Kapitel 38

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Annas Sicht

Leise dringt die erste Strophe in mein Ohr ‚Alles leuchtet, dieser Tag, zeigt sich heiter. Er umarmt mich, lacht mich an, es geht weiter. Alle sagen hab Geduld, deine Schmerzen werden gehen. Doch so weit ich blicken kann, ist kein Trost für mich zu sehn‘. Ohne das ich es will rollen mir Tränen über die Wange. Warum hört es nicht auf weh zu tun? Schnell wische ich durch mein Gesicht, diese Blöße im Zug will ich mir nicht geben. Chris fehlt mir so unfassbar. Nein, ich habe mich dazu entschlossen ihn nicht in mein Leben zu lassen. Ich kann nicht mehr zurück. So sehr es schmerzt, ich will ihn einfach nicht in meinen Sumpf von Selbstzerstörung und Manipulation ziehen. Ohne weiter nachzudenken, drücke ich auf das nächste Lied, doch auch dieses Lied ist nicht viel besser. Seufzend höre ich der Stimme von Til zu. ‚Ich weine leise in die Zeit. Ich weiß nicht wie du heißt, doch ich weiß, dass es dich gibt. Ich weiß, dass irgendwann, irgendwer mich liebt‘. Genervt lasse ich meinen Kopf gegen die Scheibe fallen. Kann ich nicht bessere Lieder auf meinem Handy haben, irgendwas was aufbaut? Wieder scrolle ich durch meine Playlist, aber nichts ist auch nur annähernd fröhlich. Bis mir ein Lied auffällt. Nachdenklich halte ich meinen Daumen darüber. Ja ich bin anders. Sofort drücke ich auf Play, die ersten Wörter lassen mich ruhiger werden und auch meine Atmung beruhigt sich wieder. ‚Ich bin anders, ganz einfach anders‘. Ein kleines Lächeln umspielt meine Lippen und endlich kann ich mich auf Mirko freuen. Erstaunt stelle ich fest, dass ich nur noch einen Bahnhof von ihm entfernt bin. Grinsend schreibe ich ihm ‚Anna: Kommst du zum Bahnhof? Bin gleich da. Ich liebe dich‘.

„Mach die Augen zu Schatz.“ Aufgeregt läuft Mirko vor der Haustür auf und ab und klimpert mit dem Schlüssel. Was auch immer das jetzt wieder soll. Mit einer Grimasse kneife ich die Augen zusammen und lasse mich von ihm in die Wohnung führen. Nichts ist zu hören, nur das monotone summen des Computers.
„Und jetzt?“, frage ich und knete meine Finger.
„Warte … Warte …“ Eine Tür wird geöffnet und da es hier nur noch eine weitere gibt, tippe ich auf die Schlafzimmertür, „Mach deine Augen auf.“ Ohne zu zögern, reiße ich sie wieder auf und werde von dem hellen Licht geblendet. War wohl nicht so schlau. Kurz reibe ich über meine Lider und sehe mich um. Eine schwarzweiße Katze kommt aus dem Schlafzimmer getapst. Ihr Schwanz fehlt, aber das macht sie nur noch Süßer. Sofort hocke ich mich hin und Strecke ihr meine Hand entgegen.
„Na komm mal her du kleines süßes Ding“, sage ich mit einer piepsigen Stimme und schnipse mit den Fingern. Sie lässt nicht lange auf sich warten und schmiegt sich an meine Hand.
„Das ist Susi. Die Leute wollten sie nicht mehr und ich dachte mir, damit wir hier nicht so alleine sind, haben wir jetzt eine Katze. Und du wolltest doch immer eine haben.“ Grinsend hockt er sich neben mich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Lächelnd schaue ich ihn an und streichle Susi weiter. So eine süße Katze. Sie presst sich an meine Knie und versucht auf meine Beine zu kommen.
„Warte, ich setz mich ja schon.“ Kaum berührt mein Hintern die kalten Fliesen legt Susi sich auf meine Oberschenkel.
„Das ist nicht fair. Ich hab sie geholt und mit mir hat sie noch nicht gekuschelt“, beschwert Mirko sich und versucht Susi die Hand hinzuhalten, doch wird er lautstark von ihr angefaucht. Grinsend ziehe ich eine Augenbraue hoch: „Tja, ich würde mal ganz stark behaupten, sie mag mich jetzt schon mehr, als dich.“ Schulterzuckend betrachte die weiße Pfote von Susi. Was ein doofer Name. Sacht stupse ich ihr auf die Nase. Egal wie sie heißt, sie gehört jetzt mir.
„Warum hat sie keinen Schwanz mehr?“, frage ich schließlich und schaue auf den kleinen Stummel.
„Ist wohl schon zwei Mal von einem Auto erwischt worden und beim letzten Mal musste der amputiert werden. Hab den Ordner mit den Rechnungen im Schrank.“ Kurz nicke ich und widme meine Aufmerksamkeit wieder der Katze. Ich sitze schon Stunden mit Susi auf dem Boden, während Mirko nach ein paar Minuten beleidigt weggegangen ist und sich am Computer gesetzt hat. Selber schuld, er mag keine Katzen und das spürt sie nun mal. Leise schnurrt sie immer wieder. Vorsichtig greife ich in meine Jackentasche, ich kam noch nicht dazu sie auszuziehen, und ziehe mein Handy hervor, um ein Foto von ihr zu machen. Kurzerhand leite ich das Bild an Pia weiter mit dem Kommentar, dass ich nie wieder ins BZH kommen kann. ‚Pia: Na toll und mit wem soll ich dann Papierschnipselmonster bauen?‘ Leise lache ich auf, als ich das Bild von unserem Kunstwerk sehe, welches sie mir geschickt hat. Ja, wirklich viel lernen tun wir da nicht, aber ohne diese Maßnahme hätte ich Pia niemals kennengelernt.
„Was lachst du?“
„Pia hat mir unser Papierschnipselmonster geschickt.“ Grinsend halte ich mein Handy in seine Richtung, wo das Bild noch immer groß zu erkennen ist.
„Und das macht ihr da den ganzen Tag?“ Amüsiert lächelt Mirko und schüttelt den Kopf.
„Nicht nur, dafür hat Herr Schulz uns auch ziemlich zur Sau gemacht, ist ja wertvolle Materialverschwendung. Aber Maik hat Ron gestern einen Ordner vor dem Kopf geworfen und meinte nur lautstark Facebook zu rufen. Nett ist was anderes.“ Mirko bricht in schallendes Gelächter aus, während ich ihn nur entsetzt ansehe. Ich weiß wie weh Ron das tat und kann darüber überhaupt nicht lachen. Er wendet sich wieder von mir ab und spielt sein Spiel auf dem Computer weiter. Was ein produktiver Tag heute. Nachdenklich durchforste ich Facebook nach Neuigkeiten und sehe ein Bild von Silvia. Seit ihrem letzten Besuch sind schon so viele Monate vergangen und nicht ein mal hat sie auf meine Nachrichten reagiert. So viel zum Thema Schwestern für immer und best friends. Sie sieht fertig auf dem Bild aus, ihre Augenringe kann sie auch mit der Tonne Make-up nicht kaschieren. So wollte sie niemals aussehen, wie eine Nutte, doch genau das tut sie. Ich kann sie nicht verstehen und werde es bestimmt auch nicht mehr. Seufzend drücke ich auf dem Homebutton und sperre den Bildschirm. Zaghaft wird an meinem Oberschenkel geknetet und ich schaue Susi wieder an. Sofort zaubert sie mir ein Lächeln ins Gesicht und ich tätschle ihren kleinen Kopf. Ich könnte die ganze Nacht hier mit ihr sitzen, doch so langsam meldet sich meine Blase. Sanft schiebe ich sie von mir herunter und ernte dafür einen bösen Blick.
„Sorry, muss auf Klo.“ Entschuldigend streichle ich noch ein mal über ihren Rücken und stehe auf.

Mirko schnarcht seelenruhig vor sich hin und ich kann einfach nicht einschlafen. Ich wälze mich von links nach rechts und wieder zurück, auch Susi hat schon keine Lust mehr auf meine Positionswechsel und ist aus dem Bett geflüchtet. Mirko wollte eigentlich nicht, dass sie ins Schlafzimmer kommt, wenn wir schlafen, aber sie hat so herzzerreißend vor der Tür miaut, da konnte ich doch nicht nein sagen. Müde greife ich nach meinem Handy unter dem Kopfkissen und schreibe Pia. ‚Anna: Bist du wach? Ich kann nicht schlafen …‘ Es dauert keine Minute, da blinkt mein Handy schon. Erleichtert das die wach ist schreiben wir die ganze Nacht, bis die Sonne den Himmel Orange färbt. Es ist schön in ihr eine so tolle Freundin gefunden zu haben. Sie ist ein Engel auf Erden oder wie sie es sagt ein Relaxo, weil sie ein so großes Herz hat, was viel Platz braucht. Grinsend schreibe ich ihr. ‚Anna: Danke, dass du da bist. Ich mach dann mal die Augen zu. Bis später :*‘

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now