Man kann andere anhand ihrer Trauer beurteilen

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Wir haben alle Geheimnisse, die wir mit uns rumtragen. Und je mehr es sind, desto schwerer wiegt die Last. Auch wenn manche von uns inzwischen mehr Übung haben. Tony Padilla war schon immer ein Meister, was Geheimnisse angeht und wir hätten wissen müssen, dass er was verbirgt. In manchen Familien werden Geheimnisse für Jahre verborhen gehalten. Manchmal sogar ein ganzes Leben lang. Doch der Tod hat so eine Art Dinge ans Licht zu bringen. Trauer kann unsere Handlungen beeinflussen wie wir es vielleicht nicht erwarten würden. Justin und ich betreten die Kirche, in der die Beerdigung stattfindet. Mir ist unwohl dabei hier zu sein, zumal ich Bryce nicht einmal mag. Doch Justin war sein Freund. Er verdient Unterstützung. Und meine Familie und ich wollen ihm diese geben. Mein Blick bleibt an Zach hängen, der neben seiner Mutter sitzt. Als unsere Blicke sich treffen, lächle ich leicht, um ihn zu begrüßen. Auch er scheint mir ein Lächeln schenken zu wollen. Doch es gelingt ihm nicht ganz. Rechts neben ihm sitzt Chloe, was mir einen Stich versetzt. Doch ich versuche mich daran zu erinnern, dass sie nur Freunde sind. "Danke, dass ihr mit mir hergekommen seid.", meint Justin und holt mich somit aus meinen Gedanken.
"Aber natürlich.", sagt Tante Polly und streicht ihm über den Arm.
"Ich werd den Jungs mal kurz Hi sagen." Justin wendet sich ab und begibt sich zu den Footballspielern, die gerade die Kirche betreten haben.
"Ja, ich muss auch noch kurz wohin.", sage ich und treffe mich heimlich mit Ani. Ich stehe auf der Treppe, die zum Glockenturm führt und warte auf sie. Als sie auf mich zukommt, packe ich mein Handy weg. "Wir hatten doch ausgemacht, dass du nicht in meine Richtung gucken sollst. Und mir erst recht nicht schreibst. Ich stecke zwischen meiner Mum und Mrs Walker fest.", keift sie mich an.
Genervt verdrehe ich die Augen.
"Aber wir müssen über den Mustang sprechen.", werfe ich ein.
"Ich bin mir zu 90 Prozent sicher, es ist seins."
"Tony schwört, dass er es an einen Typen in Arizona verkauft hat, um seinem Dad zu helfen. Du warst doch dabei, als er meinte, dass ein Teil seines Herzens jetzt in Arizona ist.", entgegne ich ihr.
"Du glaubst ihm das einfach?", fragt Ani mich ungläubig. Entsetzt schaue ich sie an.
"Tony würde mich nicht anlügen. Ja, er hat mir vielleicht mal gewisse Informationen vorenthalten, aber das war was völlig anderes."
"Abby, glaub mir. Es kann nur sein Auto sein."
"Das glaub ich nicht. Und sobald ich Tony gefunden habe, kann ich es dir auch beweisen.", stelle ich klar.
"Was?", fragt Ani verwirrt. Mein Blick bleibt an einem Polizisten hängen, der uns beobachtet. Es ist derselbe, der mich vor dem Haus der Walkers erwischt hat, als ich auf Ani gewartet habe. "Caleb reagiert nicht auf meine Anrufe und in der Werkstatt ist auch niemand. Ich wollte später zum Haus seiner Eltern fahren.", erkläre ich.
"Scheiße, meine Mum. Bis dann.", meint Ani und läuft die Treppe hinunter. Seufzend folge ich ihr.
"Es kann nicht Tonys Auto sein.", sage ich leise.
"Wir reden nachher weiter.", zickt Ani und verschwindet. Genervt verschränke ich die Arme vor der Brust und gehe zu meinen Eltern. Bryces Vater ist ebenfalls da und begrüßt ein paar Leute. Auf mich macht er den Anschein, als wäre er betrunken. Mr Walker hatte versucht Bryce komplett aus seinem Leben zu löschen. Aber trotzdem konnte er ihm einfach nicht entkommen. Genauso wenig wie jetzt. "Was weißt du über Bryces Dad?", frage ich meine Tante, während ich Mr Walker beobachte.
"Eigentlich kenn ich ihn kaum. Wieso fragst du?", antwortet sie und sieht mich fragend an.
"Nachdem ich letztes Jahr bei Bryce war, hattet ihr da nicht Streit?"
"Das stimmt. Mrs Walker hat versucht zu vermitteln. Er ist ein Großmaul, sonst nichts."
"Er soll einfach so aus Bryces Leben verschwunden sein...", erzähle ich ihr.
"Das wusste ich gar nicht. Obwohl mich das nicht gerade überrascht."
"Polly, wir sind auf der Trauerfeier seines Sohnes.", flüstert mein Vater.
"Sieht man ihm aber nicht wirklich an.", antwortet Tante Polly. Und sie hat vollkommen recht damit. Ich krame mein Handy aus meiner Tasche und schicke Ani eine Nachricht. Mr Walker ist komisch. Verdächtig? Ani dreht sich in meine Richtung und sieht mich an. Doch sie zeigt keinerlei Reaktion.

Überraschenderweise soll Zach eine Rede bei der Trauerfeier halten. Und obwohl wir schon länger nicht mehr miteinander gesprochen haben, merke ich ihm an, dass es ihm schwer fällt dort vorne zu stehen. Seine Augen suchen im Raum nach irgendwas, an das er sich festhalten kann. Als sein Blick meinem begegnet, lächle ich ihn aufmunternd an. "Bryce war ein Kämpfer und das nicht nur auf dem Spielfeld. Er hat für sein Team gekämpft. Immer und überall. Er war loyal. Und er war stark. Und er hatte diese Art von Stärke, die ich mir immer gewünscht hatte. Auf 'ne gewisse Art. Ich war nicht immer einverstanden mit Bryce. Oder mit dem, was er tat. Aber manchmal frage ich mich, ob wir nur die Summe unserer Handlungen sind. Oder... Obs nicht doch anders ist. Ich möchte glauben, dass wir mehr sind als das. Es gab eine Zeit, wo Bryce Walker wie ein Bruder für mich war. Und dann gabs Zeiten, in denen er es nicht war. Und dabei sollten wir doch alle Brüder und Schwestern sein. Jeder von uns. Ob es mir gefällt oder nicht. Bryce wird für immer mein Bruder sein. Und..." Zach wendet den Blick ab und schaut auf das große Portrait von Bryce vorne am Altar. "Bryce, es tut mir leid. Es tut mir echt leid und... Und leb wohl." Ich senke den Kopf und schaue auf meine Hände. Zachs Worte haben mich so überwältigt, dass ich am liebsten weinen würde. Vielleicht hat er recht mit dem, was er sagt. Es gab möglicherweise auch Seiten an Bryce, die ich nicht kenne, die aber gut waren. Warum sonst hätte sich Chloe in so jemanden verliebt? In ein Monster. Ganz einfach weil er nie ein Monster war. Er war ein Mensch. Und Menschen tun manchmal schreckliche Dinge. "Nur eine Mutter kann ihr Kind wirklich sehen. Und eine Mutter sieht in diesem Mann den kleinen Jungen, der er war. Es gab einen Bryce, von dem ich wünschte, ihr hättet ihn gekannt. Ja, er war fähig verletzende... Verletzende Dinge zu tun. Aber er war auch fähig aus ganzem Herzen zu lieben. Seine Seele wollte im Grunde gut sein. Doch sein Herz wusste einfach nicht wie. Aber er war... Er war auf dem richtigen Weg. Das hab ich gespürt. Und es gab Momente in den letzten Monaten, in denen ich nicht nur den kleinen Jungen gesehen habe. Sondern den guten Mann, der er geworden wäre.", hält nun Mrs Walker ihre Rede. "Ich hab ihn geliebt. Wir haben ihn geliebt." In meinen Augen sammeln sich Tränen, die ich wegblinzle.
"Bryce Walker war ein Vergewaltiger!", höre ich jemanden laut rufen.
"Glaubt den Überlebenden!"
Die Mädchen aus der Gruppe von Jessica hängen ein Banner auf und rufen laut, dass Bryce ein Vergewaltiger ist. Geschockt öffne ich den Mund, als immer mehr Mädchen aufstehen. "Gerechtigkeit für Hannah!", ruft jemand. Es dauert ein paar Sekunden bis die Polizei eingreift und die Mädchen verhaftet. Doch was mich mehr schockiert, ist die Tatsache, dass Mr Walker auf eines der Mädchen losgeht.

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