75 ~ Ich bin nicht du

531 41 65
                                    

»Du hattest kein Recht, Norbert von Jared und mir zu erzählen!«, schrie ich Adam an, als auch er in meinen Keller hinunterkam. Meine Tränen warum zum Glück mittlerweile versiegt. »Warum erzählst du ihm ständig alles, was ich mit anderen Jungs mache?«

»Tut mir leid, ich habe mir bloß Sorgen gemacht, weil du mit Jared geschlafen hast«, sagte Adam und hob wie, als wollte er sich ergeben, die Hände in die Höhe. »Was, wenn er dich ausgesaugt hätte?«

Ich seufzte. »Jared würde mich nicht aussaugen. Wir sind... Nein, wir waren Freunde.«

»Ihr seid nicht mehr Freunde? Seit wann das denn?«, hakte Adam nach.

»Seit heute. Ich habe es beendet.«

»Achso«, sagte Adam. »Ich habe übrigens nachgedacht und mich dazu entschieden, dass ich nicht mehr trainiert werden will. Ich bin jetzt mit Veronica zusammen, was heißt, dass ich mehr Zeit für sie brauche und nebenbei muss ich mich auch noch auf die Schule konzentrieren.«

Das war nun mehr als merkwürdig. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass er besser kämpfen konnte, als er zugab, wollte er auf einmal kein Training mehr.

Vielleicht aber bildete ich mir einfach zu viel in die Sache herein und das war tatsächlich nur ein Reflex, den er sich vom Judo angewöhnt hatte.

Bevor ich ihn allerdings zur Rede stellen konnte, klingelte mein Handy.

»Na, dann will ich dich mal nicht weiter stören«, sagte Adam und verschwand wieder die Treppe hinauf.

Ich ging ran, sobald ich sah, dass es Jack war. »Hi«, begrüßte ich ihn. »Was gibt's?«

»Hi, Monday. Ich habe dich doch nicht geweckt, oder?« Als ich verneinte, fuhr er fort. »Gut, ich habe nämlich das Buch zu Ende gelesen.«
»Und das ist so wichtig, dass es nicht bis morgen warten konnte?«, fragte ich und lachte.

»Nein, das konnte nicht warten«, erwiderte Jack. »Du wirst nicht glauben, was ich herausgefunden habe. In dem Buch stehen zahlreiche Hinweise, wie man das Traumwandeln trainieren kann. Besonders begabten Wandlern soll es möglich sein, Personen in deren Träumen zu besuchen und diese Personen dann auch in den Traum eines anderen mitzunehmen. Außerdem soll es einigen schon gelungen sein, die Toten zu besuchen, die nicht in der Hölle, sondern im Himmel gelandet sind.«

Ein Hoffnungsfunke keimte in mir auf. »Meinen Daddy?«, fragte ich, die Worte flüsternd aussprechend, aus Angst vor einer Verneinung.

»Ja, auch deinen Vater solltest du erreichen können, wenn wir davon ausgehen, dass alle Menschen im Himmel landen.«
»Wow«, sagte ich. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke, Jack! Danke, dass du mir direkt davon erzählt hast.«

»Immer wieder gerne«, sagte Jack und ich meinte, ihn durch das Handy schmunzeln zu hören. »Übe du heute Nacht schön deine Wandlerkünste, okay? Du wirst die Erfahrungen brauchen, wenn du besser werden willst.«

»Mach ich. Gute Nacht, Jack.«

»Gute Nacht.«

Mit offenen Augen lag ich in meinem Bett und starrte an die Decke. Waren dort oben schon immer so viele Spinnennetze gewesen? Ich erschauderte leicht und drehte mich auf die Seite, um sie nicht angucken zu müssen.

Doch trotz der Spinnennetze zogen sich meine Mundwinkel wie von alleine nach oben. Sogleich versuchte ich, mein Lächeln zu unterdrücken. Ich wollte Daddy so gerne sehen, ihn in den Arm nehmen. Ich wollte ihn anschreien, warum er Mama rausgeschmissen hatte. Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn liebte.

Aber ich traute mir nicht, zu große Hoffnungen zu machen. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich noch nicht erfahren genug war, um es heute Nacht zu schaffen. Mir war es ja nicht einmal gelungen, Mama zu erreichen. Würde es mir jemals gelingen?


»Daddy, Daddy, Daddy!«, schrie ich in die Dunkelheit hinein. Ich versuchte, mir sein Gesicht vorstellen, doch nicht einmal das gelang mir. Ich konnte mir lediglich seine Umrisse ins Gedächtnis rufen, aber die Details blieben verschwommen.

So wird das ja nie klappen!

Ich rief nach Mama. Ich rief und rief, doch wie immer erreichte ich sie nicht.

Wenn es mit Tuesday nicht klappen würde, dann... Ja, was sollte ich dann machen? Verzweifeln?

»Tuesday!«, schrie ich, doch mein Schrei ging dumpf in der unendlichen Dunkelheit unter. »Tuesday, lass mich in deinen Traum!«

Ich stellte sie mir vor, wie sie vor mir stand, ein genaues Abbild meiner selbst. Abgesehen von den rosafarbigen Haaren und ihrer Ausstrahlung. Ihrer süßen, aber dennoch coolen Ausstrahlung.

Und dann, endlich, passierte etwas.

Ich plumpste mit meinem Hinterteil auf einen harten Untergrund.

Vor mir war ein kleiner Lavasee und neben mir saß Tuesday, in dem selben Kleid, dass sie auch bei meinem letzten Besuch angehabt hatte, und ließ ihre Füße über den Beckenrand baumeln.

Träumte sie immer das gleiche? Es war fast so, als wäre ich nie weggewesen.

Ihr Blick schnellte zu mir herum. »Oh, hey, anderes Ich«, begrüßte sie mich. »Wie schön, dass du wieder hier bist.«

Ich atmete tief ein und aus. Am besten sollte ich ihr alles möglichst schnell erzählen. Wer wusste, wann sie wieder aufwachen würde. »Ich bin nicht du«, erklärte ich. »Wir sind in deinem Traum.«

»Ich weiß, dass ich träume.« Sie lächelte mich nett an. »Aber du solltest doch wissen, dass ich das weiß, denn schließlich bist du ja ich und ich weiß, was ich weiß.«

Mein Gehirn brauchte einen Moment, um diesen Satz zu verarbeiten.

»Das stimmt so nicht ganz«, korrigierte ich schließlich. »Ich bin nicht du. Ich bin deine Zwillingsschwester.«

»Süße, das haben wir doch schon beim letzten Mal geklärt. Meine Familie hätte mir gesagt, falls ich eine Zwillingsschwester hätte.«

Dies würde schwieriger werden als gedacht.

»Deine Familie ist nicht deine leibliche Familie. Komm zu mir, in der Realität, und ich beweise dir, dass ich echt bin.«

»Ich will ja nicht unfreundlich erscheinen, aber wie solltest du überhaupt echt sein?«, fragte Tuesday. »Das geht rein logisch gar nicht. Wie du schon richtig angemerkt hast, ist das hier ein Traum.«

»Ich bin ein Traumwandler. Das ist meine Begabung.« Während ich das sagte, fiel mir ein, dass sie womöglich gar nichts von Begabungen, geschweige denn Dämonen, wusste. »Du weißt doch, was eine Begabung ist, oder?«, fragte ich sicherheitshalber nach.

»Natürlich weiß ich das«, meinte Tuesday mit einem drohenden Unterton. Auf einmal wirkte sie nicht mehr so freundlich wie noch eben zuvor. »Aber du glaubst nicht wirklich, dass ich dir das abkaufe? Ich kenne eure Tricks. Wärst du ein Traumwandler, dann wärst du stark genug, um dein Aussehen zu verändern. Ich habe keine Zwillingsschwester.« Sie musterte mich und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ihre Stimme wurde wieder sanfter. »Obwohl ich ja sagen muss, dass es durchaus interessant ist, mich selbst in einer anderen Perspektive zu sehen. Du hast so schöne lange Haare.«

Monday - Dämonen der VergangenheitOn viuen les histories. Descobreix ara