufig und muss mir ein Lachen verkneifen.
„Wer ist Anna?“, äfft Silvia sich albern nach und grinst über beide Ohren, „Wir hatten schon einen komischen Start. Aber hey, die Segelfreizeit war das geilste was wir hätten machen können.“
„Hätte Papa mich nicht zum Konfirmationsunterricht angemeldet, hätten wir uns aber nie kennengelernt“, seufzend lehne ich mich auf dem Stuhl zurück und genieße die Wärme, von der Sonne. Heute ist es erstaunlich warm für Februar, aber nichts was mich stören würde. Viel mehr begrüße ich den herannahenden Frühling.


Stundenlang saßen Silvia und ich auf dem Balkon und haben die Zeit zu zweit und zwischendurch zu dritt genossen. Es war mehr als schön endlich jemanden zum Reden zu haben.
„Willst du noch mit zu mir kommen?“, fragt Silvia und lehnt sich an meine Schulter an, „Wir könnten mal wieder einen Abend nur für uns machen, wenn Mirko uns nicht stört.“ Leise lacht sie auf, so dass ich mit wackle.
„Ich frag Nicole mal eben, ob es sie stört, wenn ich jetzt weg bin.“ Leise schleiche ich mich am Kinderzimmer vorbei und gehe ins Schlafzimmer. Geschockt halte ich inne. Nein das wollte ich definitiv nicht sehen. Schnell schlage ich mir die Hand vor die Augen und drehe mich weg. Weißes Pony auf grüner Wiese, weißes Pony auf grüner Wiese. Das Bild wie Nicole vor Andy kniet und seinen Penis im Mund aufnimmt geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
„Ähm ich bin bei Silvia. Bis morgen.“ Eilig renne ich wieder raus, nehme meine Tasche und zerre an Silvias Arm. Draußen angekommen schüttle ich mich und versuche dieses Bild aus meinem Kopf zu bekommen. Kurz erzähle ich Silvia was ich eben gesehen habe, was sie nur laut zum lachen bringt.
„Das. Das haben die…“, Tränen Rollen über ihre Wange und sie kann sich nicht mehr halten. Fest klammert sie sich an meine Hand und versucht nicht umzukippen.
„Das ist nicht lustig“, gespielt beleidigt stapfe ich auf den Boden, kann mich aber selber nicht mehr ernst nehmen und breche ebenfalls in schallendes Gelächter aus. Viel zu lang habe ich nicht mehr so gelacht. Ich wische die Freudentränen aus meinem Augenwinkel und unterdrücke den drang weiter zu lachen, doch ich scheitere kläglich und fange erneut an. Meine Wangen und der Bauch tun mir schon vom lachen weh und auch Silvia krümmt sich. Nur langsam beruhigen wir uns und gehen die Stadtmauer entlang zum Busbahnhof.
„Ich hab dich wirklich vermisst“, seufzt Silvia und drückt mich zum hundertsten mal an sich.
„Ich dich auch. Es war ziemlich langweilig ohne dich.“


Der Bus steht schon abfahrbereit und wir nehmen die Beine in die Hand. Außer Atem stehen wir vor der verschlossenen Tür und klopfen an die Scheibe. Der genervte Gesichtsausdruck vom Busfahrer spricht Bände. Leise bedanken wir uns und gehen nach ganz hinten, wo man am besten die Schlaglöcher abbekommt. Im letzten Moment springt noch jemand in den Bus und mir gefriert das Blut in den Adern. Warum heute? Warum ausgerechnet jetzt? Panisch kneife Ich Silvia in ihren Arm, was sie auf quieken lässt.
„Hör auf Anna, du tust mir weh.“ Verzweifelt drücke ich nur noch fester zu und rutsche immer tiefer in meinen Sitz. Wie wild schlägt mein Herz. Ich muss hier weg. Schnell drücke ich mehrmals hintereinander auf den Stoppknopf und beiße fest auf meine Lippe. Nicht fähig etwas zu sagen. Er hat mich noch nicht bemerkt, aber ich starre ihn an. Gleich wird er mich bestimmt bemerken. Silvia folgt meinen Blick und erstarrt ebenfalls.
„Wir nehmen den nächsten Bus. Ganz ruhig“, redet sie sanft auf mich ein und wehrt sich nicht mehr gegen meine Kneifattacke. Unruhig atme ich ein und aus und lasse Marc nicht ein Mal aus den Augen. Während er sich setzt treffen sich unsere Blicke und es ist als würde die Welt stehen bleiben. Seine braunen Augen durchbohren mich, sein Gesicht wirkt schmaler, als vor zwei Jahren und noch viel kantiger. Mein Herz rutsch mir in die Hose, ich bekomme keine Luft mehr. Süffisant lächelt er mich an und leckt sich über seine Lippen. Er widert mich an. Die Bilder, wie er über mir hängt und meinen Namen stöhnt, kommen mir sofort vor Augen. Wie er meine Hände umklammert und immer wieder zustößt. In mir baut sich der drang auf, alles an mir zu waschen und mit der Bürste ab zu kratzen. Ich fühle mich unfassbar dreckig und verletzlich. Mein Lippe schmerzt, doch beiße ich nur noch fester drauf. Bis sich der metallische Geschmack in meinem Mund ausbreitet. Langsam lecke ich das Blut ab und spüre den Druck noch weiter zu machen.


Silvia zieht an meinem Arm und zwingt mich ihr zu folgen. Widerwillig lasse ich mich von ihr führen. Nicht ein Mal unterbrechen ich den Blickkontakt mit Marc, bis der Bus weiter fährt. Erschöpft sacke ich zusammen und lasse den Tränen freie Bahn. Ungehalten laufen sie über mein Gesicht. Schlagartig wird mir schlecht, mein Magen zieht sich krampfhaft zusammen und mein gesamtes essen, welches ich über den Tag zu mir nahm, verteilt sich auf dem Gehweg.
„Es ist alles gut. Er kann dir nichts tun“, flüstert Silvia sanft in mein Ohr und zieht mich von meinem erbrochenen weg.
„NICHTS IST GUT. DIESER BASTARD DARF WEITER LEBEN UND ICH? ICH BIN KAPUTT, WEGEN IHM! ER MACHT WEITER, ALS WÄRE NIE WAS GEWESEN“, schreie ich sie verheult an. Ich bin so angekotzt von mir selbst und der ganzen Situation. Wütend schlage ich gegen eine Laterne. Wie oft meine Faust das Metall berührt merke ich gar nicht mehr. Alles um mich herum wird schwarz und ich fühle nichts. Es ist unfassbar still um mich herum geworden. Weit entfernt höre ich meinen Namen, aber darauf gehe ich nicht ein. Viel zu schön ist diese Ruhe. Hier will ich bleiben.

Wann hört es auf? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt