Kapitel 8

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‚24.12.2011
Hey TJ,
Hab dir schon lange nichts mehr erzählt. Tut mir leid. Irgendwie bin ich im Moment so beschäftigt, dass ich einfach nicht dazu komme hier zu schreiben. Auf jeden Fall ich war heute bei meiner Oma, ist ja Weihnachten. Es war ganz schön. Opa hat wieder seinen Kartoffelsalat gemacht und ich könnt mich da rein legen. Er schmeckt so unfassbar lecker. Der Rest des Abends verlief aber wie immer, ich saß teilnahmslos am Tisch und alle anderen haben sich fröhlich unterhalten. Ich fühl mich immer so fehl am Platz. Ich weiß auch gar nicht was ich mit den anderen reden soll. Vielleicht schaffe ich es jetzt ja wieder öfter zu schreiben. Ich versuch dann mal zu schlafen.‘

Ich lege TJ wieder unter mein Bett und kuschle mich in meine Decke ein. Mein Bettbezug sollte ich morgen definitiv wechseln, es riecht wirklich nicht mehr angenehm. Mein Vater ist mal wieder nicht zu Hause, er ist bei Monika. Alleine der Gedanke an diese komische Frau lässt mich würgen. Sie ist so ein falscher Mensch, das sagt mir mein Bauch. Ich wälze mich hin und her, aber keine Position ist bequem. Seufzend stehe ich auf und suche in meinem Schrank nach frischer Bettwäsche. In den untiefen werde ich endlich fündig. Nach gefühlten Stunden habe ich es endlich geschafft dieses dämliche Laken auf meine Matratze zu stülpen. Ich schnappe mir mein Handy und mache mir die Badewanne fertig, hoffentlich hilft es mir gleich einzuschlafen.
Desinteressiert scroll ich durch die verschiedensten Seiten und sehe eine Nachricht von Mirko. Verwundert öffne ich sie. ‚Mirko: Ich wollte dir nur frohe Weihnachten wünschen, hoffentlich hattest du einen besseren Tag als ich.‘ Kurz überlege ich, ob ich ihn fragen soll was los ist und frage dann einfach. ‚Mirko: Meine Eltern und ich sind wieder aneinander geraten, die haben doch tatsächlich unser Haus verkauft und wollen jetzt in eine Wohnung ziehen. Kannst du dir vorstellen was das heißt? All die Erinnerungen werden einfach verkauft. Wie Benedikt und ich hier aufgewachsen sind. Unseren ersten gemeinsamen Fotos. Wie Jess und ich immer aus dem Fenster geklettert sind und der Typ mit dem Transporter extra unter meinem Fenster geparkt hatte. Das ganze wird es nicht mehr geben. Ich hasse sie so sehr!‘ Nachdenklich lese ich die Nachricht wieder und wieder. In seinem Zimmer haben wir uns das erste Mal geküsst. Das Foto was Mille, eigentlich heißt sie Melanie, in dem Moment gemacht hat, taucht vor meinem geistigen Auge auf. Lächelnd durchsuche ich meine Galerie und schicke ihm das Bild. Wir sehen so glücklich aus. Mirko lächelt breit und auch ich habe ein Lächeln auf den Lippen, wie meine Hand an seine Wange liegt. Ich weiß noch ganz genau wie sanft ich mit meinem Daumen über seinen Kiefer gestrichen habe. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Er ist immer für mich da, selbst als ich ihn verlassen habe und ich bin so scheiße zu ihn. Das hat er nicht verdient. Wieder ploppt eine Nachricht auf. ‚Mirko: Ja, daran kann ich mich gut erinnern. Das Hemd hattest du doch von deinem Papa genommen und dir einen Knoten unten rein gemacht ^^‘ Grinsend antwortete ich ihm ‚Anna: Oder als ich auf Klo wollte, aber deine Eltern die ganze Zeit im Flur standen und ich einfach nicht konnte xD‘

Wir schrieben noch stundenlang, während ich immer mehr aussah wie eine schrumpelige Rosine. Mit meinen nassen, in einem Handtuch gewickelten, Haaren tapse ich in mein Zimmer und schiebe meine Jacke neben mein Bett. Ich hätte vielleicht aufräumen sollen, anstatt die ganze Zeit zu schreiben, doch es war viel zu schön, als das ich es hätte unterbrechen wollen. Schnell ziehe ich mir frische Unterwäsche und ein T-Shirt an und schlüpfe unter die Bettdecke. Leicht lächele ich vor mich hin und sinke langsam in meinen wohlverdienten Schlaf.

Lautes gerumpel lässt mich aufschrecken. Mein Vater steht neben meinem Bett. Fragend schaue ich hoch, doch er beachtet mich gar nicht. Wankend hält er sich an der Wand vom Bett fest und Geplätscher ist zu hören. Panisch setze ich mich auf. Nein das kann nicht wahr sein!
„PAPA!“, schreie ich ihn an und sehe wie eine riesige Pfütze seines Urin, sich auf meiner Jacke und der darunter liegenden Wäsche ausbreitet, „Hör auf!“ Tränen sammeln sich in meinen Augen. Völlig aufgelöst halte ich meine Hände vor den Kopf. Immer wieder schüttle ich mich.
„Ist doch nichts“, lallt er und geht. Frustriert schreie ich auf. Das kann er doch nicht ernst meinen. Komplett überfordert nehme ich mein Handy und rufe Nicole an, doch sie geht nicht ran. Es ist auch erst vier Uhr. Angewidert nehme ich meine Sachen bringe die tropfenden Klamotten ins Badezimmer und werfe sie in die Wanne, wo ich sofort Wasser rein laufen lasse. Alles stinkt und ich fühle mich noch dreckiger als vor dem Baden. Warum hat er das gemacht? Die Toilette ist doch direkt neben der Wohnungstür. Energisch wasche ich meine Hände, immer und immer wieder schrubbe ich mit der Bürste über meine Haut. Bis sie so sehr brannten und rot wurden, dass mir die Tränen über die Wange, vor Schmerz, liefen. Verzweifelt schaue ich aus dem Fenster in den dunklen Nachthimmel. Was habe ich getan, dass ich so leiden muss? Was denkst du dir eigentlich dabei. So eine scheiße! Unaufhörlich laufen mir die salzigen Tränen hinab, ein paar verirren sich an meinen Lippen und ich lecke sie schnell weg. Mit einem Putzeimer und Lappen bewaffnet gehe ich wieder in mein Zimmer. Jetzt Räume ich ja doch auf. Genervt werfe ich alles auf meinen Schreibtisch, was nicht vom Urin getränkt wurde und schmeiße den Rest in einen schwarzen Sack. Eifrig schrubbe ich den gesamten Boden auf knien, selbst unter meinem Bett putze ich alles. Schnaufend werfe ich den Lappen in den Eimer, drücke das Dachfenster hoch und lasse die eisige Kälte in mein Zimmer strömen. Die Henrichshütte ist wunderschön beleuchtet und ich habe von hier aus den perfekten Blick darauf. Es hatte doch seine Vorteile unter dem Dach zu leben. Ich greife nach meinem Handy und mache ein paar Fotos. Zumindest das kann mir keiner nehmen, diese Ruhe die ich beim Fotografieren empfinde. Es hat etwas entspannendes. Tief atme ich durch und spüre wie meine Lunge sich mit der kalten Luft füllt. Eine Gänsehaut breitet sich über meinen gesamten Körper aus und erst jetzt bemerke ich das ich nur im T-Shirt und Slip hier stehe. Schnell ziehe ich mir eine Jogginghose an und trete mit voller Wucht vor den Putzeimer. Leise fluchend halte ich meinen Fuß. Als würde der danach schreien irgendwo vorzutreten. Tolles Weihnachten.

Gedankenverloren sitze ich auf meinem Bett. Alles in mir schreit nach dem Messer. Unkontrolliert fange ich an über meine Arme zu kratzen, doch dieses Gefühl gibt mir keine Erleichterung. Ich beuge ich mich vor und ziehe meinen Tisch heran, um besser an das Messer zu kommen. Langsam Krempel ich meine Hose hoch und schaue auf meine Waden. Die Messerspitze streicht sanft über meine Haut und zieht rote Striemen. Mein Herz klopft wild gegen meine Brust und meine Hände fangen an zu zittern. Mit einem mal rutscht mir das Messer aus der Hand und schneidet tief in meine Haut. Erschrocken weiten sich meine Augen, unfähig etwas zu tun sehe ich zu wie das Blut immer mehr hervor quillt. Nein das wollte ich nicht! Voller Panik Presse ich meine Hand auf die viel zu große Schnittwunde. Das brennt! Ich greife nach dem Handtuch, welches ich vergessen hatte wegzubringen und drücke es auch auf die Wunde. Unruhig Schaukel ich mich hin und her. Ganz langsam beruhige ich mich und höre auf das Tuch gegen mein Bein zu pressen. Das pochen an der Wunde wird immer stärker, aber die Blutung hat aufgehört. Fasziniert schaue ich mir diesen Schnitt an, weiße kleine Punkte sieht man durch das rosarote Fleisch. Ob das meine Muskeln sind? Vorsichtig drücke ich die Stelle zusammen und muss mir ein Lachen unterdrücken, weil es kitzelt wenn es sich wieder voneinander löst. Warum bin ich so kaputt? Auf meinem Tisch suche ich nach einem kleinen Kulturbeutel. Langsam ziehe ich einen Verband hervor, welche ich erst letzte Woche von meinem Hausarzt mitbekommen habe. Er verurteilt mich wenigstens nicht. Mit etwas Alkohol reinige ich die Wunde, das brennen ist der angenehmste Teil, und wickle mir den Verband drum. Vielleicht sollte sich das doch ein Arzt ansehen. Nachdenklich befestige ich das Ende und beiße mir auf die Lippe. Chris wird mir so die Ohren lang ziehen. Seufzend lehne ich mich wieder zurück, etwas zu schnell, denn ich haue mit meinem Hinterkopf gegen die Wand. Das gibt eine Beule.

Lautes schnarchen dringt aus dem Wohnzimmer in meines. Wer so betrunken ist bekommt bestimmt nicht mit, wenn ich mir mein Taschengeld selber nehme. Leise tapse ich in das Wohnzimmer. Der Fernseher schreit mich regelrecht an und ich ziehe ganz vorsichtig das Portemonnaie, meines Vaters, aus der Hose. Das geklimper seine Kette lässt mich innehalten. Schnell öffne ich das Portemonnaie und sehe weit aus mehr als 200 Euro, erstaunt streiche ich über die Scheine und ziehe zwei hervor. 70 Euro sollten ja wohl nur gerecht sein. Leise lege ich den Geldbeutel zurück und schleiche wieder in mein Zimmer. Sofort verstecke ich das Geld in mein Kopfkissen. Woher hat er so viel Geld? Es ist Ende des Monats und Hartz lV ist nicht so viel. Fragen über Fragen häufen sich in meinem Kopf, aber antworten bekomme ich keine. Völlig übermüdet schalte ich mich durch das Morgen Programm im Fernsehen. Nichts gescheites läuft. Genervt lasse ich einfach irgendeinen Sender an und schreibe meiner Schwester eine Nachricht, dass sie mich so schnell wie möglich anrufen soll.

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now