Immer auf die nächsten schlechten Nachrichten vorbereitet sein

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Eigentlich sollte ich Justin aufwecken und ihn anschreien. Ihm sagen, wie idiotisch ich es finde, dass er in diesem Haus das gute Kind ist, obwohl er wahrscheinlich immer noch drogenabhängig ist. Stattdessen starre ich ihn so lange an bis er von selbst aufwacht. Ich merke, dass er sich leicht erschreckt, als er merkt, dass ich ihn beobachte. Doch ich bewege mich nicht eine Sekunde lang. "Was? Abby, was ist los?", fragt Justin besorgt. Er denkt vermutlich, dass es was mit dem Mord zu tun hat, dass ich ihn so anschaue. Für diesen einen Augenblick ist mir der Fall jedoch völlig egal. Auch die Tatsache, dass ich vielleicht ins Gefängnis kommen könnte. Justin hat mich angelogen. Und ich hasse Lügen. "Weiß nicht. Sag du es mir.", sage ich und hole die Packung Pillen hinter meinem Rücken hervor, die ich gestern Abend in Justins Tasche gefunden habe. Justin setzt sich auf und schluckt. Damit hat er wohl nicht gerechnet.
"Hast du meine scheiß Sachen durchsucht?", fragt er wütend.
"Überspringen wir doch, dass du dich aufregst und kommen direkt zu dem Punkt, an dem du mir erklärst, wie du an Oxy kommst, auf dem Bryces Name drauf steht.", entgegne ich ebenso sauer.
"Fuck. Okay, hör mal, Abby."
"Nimmst du wieder was?", unterbreche ich ihn.
"Nein.", meint Justin.
"Ich glaub dir nicht.", sage ich und lache verächtlich auf.
"Ich nehme nichts. Ich schwö- scheiße, Abby. Ich schwöre-"
"Du hast mir gesagt, dass du Bryce zum letzten Mal am Ende des Sommers gesehen hättest. Diese Pillen wurden vor über einem Monat gekauft. Ihr zwei hattet Kontakt.", unterbreche ich ihn wieder. So wütend war ich schon lange nicht mehr. "Er hat sie dir verkauft. Ist doch so."
"So ist es nicht gewesen.", erklärt Justin und greift nach seinem Shirt, das auf dem Boden liegt.
"Dann erklär mir, woher du das Zeug hast.", befehle ich laut.
"Aus dem Chattamhaus. Bei der Trauerfeier für Bryce.", erzählt Justin. Verdutzt sehe ich ihn an.
"Lüg mich nicht an, man.", stelle ich klar.
"Das tue ich nicht. Du hast mich doch gesehen. Oben im Flur, weißt du noch? Ich meinte doch zu dir, dass ich auf der Suche nach dem Badezimmer bin. Und ich hatte gerade erst das Zeug in seinem Bad gefunden. Deshalb war ich da so komisch, aber ich... Ich... Glaub mir, es war nur dieses eine Mal."
Fassungslos schaue ich in Justins Gesicht. Nicht nur dass er gelogen hat, er ist immer noch nicht clean, nach allem, was ich mit ihm durchgemacht habe. Ich dachte, mittlerweile wären wir wie Geschwister, aber das sind wir wohl nicht. Es läuft immer noch alles wie vor dem Prozess. Wir drehen uns immer wieder im Kreis.
"Es lag einfach nur an diesem Tag. Bryce war tot und ich war total fertig und dann hab ich einfach einen Ort zum Chillen gesucht und plötzlich war ich in Bryces Zimmer. Und da bin ich echt durchgedreht. Ich hab mich auf einmal so leer gefühlt und war so verwirrt. Einfach allein.", teilt Justin mir mit und sieht mich dabei an wie ein Welpe im Regen.
"Es war nur das eine Mal?", hake ich vorsichtig nach.
"Ja. Ich hab scheiße gebaut. Es tut mir leid, Abby. Es tut mir wirklich leid. Aber sag bitte deinen Eltern nichts davon.", bittet mich Justin. Ein Teil von mir möchte ihm glauben. Ein anderer Teil von mir tut es nicht so richtig. Wenn man mit einem Süchtigen zusammen lebt, weiß man nie wirklich, was man glauben kann und was nicht. Man rechnet immer mit schlechten Nachrichten. Und dann werden die schlechten Nachrichten noch schlechter. Und es fühlt sich so an, als wäre die ganze Welt gegen einen.

Als Justin und ich die Küche betreten, sitzt Dennis mit meinem Vater und Tante Polly am Tisch. Niemand von ihnen sieht besonders fröhlich aus. Es herrscht eine bedrückende Stimmung. "Was ist passiert?", frage ich sofort, da ich Schlimmes ahne.
"Abby, Schatz. Setz dich doch.", meint Tante Polly und deutet auf den Stuhl.
"Danke, ich verzichte.", entgegne ich und schlucke den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hat.
"Die Polizei hat heute morgen eine Pressekonferenz abgehalten. Dabei hat der Sheriff dich offiziell als Person von Interesse vorgestellt.", erklärt Dennis mir.
"Was? In einer Pressekonferenz?", frage ich ungläubig.
"Was soll das bedeuten, eine Person von Interesse? Was soll das denn sein? ", wirft Justin fragend ein.
"Rufmord ist der geläufige Ausdruck dafür.", antwortet mein Vater sichtlich wütend auf die Polizei.
"Es ist reine Taktik.", fügt mein Anwalt hinzu.
"Juristisch bedeutet es nichts.", versucht Tante Polly mich zu beruhigen.
"So fühlt es sich aber nicht an, sondern als würden sie mich gleich verhaften.", entgegne ich und verschränke die Arme vor der Brust. Wo waren diese polizeilichen Maßnahmen, als Bryce die ganzen Mädchen vergewaltigt hat?
"Das können sie nicht. Dafür fehlen ihnen die Beweise. Also versuchen sie dich unter Druck zu setzen. Sie können nichts finden, was dich als Täter bestätigt, aber wollen dir damit Angst machen.", fährt Dennis fort.
"Das haben sie geschafft.", gestehe ich kleinlaut.
"Vielleicht wär es gut, wenn ihr die Schule heute ausfallen lasst.", meint mein Vater und blickt mich an. Sofort schüttel ich den Kopf.
"Nein.", sage ich. "Auf keinen Fall. Machen wir nicht." Ohne noch auf eine Antwort zu warten, mache ich mich auf den Weg in den Flur.
"Abby...", ruft Justin. Genervt drehe ich mich zu ihm um.
"Du kannst ja hier bleiben."
"Nein, ich komme mit. Ich steh zu dir. So wie immer.", entgegnet er mir. Dabei sieht er mich so ehrlich an, dass ich ihm nicht böse sein kann. Egal wie sehr ich es möchte. Seufzend lasse ich die Schultern sinken. "Lass uns unterwegs einen Kaffee holen und reden."

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