Kapitel 30

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Schnell packe ich meine Tasche, um weg zu sein bevor mein Vater nach Hause kommt, sonst verdonnert er mich wieder zum aufräumen. Noch ein prüfender Blick auf die Uhr. Eine halbe Stunde, dann fährt mein Bus. Ich sehne die Wochenenden immer herbei, weil ich dann nach Mirko fahren kann und meine Ruhe habe. Nur noch die Fenster schließen und ich kann gehen. Da höre ich wie die Tür ins Schloss fällt. Frustriert werfe ich meinen Kopf nach hinten, schultere meine Tasche und gehe aus meinem Zimmer.
„Wo willst du denn hin?“, fragt mein Vater vorwurfsvoll.
„Zu Mirko, wie jedes Wochenende.“ Verständnislos schaue ich ihn an und schüttle den Kopf.
„Du hast nicht aufgeräumt“, bemerkt er deutet auf die Küche und das Wohnzimmer.
„Mach ich Sonntag, mein Bus kommt gleich.“
„Und Sonntag kommst du wieder so spät, dass du es mal wieder nicht machst. So nicht Fräulein. Du räumst jetzt auf!“, wütend starre ich meinen Vater an und stampfe, wie ein kleines Kind auf den Boden, „Komm mir nicht so. Fang an!“ spuckt er mir entgegen und schiebt mich zur Küche.
„Du kannst deinen Arsch auch mal bewegen!“, kontere ich und bleibe stur stehen.
„So redest du nicht mit mir! Noch ein Wort und du bleibst das ganze Wochenende hier!“
„Man Papa“, stöhne ich, schmeiße meine Tasche in die Ecke und knalle die Küchentür zu, so dass das Glas leise klirrt. Sofort wird die Tür wieder aufgerissen.
„Der einzige der die Türen knallt bin ich!“ Und schon fliegt die Tür wieder zu.
„Naah“, stöhne ich laut auf und reiße eine Schublade auf, wo sich die Mülltüten befinden. Genervt schmeiße ich alles, was ich finden kann in den Müll. Nichts von dem was hier liegt, ist essbar oder noch brauchbar. Ich hasse es hier zu sein.

Über zwei Stunden habe ich für die gesamte Küche gebraucht. Sichtlich zufrieden ziehe ich die Tür auf und höre meinen Vater im Wohnzimmer schnarchen. War ja klar. Mit den Mülltüten in der Hand und meiner Tasche auf der Schulter, gehe ich raus. Immer wenn ich aufräume sieht es so aus als hätte ich fünf Wohnungen leer gemacht. Seufzend ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und sage Mirko bescheid, dass ich den Bus gleich nehme. Ich hätte jetzt bei ihm ankommen können. Gemütlich laufe ich zur Bushaltestelle und hole meine Zigaretten aus der Tasche.
„Anna?“ Höre ich jemanden meinen Namen sagen und ziehe einen Kopfhörer aus dem Ohr. Ein Mädchen, mit unfassbar vielen locken steht neben mir und schaut mich Fragend an.
„Janine?“ Genauso verwirrt sehe ich sie an. Sie war in meiner Klasse und mit einem Schlag fühle ich mich unfassbar unwohl. Die ganzen Bilder, wie mich alle ausgegrenzt, beleidigt und ausgelacht haben blitzen vor meinem inneren Auge auf. Es fühlt sich an, als würde man mir den Stein, der von meinen Schultern gefallen ist, in doppelter Größe wieder auf legen. Mein Herz schlägt immer schneller und schmerzt. Janine hat zwar nie was gemacht, aber dagegen unternommen hat sie auch nicht.
„Wie geht’s dir?“, fragt Janine und greift nach der Hand eines Typen, neben sich. Erst jetzt fällt mir auf, das sie nicht alleine ist. Unruhig knete ich meine Hände und schließe kurz die Augen.
„Soweit ganz gut und dir? Wie läuft die Ausbildung?“ Meine Atmung wird immer schneller und ich habe das Gefühl gar keinen Sauerstoff in meine Lunge aufzunehmen. Ich kann mich noch gut an den ersten Tag auf dieser Schule erinnern, wie mich alle angestarrt und getuschelt haben. Nur weil ich erst in der siebten Klasse zu ihnen kam. Eine Woche später kam Anja neu in die Klasse, alle waren von ihr begeistert, weil sie große Titten hat und nicht aussah wie 14. Aber das sie eine Woche nach Schulbeginn kam interessierte niemanden. Ich war von Anfang an abgestempelt und ausgegrenzt. Janine erzählt die ganze Zeit wie viel Spaß ihr die Ausbildung als Bürokauffrau macht und ich kann immer wieder nur nicken und leise aha von mir geben. Es interessiert mich eigentlich überhaupt nicht was sie sagt, aber ich bin entweder zu nett und lasse sie reden oder einfach nur dumm, weil ich ihr nicht sage, dass sie endlich die Klappe halten soll. Immer wieder schaue ich an Janine vorbei, um zu sehen ob der Bus kommt und nach einer gefühlten Ewigkeit fährt er vor. Schnell springe ich auf, hole mein Ticket aus dem Portemonnaie und gehe nach ganz hinten. Wieder knabbere ich an meinen Fingernägeln, immer wenn ich nervös und unsicher bin mache ich es und kann damit nicht aufhören. Leise summt mein Handy und die Musik wird unterbrochen. Mirko.
„Hey, bist du schon im Bus?“, fragt er direkt und ohne Umschweife.
„Ja, gerade eingestiegen“, flüstere ich. Am liebsten will ich sofort auflegen. Janine wieder zu sehen hat mir einen Stich in mein kaputtes Herz versetzt und ich möchte mit niemanden mehr reden. Doch Mirko denkt nicht mal daran aufzulegen und quatscht munter vor sich hin. Seufzend lehne ich meinen Kopf an die Scheibe und beobachte wie die weißen Mittelstreifen vorbeiziehen. Wie gerne würde ich weit entfernt von all dem leben und nie wieder einen Fuß in diese beschissene Stadt setzen. Fest beiße ich auf meine Lippe und unterdrücke die aufkommenden Tränen. Je weiter sich die Stadt entfernt, um so ruhiger wird mein Herzschlag. Als würde alles schlechte sich nur dort aufhalten und auf mich lauern, bis ich wieder komme. Die Vorfreude auf Mirko stimmt mich endlich wieder glücklich und ich grinse wie verrückt vor mich hin. Eine Stunde muss ich noch mit Bus und Bahn fahren, dann bin ich endlich bei ihm und so wie er erzählt hat gehen wir heute mit seinem Bruder feiern.

Ungeduldig warte ich, dass sich die Zugtür öffnet und springe die Treppen hinunter. Mirko steht am anderen Ende vom Bahnhof und läuft mir mit einem breiten grinsen entgegen. Seine Hände sind hinter dem Rücken versteckt und sofort meldet sich meine Neugier.
„Was hast du da?“, frage ich direkt und laufe um ihn herum, aber er dreht sich mit und versperrt mir die Sicht auf seinen Rücken. Er beugt sich zu mir und drückt seine Lippen auf meine.
„Hey“, flüstert er und lächelt noch immer über das ganze Gesicht, langsam lässt er seine Arme nach vorne kommen und ein recht großer Karton kommt zum Vorschein. Schnell reiße ich es ihm aus der Hand, gehe zur Bank und öffne das Paket.
„Ein Tablet!“, rufe ich erfreut und meine Hände fangen an zu zittern. Grinsend schaue ich zu ihm hoch und wieder auf das Tablet.
„Du hast so oft gesagt wie gerne du eins möchtest und tada.“ Er hebt seine Hände und deutet auf den Karton.
„Du bist bescheuert, dass ist doch viel zu teuer“, Tadel ich ihn, aber kann meine Freude darüber nicht verbergen.
„Für dich ist mir nichts zu teuer“, Mirko hockt sich vor mich hin und legt seine Hände auf meine Knie, „außerdem ist das ein Vertrag, also kein großes Ding.“ Lächelnd streicht er mit dem Daumen über mein Bein. Ich weiß das er nicht viel Geld verdient, aber ihm scheint das ganze nicht viel auszumachen.
„Das hättest du nicht machen müssen“, seufze ich und lege meine Hand auf seine.
„Doch. Lass und zum Dönermann gehen.“ Mit einem Kopfnicken deutet er auf den Laden, neben dem Bahnhof. Wie jeden Freitag, wenn ich hier bin, essen wir dort. Der Betreiber weiß mittlerweile auch schon was wir möchten, weil es immer das gleiche ist. Mirko wirft etwas Kleingeld in den Spielautomat, direkt am Eingang und schafft es auf Anhieb 50 Euro aus dem Automaten zu holen.
„Essen ist somit bezahlt“, grinst er und lässt sich das Geld auszahlen. Klimpernd kommen die einzelnen Münzen heraus. Ich betrachte das Tablet auf dem Tisch und mich überkommt das schlechte Gewissen. Wie will er das denn jeden Monat bezahlen? Seufzend streiche ich über die Verpackung und knabbere an meiner Lippe.
„Was hat die Olle vom Bildungszentrum eigentlich gesagt? Du meintest nur du gehst in den Handel.“ Fragend legt Mirko den Kopf schief und leckt sich über die Lippe.
„Wir haben über die Situation zuhause gesprochen…“
„Du meinst das dein Vatter ein Wichser ist und du die Putze spielen musst, weshalb du heute zwei Stunden später kamst?“, unterbricht Mirko mich, weshalb ich ihn grimmig anschaue. Ich hasse es, wenn er mir so ins Wort fällt, auch wenn er recht hat.
„Lass mich doch erzählen, du hast gefragt“, brumme ich. Kurz warte ich, weil Demir, der Betreiber des Ladens, mit dem Essen auf uns zu kommt.
„Guten Appetit meine Lieben. Die Cola geht auf mich“, lächelnd stellt er eine Flasche auf den Tisch. Leise bedanke ich mich, während Mirko sich schon über sein Essen hermacht.
„Du bist doch unglaublich.“ Empört boxe ich ihm auf den Oberarm.
„Was denn?“ Verständnislos sieht er zu mir und reibt sich über den Arm. Ich kann nur noch mit den Kopf schütteln. Wie kann man so undankbar sein?

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now