Kapitel 9

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„Er hat was?“, laut lacht Nicole los und wieder fange ich an zu weinen. Sie sollte mir Beistand leisten, meinen Vater zur Rede stellen, aber nicht mich auslachen. Sie stützt die Hände auf ihre Oberschenkel und prustet wieder los, vor lauter Lachen kommen ihr Tränen hoch. Ich finde das ganze gar nicht lustig. Seit dem sie weggezogen ist, hat sich mit Papa alles nur noch verschlimmert.

„Tut mir leid, aber das ist zu lustig.“

„Fändest du es lustig, wenn es deine Klamotten wären die in den Müll landen? Ich werde diese Jacke nie wieder anziehen!“ Wütend schaue ich sie an, doch sie wird überhaupt nicht ernst und lacht einfach weiter. Genervt stöhne ich auf, drücke meine Zigarette aus und gehe ins Kinderzimmer.

„Anna, spielst du mit mir?“, fragt Michelle direkt und zieht mich in ihre Puppenecke unter dem Hochbett. Lächelnd setze ich mich dazu.

„Ich bin eben einkaufen, passt du auf Anna auf?“ fragt Nicole an Michelle gerichtet. Wissend drehe ich mich nach Nicole um. Einkaufen wer es glaubt, es ist Feiertag.

„Ich schaff das“, sagt sie ganz stolz und klettert auf meinen Schoß, „Wenn Mama weg ist gucken wir dann findet Nemo?“, fragt sie ganz leise in mein Ohr. Ich kann ihr nichts abschlagen, also nicke ich.

Mittlerweile kenne ich den Film auswendig und spreche jede Szene mit. Jedes Mal wenn die Möwen ‚Meins!‘ rufen ziehe ich Michelle eng an mich und gebe ihr küsse auf die Wangen, was sie zum kichern bringt. Sie kuschelt sich näher an mich und starrt vertieft auf den Fernseher. Sanft streiche ich über ihre Haare und lächle. So sehr sie mich manchmal nervt, so sehr liebe ich sie auch. Michelles Atmung verlangsamt sich und ihr kleiner Kopf wird immer schwerer. Lächelnd betrachte ich sie, sie ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Wenn man nicht wüsste, das Nicole ihre Mutter ist, würde man mich dafür halten. Aber dann hätte ich mit neun schon ein Kind bekommen müssen. Über meine eigenen Gedanken schüttle ich den Kopf und Fische in meiner Hosentasche nach meinem Handy. ‚Mirko: Was machst du heute? Bin gerade in Essen, könnte vorbei kommen.‘ Kurz antworte ich ihm, dass es heute nicht geht und schaue weiter den Film.

Vorsichtig bringe ich Michelle in ihr Bett und Decke sie zu.

„Kuss“, flüstert sie verschlafen, lächelnd tue ich ihr den Gefallen und schleiche wieder aus dem Zimmer. Es ist schon zehn Uhr durch, so langsam sollte Nicole mal auftauchen. Augenverdrehend gehe ich ins Badezimmer und nehme mir ein Zigarette. Wenn ich schon nichts für das Babysitten bekomme, bediene ich mich halt. Günstiger kommt man ja nicht an Babysitter, wenn man die kleine Schwester dazu einspannt.

Gelangweilt öffne ich den Kühlschrank. Einkaufen müsste sie aber wirklich wieder, nichts da was ich mag. Ein kurzer Blick in den Süßigkeiten Schrank und eine große Tüte Flips landet in meinen Armen. Nach und nach stopfe ich das Essen in mich hinein. Obwohl ich schon längst satt bin, kann ich einfach nicht aufhören. Essen macht mich glücklich und ich will nicht das dieses Glücksgefühl aufhört. Sanft berühren mich zwei kleine Pfoten und Katerchen klettert auf meinen Schoß. Mit Flips versuche ich ihn von mir runter zu bekommen. Ich mag diesen Kater einfach nicht, er hat mich so oft gebissen und gekratzt. Schützend halte ich meine Hände vor mein Gesicht und schaue aus dem Fenster.
„Geh weg. Los. Husch. Ich hab kein Futter. Weg mit dir.“ Leicht Schaukel ich meine Beine, doch dieses doofe Viech legt sich einfach hin, es scheint ihn überhaupt nicht zu stören. Laut atme ich aus und puste eine Haarsträhne dabei zurück. Wie mich meine Haare nerven. Viel zu lang und viel zu viele.

Fest entschlossen halte ich den Rasierer in der Hand und starre auf mein Spiegelbild. Ob es eine Kurzschluss Reaktion ist weiß ich nicht, aber meine Haare sollen weg! Tief atme ich durch, schalte das Gerät ein und setze es über mein linkes Ohr an. Fest beiße ich mir auf die Lippen. Ich kann das. Ich mach das jetzt. Mit geschlossenen Augen rasiere ich über meinen Kopf und meine dunkelblonden Haare rutschen über meine Schulter auf den Boden. Ich habe es wirklich getan. Mit weit aufgerissenen Augen schaue ich auf die Haare und wieder auf den Rasierer. Wieder setze ich an und entferne weiter meine Haare. Mit jedem Büschel, welches auf den Boden landet fühle ich mich freier. Es ist als würde eine last von mir genommen werden. Einzelne Tränen kullern über meine Wange. Es sieht so ungewohnt aus. Langsam streiche ich über die kleinen stoppeln auf meiner Kopfhaut und muss laut los lachen. Mein Gesicht wirkt viel runder, als vorher. Das wird Jahre dauern bis die wieder da sind. Grinsend schminke ich mich, mit den Sachen meiner Schwester. Meine Augen sehen aber weitaus heller aus. Fett und kurze Haare, genau mein Ding. Jetzt haben die Leute wenigstens etwas worüber sie wirklich Lästern können. Schnell fege ich alle Haare zusammen und schmeiße sie in den Müll. Genau so soll es sein. Zufrieden lege ich mich auf die Couch und schaue an die Decke. Ich sollte Fotos davon machen. Schnell zücke ich mein Handy hervor und knipse mich in den verschiedensten Posen, Mirko bekommt sofort ein Bild. Leider kann ich Chris keines schicken. Langsam mache ich mir ziemlich Sorgen um ihn, er hat sich schon zwei Wochen nicht gemeldet. Ich versuche ihn anzurufen, doch es geht mal wieder nur die Mailbox ran. Traurig lege ich wieder auf. Eine Nachricht ploppt auf. ‚Mirko: Was hast du getan?‘ und sofort klingelt mein Handy.
„Bist du bescheuert? Deine schönen Haare.“ Ich kann mir bildlich vorstellen, wie er sich über sein Gesicht streicht und den Kopf schüttelt.
„Es sind nur Haare, die wachsen wieder“, gebe ich belustigt von mir und streiche wieder über meinen Kopf, „Das wird kalt, wenn ich morgen nach Hause gehe.“ Mirko und ich quatschen noch die halbe Nacht, bis Nicole endlich der Meinung war nach Hause zu kommen. Ungeduldig tippe ich mit meinem Fuß auf den Boden.
„Was zum Teufel hast du gemacht?“, ruft sie aufgebracht, als sie meine Haare sieht. In dem Fall nicht sieht.
„Nichts, nur meine Haare abgeschnitten.“ Müde gähne ich laut und Strecke mich.
„Das wird Papa gar nicht gefallen.“ Kopfschüttelnd sieht sie mich an und deutet mir an mit zu kommen.
„Wer muss damit rum laufen, er oder ich?“, frage ich zickig und gehe ihr ins Badezimmer nach.
„Papa mag ein arsch sein ja. Aber trotzdem liebt er dich.“ Fragend ziehe ich eine Augenbraue hoch: „Tolle liebe, wenn er seiner Tochter ins Zimmer pisst und sich noch nicht mal entschuldigt. Und wag es dich wieder zu lachen. Ich schwöre dir dann war es das letzte mal, dass ich auf Michelle aufpasse, während du“, ich halte inne, so kann ich ihr das nicht an den Kopf werfen. Auch sie hat das Recht sich mit ihrem Freund alleine zu treffen. Entschuldigend schaue ich sie an und konzentriere mich auf meine Zigarette. Von draußen hört man den Wind pfeifen und keiner von uns sagt mehr was. Ist vielleicht auch besser so, denn sonst würden wir uns nur streiten.

„Anna!“, schreit mir plötzlich jemand ins Ohr und ich schrecke hoch. Laut stöhnend halte ich meinen Kopf und ein leises aua vernehmen ich neben mir.
„Tut mir leid“, brumme ich und ziehe Michelle in meine Arme.
„Wo sind deine Haare?“ Vorsichtig streicht sie über meinen Kopf und legt ihren Kopf schief.
„Ich habe sie abgeschnitten. Findest du es schön?“ Eifrig nickt sie und streichelt weiter meinen Kopf, „Das kitzelt wenn ich da rüber streiche.“ Wie eine Katze schmiege ich mich an sie und entlocke ihr ein leises kichern. Sie ist viel zu süß. Aus dem Schlafzimmer höre ich Nicole nach Michelle schreien. Leise seufzt sie auf und tapst zu ihrer Mutter. Sie ist definitiv meine Nichte, genau so genervt von allem wie ich. Grinsend sehe ich ihr nach. Noch völlig neben mir gehe ich ins Badezimmer und Blicke in den Spiegel. Ich schaue auf meine kurzen Haare, welche noch immer gewöhnungsbedürftig sind. Es gefällt mir wirklich gut. Mit einem Lächeln im Gesicht mache ich mir eine Zigarette und reiße das Fenster auf. Sofort strömt die kalte Luft ins Bad und eine Gänsehaut breitet sich aus. Fröstelnd reibe ich meine Arme.

Zaghaft klopft es an der Tür und ich rufe leise ‚herein‘. Mit Tränen im Gesicht steht Michelle vor mir und schluchzt leise. Fragend sehe ich sie an und warte darauf, dass sie etwas sagt. Aber sie weint still weiter. Ich breite meine Arme aus, sofort stürmt sie hinein und vergräbt ihr Gesicht an meiner Brust.
„Mama will nicht das ich mit nach Opa gehe“, schluchzt sie und fängt bitterlich an zu weinen. Mir zerreißt es das Herz, sie so zu sehen.
„Soll ich mal mit Mama sprechen?“, frage ich sanft und eifrig nickt sie, noch immer mit ihrem Kopf an meiner Brust.

Wann hört es auf? Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum