Kapitel 20

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„Anna, ist alles ok, du siehst so blass aus?“ Besorgt mustert Aileen mich und legt ihre Hand auf meine Schulter.
„Ich seh auf einem Auge kaum noch was, aber ist nicht so schlimm“, gebe ich leise von mir und drücke meine Hand auf das rechte Auge. Meine Sicht ist auf dem anderen so verschwommen und Panik steigt in mir auf. Was ist wenn ich blind werde? Nervös beiße ich auf meine Lippe und versuche meine Atmung zu beruhigen.
„Du solltest zum Arzt.“
„Ich kann doch nicht schon wieder fehlen“, seufze ich und lehne mich an die kühle Wand vor dem Musikzimmer. Langsam füllt sich der Flur und es wird eng. Wie ich diese beengenden Flure hasse.
„Es geht um deine Gesundheit“, redet Aileen auf mich ein und sieht sich um, „Was ist, wenn es was ernstes ist?“ Ich weiß ihre Sorge wirklich zu schätzen, aber ich war erst letzte Woche schon für drei Tage Krankgeschrieben. Auch wenn ich nur die Kein-Bock Krankheit hatte.
„Frau Schierholz? Anna sieht kaum was auf ihrem linken Auge, sie sollte zum Arzt.“ Höre ich Aileen sagen und werfe ihr einen bösen Blick zu. Das kann doch nicht ihr ernst sein.
„Ja, als ob“, ruft Max.
„Die hat nur kein Bock auf Schule“, meint Florian.
„Halt doch deine fresse!“, zische ich wütend, „Genau deswegen, wollte ich nichts sagen“, flüstere ich zu Aileen. Sie verdreht nur die Augen und schaut wieder zu unserer Musiklehrerin hoch.
„Du siehst wirklich nicht gut aus. Und ihr “, sie schaut böse zu Max und Florian, „seid ruhig. Aileen, begleite Anna bitte zum Sekretariat und sag, dass ich euch schicke.“ Besorgt sieht sie uns nach, während Aileen meine Handtasche nimmt.
„Hast du Backsteine in deiner Tasche?“ fragt sie leicht schmunzelnd und führt mich die Treppen hoch.
„Nö, nur keine Lust gehabt alles aus zu räumen. Ich glaub heute hab ich alle Bücher mitgenommen.“ Schulterzuckend stolpere ich ein paar Stufen hoch.

„Anna“, seufzt Frau Maier schaut wieder auf ihren Computer und tippt eifrig, bevor sie uns wieder ansieht.
„Frau Schierholz hat uns geschickt. Anna sieht kaum was“, erklärt Aileen, während sie mich sanft auf einen der freien Stühle schiebt.
„Das klingt aber gar nicht gut. Wie ist das denn passiert?“ Frau Maier kommt hinter ihrer Empfangstheke hervor und begutachtet mich.
„Keine Ahnung, es ist seit heute morgen so und wird immer schlimmer.“ Kurz schließe ich meine Augen und spüre wie sich im linken Auge Tränen sammeln, nicht weil ich traurig bin, viel eher weil es brennt, „Können sie meine Schwester anrufen und sagen sie soll mich abholen?“, frage ich leise und beiße mir abermals auf die Lippe.
„Natürlich Liebes.“

Nach einer Stunde des endlosen Wartens öffnet sich endlich die Tür, neben mir, doch statt Nicole steht Andy dort und schaut sich nach mir um.
„Anna, was machst du für Sachen?“ Er hockt sich vor mir und nimmt meine Hände in seine. Ich versuche zu lächeln und merke wie ich kläglich scheitere. Sanft legt Andy seine Arme um mich und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
„Ist Nicole nicht da?“, frage ich leise.
„Sie wartet im Auto. Es ist doch in Ordnung wenn ich Anna mitnehme oder?“, fragt er Frau Maier etwas lauter.
„Eigentlich nicht, unsere Schüler dürfen nur von denen abgeholt werden, die auf der Liste stehen.“ Nachdenklich schaut Frau Maier zwischen uns hin und her, gibt sich aber geschlagen und scheucht uns mit einer Handbewegung hinaus. Meine Sicht nimmt immer weiter ab. Schützend legt Andy einen Arm um meine Hüfte und zieht mich eng an sich.
„Wir bringen dich ins Krankenhaus, da können sie dich besser untersuchen.“
Geschockt reiße ich meine Augen auf, bereue es aber sofort, weil ein stechender Schmerz bis in meinen Hinterkopf zieht: „Muss das sein? Das Krankenhaus hier ist zum kotzen.“
„Ja das muss sein, willst du etwa blind werden?“ Tadelnd schaut er zu mir herab. Genervt schüttle ich den Kopf.

Unruhig knabbere ich an meine Fingernägel. Ich will hier weg. Ich will hier weg.
„Hör auf an deinen Nägeln zu knabbern“, mahnt Nicole mich, doch ich mache einfach weiter. Meine Nervosität ist viel zu groß.
„Hallo, ich bin Doktor Schamschijew, kommen Sie.“ Viel zu schnell redet diese schwarzhaarige Frau mit starkem Akzent und verschwindet in den Raum hinter uns. Verwirrt sehe ich nach Nicole und greife instinktiv nach ihrer Hand.
„Sie können nichts sehen?“ fragt sie schließlich, obwohl sie es eher aus den Unterlagen abliest. Da brauch sie nicht fragen. Vorsichtig nicke ich und drücke Nicoles Hand fester. Beruhigend streicht sie mit ihrem Daumen über meinen Handrücken.
„Folgen Sie dem Stift mit Augen.“ Ich muss mich zusammenreißen nicht einen deutschen Arzt zu verlangen. Ich habe nichts gegen unsere ausländischen Mitbürger, aber ich hasse es, wenn sie unverständliches Deutsch reden und dazu auch noch in einer Klinik. Die Ärztin drückt noch etwas an meinem Kopf herum, was mich schmerzerfüllt aufstöhnen lässt. Durch ihren festen Griff an meiner Schläfe breitet sich von dort ein unangenehmer Schmerz aus.
„Müssen Sie bleiben hier, für weitere Tests.“ Sie schreibt irgendwas in den Unterlagen führt uns aus dem Behandlungszimmer und übergibt uns an einen Pfleger weiter.

„Das wird dann wohl erst mal dein Zimmer sein“, seufzt Nicole und lässt sich neben mir auf das Bett nieder.
„Sieht ganz so aus. Kannst du mir ein paar Sachen vorbeibringen und eventuell morgen was zu essen? Den Fraß hier kann man doch nicht essen nennen.“ Lachend haut sie mir auf den Oberschenkel.
„Du bist keine drei Stunden hier und denkst schon ans Essen? Eindeutig bist du meine kleine Schwester.“
„Sagt die Bohnenstange“, lache ich leise und schaue mich in dem Raum um. Hier ist Platz für vier Personen, aber nur ein einziger Fernseher. Noch bin ich alleine hier, aber da ich dieses Krankenhaus kenne, wird es nicht lang dauern und das Zimmer ist voll.
„Ich werde dann mal wieder gehen, Michelle wartet bestimmt schon. Sei lieb und mach hier keinen Ärger.“ Fürsorglich wie eine Mutter küsst Nicole meine Stirn und streicht über meine Wange, „Es ist bestimmt nichts schlimmes.“ Damit will sie sich nur selber beruhigen, wir wissen beide das es was ernstes sein kann.
„Denk dran mir wenigstens Klamotten zu bringen, so will ich nicht die ganzen Tage rumlaufen.“ Grinsend deute ich auf meine dreckige Hose und den Straßenschuhen.
„Ja, ja. Ich komm später noch mal.“ Fast schon fluchtartig verlässt sie den Raum und ich bleibe alleine auf dem harten Bett zurück. Gelangweilt schaukle ich meine Beine hin und her und schaue mich nach der Fernbedienung vom Fernseher um. Da ich keine finde, nehme ich meine Handtasche und fische mir die Schachtel Zigaretten heraus. Wird ja nicht so schlimm sein, wenn ich den Flur runter zum Balkon gehe. Wie ein Spion schleiche ich mich an der Wand entlang zur Tür und öffne sie vorsichtig. Langsam gehe ich hinaus und greife haltsuchend nach dem Holzgeländer neben mir. Ohne mich weiter umzusehen laufe ich direkt auf den Balkon zu und bin mehr als froh, dass hier das Rauchen noch nicht verboten wurde.

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now