Kassette 2, Seite B

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Mitten in der Nacht wurde ich wach, weil ich einen Albtraum hatte. Ich sah Hannah vor mir, wie sie die Rasierklinge nahm und sich die Pulsadern aufschnitt. Ich stand vor ihr und sah sie einfach nur an. Mein Gehirn wollte, dass ich sie aufhalte. Meine Beine jedoch bewegten sich nicht. Als sie meinen Namen gesagt hatte, schlug ich sofort meine Augen auf und setzte mich schweißgebadet auf. Mein Herz raste. Meine Stirn glühte. Doch als ich mich umsah, beruhigte sich mein Puls. Ich war in meinem Zimmer. Aus irgendeinem Grund begann ich in meinem Zimmer auf und ab zu laufen. Nach wenigen Sekunden blieb mein Blick auf den Kassetten hängen. Wie von selbst bewegten sich meine Beine zum Schreibtisch. Meine Hände tasteten im Dunkeln nach dem Walkman. Ich wollte wissen, wer noch Schuld an Hannahs Tod war. War ich die Nächste auf den Kassetten? Ich setzte also meine Kopfhörer auf und drückte auf Play. Zunächst hörte man nichts. Doch bevor ich nachsehen wollte, ob etwas nicht mit dem Walkman stimmte, hörte ich sie.  “Pshh. Für die nächste musst du wirklich, wirklich leise sein. Denn du bist dabei etwas sehr Falsches zu tun. Sei vorsichtig. Und lass dich nicht erwischen. Habt ihr euch je gefragt, wie es sich anfühlt jemanden zu beobachten? Jemanden in seiner Privatsphäre zu stören? Fragt ihr euch welche Geheimnisse ihr wohl enthüllen könntet? Welche Leichen ihr aus dem Keller holt? Naja, mit der nächsten Kassette werdet ihr das herausfinden. A-4 auf eurer Karte, Kinder.“
Letztendlich kam es dazu, dass ich mich aus dem Haus schlich und mit dem Fahrrad zu genau diesem Ort radelte. Nun stehe ich hier vor einem Haus und ich weiß tatsächlich nicht, wem es gehört. Die Fensterscheibe hat ein paar Löcher und ich frage mich, warum während ich die Kassette weiter höre. “Sagt jetzt nicht, ihr würdet euch nicht trauen. Oder dass ihr euch nicht wohlfühlt, wenn ihr so etwas tut. Denn ratet mal, ihr spioniert doch jeden Tag Leuten hinterher. Wir beobachten immer jemanden. Folgen jemandem. Und werden verfolgt. Facebook, Twitter, Instagram... Die haben uns zu einer Gesellschaft aus Stalkern gemacht. Und wir stehen drauf. Natürlich ist es nochmal was ganz anderes jemanden im echten Leben zu stalken. Es stimmt. Ich hatte einen Stalker. Und wenn ihr zur Stelle A-4 gegangen seid, dann seid ihr vor seinem Fenster. So wie ich auch. Genau jetzt. Schon Vorschläge? Nein? Naja, bleibt dran, um mehr über meine Leichen im Keller zu erfahren. Erstmal, wollen wir sehen, ob er selbst auch welche hat. Ich finde es aufregend. Diesen Einblick in ein anderes Leben. Mein Herz klopft wie verrückt. Könnt ihr es hören? Hört hin.“
Tatsächlich höre ich Hannahs schnellen Herzschlag, als würde sie genau neben mir stehen. Erschrocken drehe ich mich um, als mir jemand auf die Schulter tippt. Marcus deutet mir an leise zu sein. Er trägt einen dunklen Poncho und einen mexikanischen Hut mit lauter weißen Wattebällchen, die an Fäden herunter hängen, was mich etwas irritiert. Ich nehme meine Kopfhörer runter. “Marcus, du Arschloch.“, sage ich dann. Er zieht mich hinter ein Gebüsch und deutet mir an ich solle leise sein. “Man, was machst du hier?“, frage ich angepisst.
“Sorry, okay? Ich habe nach dir gerufen. Drei mal.“ Ich mustere seinen Hut mit den vielen Bommeln. “Was hast du denn da an?“, frage ich verwundert.
“Schon ganz vergessen.“ Er drückt einen Knopf an seinem Hut, so dass ein Geräusch entsteht. Es klingt wie der Donner bei einem Gewitter. “Ich bin El Niño. Der Tropensturm.“, sagt er dann stolz. Ich schüttele einfach den Kopf. Ist das wirklich sein ernst? “Wow ich hoffe wirklich du bist morgen nicht mit in der Jury. Bisher haben mich alle sofort erkannt.“
“Marcus, was machst du denn hier?“, frage ich einfach nochmal und hoffe auf eine ernste Antwort.
“Der Kostümwettbewerb. 200 Dollar für den Sieger.“
“Hier. Was machst du jetzt hier?“ Das Wort hier betone ich nochmal extra. Manchmal ist er wirklich etwas schwer von Begriff.
“Oh, na ich hab dich gehört. Die Alarmanlage. Ich wohne gleich da drüben.“
Als ich zum Haus gefahren bin, fuhr ich versehentlich in ein Auto rein, das einen Alarm ausgelöst hatte. Innerlich verfluche ich mich selbst dafür. “Abgesehen davon bist du nicht die Erste an diesem berühmten Fenster. Wir waren alle hier.“ Ich schaue zu dem kaputten Fenster und frage mich, was Marcus damit meint. “Wir haben ihn alle geworfen.“ Irritiert sehe ich zu Marcus. Dann habe ich eine schlimme Vermutung. Meine Augen weiten sich.
“Warte, bist du auch auf den...“ Marcus nickt und nun wird mir einiges klar. “Warum, was hast du getan?“, frage ich. Ich stelle viel zu viele Fragen in letzter Zeit.
“Wer weiß? Ich hab's nicht gehört. Ich habe immer nur kurz reingehört um wen es geht, um die Kassetten schnell an den nächsten weiterzugeben.“
“Aber was ist mit Hannahs Drohung? Sie sagte, wenn wir sie nicht anhören und weiter geben...“, beginne ich, doch werde prompt unterbrochen. “Hannah sagte. Man, Hannah ist tot. Das ist hart, aber wahr. Nichts von dem, was ihr passiert ist unterscheidet sich vom Alltag anderer Mädchen und anderen Highschools. Sie wollte Aufmerksamkeit bekommen. Und diese ganzen Kassetten, das ist verdammte Scheiße und absolut niemand verdient sowas.“ Marcus ist ein größerer Idiot als ich dachte. Er versucht sich einzureden, dass alles ganz harmlos ist, was in der Schule passiert. Doch das stimmt nicht. Das Licht in dem Zimmer geht plötzlich an und Marcus und ich ducken uns schnell. “Niemand außer dieser Psycho.“ Marcus zeigt auf das Fenster und überrascht stelle ich fest, dass Tyler in dem Zimmer ist.
“Tyler Down?“, frage ich verwundert. “Hier, wirf den Stein. Dann lass die Vergangenheit ruhen.“ Marcus gibt mir einen großen grauen Stein und klopft mir auf die Schulter.
“Ich werde keinen Stein durch sein Fenster werfen, Marcus.“, zische ich. “Man fühlt sich besser.“, sagt er noch und geht. Vielleicht sollte ich den Stein mach Marcus werfen, überlege ich ernsthaft. Mein Blick heftet sich an Tyler, der mit seiner Kamera spielt. Sein Vater kommt ins Zimmer und betrachtet das Fenster.
“Wir müssen dieses Fenster reparieren, Tyler. Es wird Zeit.“, sagt er und seufzt.
“Nein, die werden es wieder einwerfen.“
“Wer sind diese Kids? Ich meine wir brauchen Namen. Wir sollten das anzeigen bei der Schule oder bei der Polizei.“ Sein Vater ist verzweifelt. Das merkt man nicht nur an seinem Blick, sondern auch an seiner Stimme.
“Nein, Dad. Das müssen wir nicht. Bitte, vergiss es. Ich weiß nicht, wer die sind, Dad, okay?“
“Warum tun die das?“, fragt sein Vater nochmal.
“Ich sagte ich weiß es nicht. Kann ich bitte meine Hausaufgaben machen?“ Tylers Stimme wird lauter und er wirkt genervt.
“Ja.“, antwortet sein Vater zögernd und geht. Ich setze mir die Kopfhörer wieder auf und lausche Hannahs Stimme. “Willkommen zu deiner Geschichte, Tyler Down. Sags mir. Wann hat alles angefangen? Wie lange hast du mich beobachtet Tyler? Ich hatte mir zuerst überhaupt nichts dabei gedacht. Es war wohl das Knacken eines Astes im Wind. Aber das Geräusch folgte mir. Ich konnte mich vor Angst nicht bewegen. Ich konnte nicht mal die Vorhänge schließen. Ich habe in der Nacht nicht viel geschlafen. Das solltest du wissen, aber naja, die Bilder, die du von mir geschossen hast sind nicht der Grund warum du auf dieser Kassette gelandet bist, nicht wahr? Wir sprechen hier über ein ganz besonderes Bild.“

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