Kapitel 19

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Schnell schreibe ich Nicole, dass ich heute Nacht zu Hause schlafen werde. Zu Hause. Nach wie vor empfinde ich diese Wohnung nicht als mein Heim. Erleichtert das Mirko erst auf Toilette geht, eile ich in mein Zimmer und verstecke das Messer, welches noch immer auf meinem Kissen liegt, unter dem Bett. Ich schmeiße noch die blutigen Papiertücher in den Müll und atme schnaufend aus. Nachdenklich durchsuche ich meinen Kleiderschrank und ziehe einen Pyjama Pullover hervor. Damit Mirko meinen Arm nicht sieht ziehe ich ihn sofort an. Ewig hatte ich schon keinen Pyjama mehr an. Leise höre ich die Spülung der Toilette rauschen und setze mich auf mein Bett. Unruhig knete ich meine Hände.
„Schatz, sollen wir was bestellen? Ich habe Hunger.“ Mirko tippt auf seinem Handy herum und schaut abwartend zu mir herunter.
„Isch kann nisch“, nuschle ich und deute auf das Zungenpiercing. Meine Zunge ist in den letzten zwei Stunden stark angeschwollen. Es fühlt sich so an, als wäre meine Zunge drei mal so dick wie vorher.
„Soll ich Babybrei holen, damit du auch was essen kannst und ich hol mir ne Pizza?“ Grinsend setzt er sich zu mir und nimmt meine Hand in seine.
„Spaghetti, bitte“, nuschle ich wieder und Mirko bricht in schallendes Gelächter aus, „Lasch dasch.“ Ich kann ein leises lachen nicht unterdrücken. Hoffentlich hört das nuscheln bald auf, sonst zieht mein Vater mir das Piercing noch eigenhändig aus dem Mund.
„Also, Spaghetti Babybrei für dich und ich hol mir Pizza“, verkündet Mirko noch immer Lachend, drückt mir  schnell einen Kuss auf meine Lippen und verlässt mit großen Schritten mein Zimmer. Als dir Tür endlich ins Schloss fällt ziehe ich TJ hervor und Blättere auf die nächste freie Seite.

'17.03.2012
Hey TJ,
Manchmal frage ich mich wirklich warum ich hier bin. Stellt man mich auf die Probe, um zu schauen wie viel ich aushalte, bevor ich einknicke? Warum interessiert es kaum jemanden wie es mir wirklich geht? Wenn man ehrlich ist, ist die Frage wie es einem geht doch nur eine leere Floskel, weil es im Grunde genommen egal ist. Mirko hat mich noch nie gefragt warum ich mich selbst verletze. Interessiert es ihn überhaupt? Er weiß was er mir angetan hat und trotzdem tut er nichts gegen mein Verhalten.
Chris war der einzige, der mich davon abhalten wollte und doch hat er es nicht geschafft, weil er mich im Stich gelassen hat. Was wäre passiert, wenn er mich nicht alleine gelassen hätte? Würde ich mit ihm zusammen sein? Wären Mirko und ich uns wieder näher gekommen? Ich habe nicht das Gefühl ihn zu lieben, aber es vereinfacht viele Dinge, ihn bei mir zu haben. Eigentlich ist es falsch nur mit ihm zusammen zu sein um nicht alleine da zu stehen. Und dennoch bin ich mit ihm zusammen und sage ihn das ich ihn liebe… Jeden Tag belüge ich ihn und mich. Aber irgendwas ist da zwischen uns.
Ich will nicht so alleine sein. Ich habe Angst davor.‘

Tränen Bahnen sich, wie so oft, ihren Weg über mein Gesicht und Tropfen melodisch auf das Tagebuch. Seufzend wische ich sie weg und ziehe den linken Ärmel hoch, um meine Wunden zu begutachten. Langsam, fast schon ehrfürchtig, streiche ich über die mittlerweile verkrusteten Schnitte und zupfe ein paar Fussel, vom Pullover, heraus. Irgendwann werde ich damit aufhören, ganz bestimmt.

Während Mirko noch einkaufen ist vertreibe ich mir die Zeit im großen weitem Internet und bin dort auch nicht lang alleine. Die ganze Zeit schreibe ich mit einem Tom, er ist ein ganz netter und antwortet sogar ausführlich auf mein Gejammer über mein Leben. Wie leicht es doch war mit fremden Menschen über sich zu reden und einen anderen Blickwinkel zu bekommen. Dieser Tom wohnt nicht mal weit von mir entfernt. Laut Google nur eine halbe Stunde mit dem Bus. Die Klingel reißt mich aus dem spannenden Chat und ich fahre erschrocken zusammen. Schnell eile ich zur Tür bestätige den Summer und renne in die Küche, um den Ofen anzuschmeißen.
„Apokalypse!“, ruft Mirko genervt und schiebt sich an mir vorbei, „Immer noch am nuscheln?“ Fragend hebt er eine Augenbraue hoch, was mich nur die Augen verdrehen lässt.
„Alsch ob dasch aufhört“, nuschle ich grinsend.

Müde kuschle ich mich an Mirko heran und genieße seinen warmen Körper. Sein Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig und lässt mich wohlig seufzen. Es ist alles so vertraut. Mein Körper wird mit jedem Atemzug schwerer, doch bevor ich endgültig einschlafe fühlt es sich so an, als würde ich von einer Klippe fallen und fahre erschrocken zusammen. Mein Herz rast. Meine Muskeln sind angespannt. Und mein Atem kommt stoß weiße hervor. Ich weiß nicht wie lang ich noch wach im Bett lag, doch als ich meine Augen das nächste Mal öffne strahlt mich der blaue Himmel an. Vorsichtig klettere ich über Mirko und schleiche aus meinen Zimmer. Aus dem Wohnzimmer dringt Lautes geschnarche von meinem Vater, was mich schmunzeln lässt. Es hat mir schon irgendwie gefehlt. Auf Zehenspitzen tapse ich ins Badezimmer und spüle meinen Mund mit der Mundspülung aus. Langsam strecke ich meine Zunge heraus und betrachte das Piercing. Meine Zunge wirkt riesig in meinem kleinen Mund und die Kugeln drücken sich leicht in den Muskel hinein, als hätten sie kein Platz. Grinsend tapse ich wieder in mein Zimmer und nehme mir eine Zigarette von Mirko. So leise wie es mir möglich ist öffne ich das Dachfenster und atme die kühle frische Luft ein. Hat es doch was beruhigendes, wenn die Motorgeräusche von den vorbeifahrenden Autos auf der Hauptstraße leise und stetig brummen und der alltägliche Wahnsinn seinen Lauf nimmt. Gedankenverloren schaue ich auf die Henrichshütte und muss unweigerlich an meinen Opa denken, welcher dort Jahrelang den Stahl bearbeitet hatte. Ich sollte ihn mal wieder besuchen. Nachdenklich kräusel ich meine Stirn und ziehe an der Zigarette. Langsam füllen sich meine Lungenflügel mit dem Rauch und lassen keinerlei Luft mehr hinein.

Mirko reißt mich aus meinen Gedanken und brummt leise: „Morgen.“ Grinsend schnipse ich die Zigarette raus und drehe mich zu ihm. Verschlafen sieht er immer aus wie ein geknautschtes Kissen, überall Abdrücke und Furchen, wie Falten. Ich versuche erst gar nicht etwas zu sagen und schreibe ihm auf einen Zettel, dass er meinem Vater sagen soll, ich hätte Halsschmerzen, damit ich nicht mit ihm reden muss. Augenverdrehend geht er aus meinem Zimmer und ich nutze die kurze Gelegenheit, um nach neuen Nachrichten auf meinem Handy zu schauen. Zu meiner Überraschung habe ich tatsächlich ein paar Nachrichten. ‚Silvia: Zeig dein Piercing ;)‘ Schnell mache ich ein Foto meiner Zunge und schicke es ihr. ‚Tom: Guten Morgen my lady, ich hoffe deine Zunge tut nicht mehr so weh und du kannst dein neues Schmuckstück bald austesten‘ ich wusste genau worauf er anspielte. ‚Anna: Guten Morgen, leider muss ich dich enttäuschen. Es tut immer noch weh und meine Zunge sieht aus als hätte mich ne Wespe gestochen‘ Eilig schließe ich den Chat, da Mirko sich mit großen Schritten nähert.
„Wir könnten ja …“ Sofort hebe ich meine Hand und drücke seine Hände von mir, welche er auf meinen Brüste gelegt hat. Ich greife nach dem Block und den Stift und schreibe ihm, dass ich absolut nicht in der Stimmung für Sex bin.
„Du bist in letzter Zeit nie in Stimmung.“ Laut stöhnend lässt er sich auf das Bett fallen und schaut mich abwartend an. ‚Ich habe die letzten Wochen bei meiner Schwester gelebt, sollten wir da Sex haben, neben Michelle? Hol dir doch ein runter!‘ genervt schmeiße ich ihm den Block zu und zünde mir die nächste Zigarette an. Angespannt liest er meine Nachricht und presst seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.
„Nicht dein ernst“, seine Stimme verdunkelt sich. Seine Körperhaltung ist angespannt. Diese Reaktion bin ich gewohnt. Unbeeindruckt schaue ich ihn stur in seine blauen Augen. Wir streiten uns so oft, dass es langweilig wäre, wenn wir es mal nicht täten. Mit zwei großen Schritten, steht er wieder bei mir und packt grob nach meinem Handgelenk. Nach wie vor beeindruckt mich das ganze nicht. Ich reiße meine Hand aus seiner und deute mit dem Finger auf die Tür.
„OH nein ich gehe nicht!“ Wütend starrt er auf mich hinab und knirscht leise mit den Zähnen. Er weiß genau wie aggressiv mich dieses Geräusch macht. Meine Augen verengen sich und in mir zieht sich alles zusammen. Fest schlage ich vor seine Brust, sodass er nach hinten taumelt. Wieder packt er meine Handgelenke und drückt fester zu. Augenverdrehend warte ich auf eine weitere Reaktion, doch es passiert nichts. Wir stehen uns gegenüber. Die Zigarette qualmt unaufhörlich Richtung Filter, im Aschenbecher, und wir liefern uns ein böse Blicke Duell. Seine Atmung wird immer unruhiger, gleich knickt er ein und er lässt mich los. Immer noch wütend sehe ich ihn an. Doch weiß ich, dass ich unsere kleine Auseinandersetzung gewonnen habe. In dem Moment schließt er seine Arme um mich und seufzt laut. Grinsend ziehe ich eine Augenbraue hoch und klopfe mir innerlich auf die Schulter.
„Ich hab dir gestern die Schokolade gar nicht gegeben“, sagt er leise und versöhnlich. Ungeduldig schiebe ich ihn von mir weg und suche nach der Einkaufstasche, „Du hast aber auch gar keine Geduld“, seufzt er und geht zum Fernseher.
„Aber du Liiiiieeeebscht misch.“ Lächelnd drücke ich ihm ein Kuss auf die Wange und nehme ihm die Schokolade aus der Hand. Tolles Frühstück. In wenigen Minuten verschwindet die Tafel in meinem Mund. Sofort überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Immer jammere ich, dass ich zu dick bin und dann mache ich sowas.

Wann hört es auf? Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon