Kapitel 28

100 11 17
                                    

Die Sommerferien sind vorbei und ich habe tatsächlich auf biegen und brechen meinen Realschulabschluss auf dem Tisch liegen, dabei sollte es wohl eher ein Abgangszeugnis sein, so wie meine Noten aussehen. Ich bin immer noch enttäuscht von meiner Familie, dass keiner zur Zeugnisvergabe gekommen ist, außer meine Mutter und Mirko. Wir waren mit dir das Kleid kaufen, Oma muss sich jetzt ausruhen. Höre ich meine Tante noch immer in meinem Kopf sagen. Das ich nicht lache. Auch mein Vater war mal wieder in der Kneipe. Augenverdrehend nehme ich mir den Kajalstift, welcher nur noch ein Stummel ist und ziehe mir einen Lidstrich. Nach unseren Umzug in die erste Etage hat sich nichts geändert. Die Wohnung sah innerhalb kürzester Zeit wieder aus wie ein Schlachtfeld und ich soll Putzfrau spielen. Nicht mit mir. Mirko und ich haben uns Mühe gegeben, die Wand gegenüber von meinem Bett in einem schönen lila zu streichen. Aber mein Vater musste sich mal wieder einmischen, so dass es eine Mischung aus Wischtechnik und streichen geworden ist. Seufzend schnappe ich mir meine Handtasche und stecke noch einen Block hinein. Da ich keine Ausbildung habe muss ich zu einer Maßnahme vom Amt. Geschockt muss ich feststellen, dass mein Bus in fünf Minuten kommt. Schnell renne ich aus der Wohnung, den Berg hinunter und zur Polizeiwache, wo die Haltestelle ist. Schnaufend bleibe ich stehen und schlage mir vor die Stirn. Ich hätte mich gar nicht so beeilen müssen. Der Weg dauert keine zwei Minuten, selbst beim gemütlichen gehen. Beim nächsten Mal Lauf ich einfach zum Wasserturm. In letzter Zeit bin ich ziemlich träge geworden und antriebslos, dass muss ich wieder ändern.

Bekannte Gesichter erblicke ich vor dem Eingang und muss grinsen.
„Fredi, was machst du hier?“, frage ich den etwas zu klein geratenen locken Kopf.
„Irgendwas muss ich doch machen. Bist du auch wegen dem Amt hier?“ Grinsend nimmt er mich in den Arm und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Seufzend bejahe ich und begrüße noch Emma, welche auch auf meiner Schule war, aber in einer anderen Klasse.
„Was macht Daniel eigentlich? Er schreibt nicht zurück und geht auch nicht ans Telefon.“ Schmollend schiebe ich meine Unterlippe vor und ernte dafür nur ein leises Lachen. Ein unfassbar dickes Mädchen zwängt sich an uns vorbei, kurz schaue ich auf meinen Bauch und dann wieder zu ihr. Sie ist doch mindestens das doppelte von mir. Ihre Haare sind so schlecht blondiert, dass sie einen schrecklichen gelbstich haben und die rote Spange rundet das ganze noch als hässlich ab. Ihre Jogginghose und die riesige schwarze Sweatshirtjacke haben auch mal bessere Tage gesehen.
„Kennt die jemand?“, fragt Emma flüsternd und schaut ihr nach. Keiner sagt etwas. Man kennt sich in der Stadt eigentlich, zumindest vom sehen her, aber dieses Mädchen ist nie jemanden aufgefallen. Nachdenklich schaue ich ihr hinterher, wie sie sich direkt vor die Glastür stellt und eine Zigarette anzündet. Die Kopfhörer in ihren Ohren, lassen mich vermuten, dass sie uns nicht hört. Ihr Blick ist starr auf den Boden gerichtet. Komisches Mädchen. Kopfschüttelnd drehe ich mich von ihr weg.

„Guten Morgen ihr Lieben, ich bin Frau Pelz, eure Ansprechpartnerin für alle Anliegen. Stellen wir uns erst ein Mal alle vor.“ Frau Pelz stellt sich vor uns hin und hält einen Ball in der Hand. Ich fühle mich wie im Kindergarten, während der Ball hin und her geworfen wird, jeder seinen Namen sagt und über seine Hobbys redet. Das Mädchen mit der riesigen Jacke hat den Ball bekommen und alle werden ruhig, um zu wissen wer sie ist.
„Ich bin Pia und 22 Jahre alt. Meine Hobbys sind Zeichen“, spricht sie gelangweilt. Doch kein Mädchen, sie ist schon eine Frau. Sie wirft den Ball in meine Richtung, nur kurz treffen sich unsere Blicke und ich ringe mir ein freundliches Lächeln ab. Sie soll nicht denken, dass jeder hier so böse guckt. Ihr Blick fällt sofort wieder auf den Tisch. Dann nicht. Augenverdrehend lasse ich den Ball auf den Tisch, vor mir, hüpfen und stelle mich vor.
„Bin Anna und 17 Jahre alt. Ich schreibe eigentlich nur gerne und das wars auch schon.“ Schnell werfe ich den Ball weg und beobachte Pia ein wenig. Sie sieht niedergeschlagen und müde aus. Erst jetzt fallen mir die dunklen Spuren unter ihren Augen auf.

Der Tag verging viel zu schnell und da niemand in die gleiche Richtung musste wie ich trotte ich gemütlich durch das Industriegebiet. Pia hat nichts mehr gesagt und irgendwie lässt mich diese Frau nicht los. Beim laufen schreibe ich Mirko, wie mein Tag in dem Bildungszentrum war und grinse vor mich hin. Nur noch ein halbes Jahr und ich kann endlich hier weg. Er ist mein Ticket in die Freiheit. Voller Freude hüpfe ich den Weg entlang. Seit dem ich nicht mehr in die Schule gehe, geht es mir deutlich besser. Ich bin nicht mehr täglich diesen Schikanen ausgesetzt. Es fühlte sich an als hätte mir jemand einen riesigen Stein von den Schultern genommen, als ich über die Bordsteinkante, von der Schule, gegangen bin und nicht mehr zurück geschaut habe. Wie liebevoll Mirko meine Füße massiert hatte, weil ich das erste Mal wirklich hohe Schuhe angezogen hatte. Grinsend denke ich an den Tag zurück und erwecke die Bilder von unserem kleinen Tanz in meinem Zimmer wieder zum Leben. Wie er mich sanft in seinen Armen gewogen hat, sich mit mir gedreht hatte. Es war ein wunderschöner Nachmittag mit ihm und die Feier mit seinem Bruder am Abend war auch perfekt. Wenigstens Mirko ist für mich da. An der Henrichshütte angekommen mache ich eine kleine Pause und setze mich auf die Bank am angrenzenden Park. Verträumt schaue ich in den klaren blauen Himmel und bin tiefen entspannt. Diese Ruhe in mir zu spüren ist atemberaubend. Nichts was mich runterzieht, nichts was mir gerade die Laune verderben kann. Alles fühlt sich so leicht an. Als wäre ich ewig unter Wasser gewesen atme ich die frische Luft tief ein. Die Blumen auf der Wiese blühen wunderschön, doch diesen Geruch nehme ich gar nicht wahr. Ich konnte noch nie die Düfte von Blumen wahrnehmen, aber das ist nichts was mich stört. Ich finde es viel merkwürdiger, dass alle anderen immer an einen Strauß Blumen riechen und sich über den Geruch freuen. Grinsend pflücke ich eine gelbe Tulpe ab und versuche irgendwas zu riechen, doch nichts. Schulterzuckend halte ich sie noch ein mal vor meine Nase, außer einen kleinen Käfer der vom Blatt wegfliegt merke ich nichts. Langsam setze ich meinen Weg fort und nehme die Tulpe mit.

„Papa, ich bin zu Hause!“, rufe ich, während die Tür ins Schloss fällt. Es kommt keine Reaktion, aber mittlerweile ist es mir auch egal. Der Gestank von vergammelten Essen aus der Küche ist kaum zu ertragen, so dass ich meine Nase angewidert rümpfe. Heute morgen roch es nicht so schlimm. Mit schnellen Schritten gehe ich durch den langen Flur ins Wohnzimmer, um in mein Zimmer zu gelangen. Sofort reiße ich mein Fenster auf und atme die warme Luft ein. Leise summt mein Handy. ‚Mirko: Das freut, dass du heute so einen guten Tag hattest. Wenn alles gut klappt, habe ich ab morgen einen neuen Job. Drück mir die Daumen. Ich liebe dich auch mein Schatz‘ Grinsend antworte ich ihm, dass beide Daumen fest gedrückt sind. Es freut mich wirklich, dass bei uns beiden gerade alles Berg auf geht. Die Blumen, welche Mirko mir letzte Woche geschenkt hatte, blühen immer noch und ich stecke die Tulpe dazu.

Leises fluchen dringt aus dem Flur. Schnell springe ich auf, reiße die Zimmertür auf und sehe meinen Bruder, wie er sich mit drei Einkaufstüten abmühen.
„Warte, ich helfe dir“, rufe ich und eile auf ihn zu.
„Wenn der Alte mal aufräumen würde und nicht immer nur säuft müssten wir nicht immer alles machen“, meckert er drauf los und tritt einen Müllsack beiseite.
„Du meinst wohl eher mich. Du bist kaum hier und ich hab kein Bock mehr auf den ganzen scheiß. Egal wo ich aufräumen, es sieht in kürzester Zeit wieder aus wie scheiße.“ Genervt stelle ich den Müll in den Flur und mache etwas Platz vor dem Kühlschrank.
„Wie auch immer. Es nervt!“ Zustimmend nicke ich und ziehe eine Chipstüte hervor.
„Das ist aber nett, dass du an mich denkst.“ Grinsend renne ich in mein Zimmer und verstecke die Tüte.
„Das kannst du voll vergessen, kauf dir selber welche oder mach dir welche, aber die gehören mir“, ruft Tim und schiebt mich, trotz meiner 90 Kilogramm, mühelos zur Seite. Er sieht nicht so aus,  als hätte er Kraft, aber man darf meinen Bruder niemals unterschätzen. Niemals würde er zugeben, dass er die Gene unserer Mutter geerbt hat, aber er kann essen ohne dick zu werden. An manchen Tagen beneide ich ihn dafür.
„Du hast doch bestimmt zwei Tüten geholt“, nörgle ich und stelle mich ihm wieder in den Weg. Wenn wir so voreinander stehen würde nie jemand denken, dass wir Geschwister sind. Grinsend schaue ich zu ihm hoch und versuche ihn wieder hinaus zu schieben.
„Ist doch egal, dass sind meine.“
„Komm schon, du hast mich lieb.“ Mit großen Augen blinzle ich ihn ein wenig an. Damit bekomm ich Tim immer klein.
„Dafür bekomm ich ein paar Kippen von dir.“ Grinsend zieht er eine Augenbraue hoch, mit den dicken Brillengläsern sieht es unglaublich lustig aus, aber ich nicke nur und versuche nicht laut los zu lachen. Zufrieden gehe ich wieder in die Küche und Räume die Lebensmittel ein und muss feststellen, dass Tim sogar drei Tüten Chips geholt hat. Ganz unten in der Tasche entdecke ich Milchreis und ein breites grinsen schleicht sich auf meine Lippen. Unbemerkt tapse ich mit dem Milchreis in mein Zimmer, reiße die Chips auf und tunke sie in den Eimer. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich kann nicht mehr aufhören diese süße würzige Mischung zu essen.

Wann hört es auf? Where stories live. Discover now