Das kleine Mädchen

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Hannah so zu sehen, war unwirklich. Das Einzige, was einen erwachsenen Mann in die Knie zwingen konnte. Ich fühlte mich privilegiert. Privilegiert, dass dieses zerbrechliche kleine Wesen, mir vertrauen würde bevor es irgendjemand anderen vertraut. Und dass ich den Rest meines Lebens Zeit hätte sie kennenzulernen.

Niemand weiß, dass ich die Kassetten veröffentlicht habe, denn ich habe sie anonym verschickt. Aber es ist nur eine Frage der Zeit bis die Leute es herausfinden, besonders, da ich eine Tante als Anwältin habe, dessen Kanzlei die Schule in diesem Fall unterstützt. Ich werde mit Nachrichten von Alex und Sheri bombardiert, aber ich ignoriere es. “Heute wird es so richtig scheiße.“, sagt Justin, als er in mein Zimmer kommt. Müde sehe ich ihn an. “Meinst du wegen der...“, beginne ich und ignoriere die Tatsache, dass er einfach in mein Zimmer spaziert ist ohne anzuklopfen.
“Es ist wie der erste Schultag oder sowas. Nur in einem anderen, verschobenen Universum. Ich bin der Mittelpunkt.“ Ich nicke.
“Ja, das ist echt krass.“

Hannah war so ein Mensch, der andere dazu inspirierte besser zu werden. Die Art von Mensch, die jeden berührt, dem sie begegnet.

In der Schule werden wir von jedem angestarrt. Ich weiß nur nicht, ob es wegen Justin oder mir ist. Vermutlich liegt es an beidem. “Hey, ist doch seltsam oder?“, fragt Justin mich bevor wir das Gebäude betreten. “Ehm... ja.“, sage ich und Justin öffnet die Tür. Er deutet an, dass ich zuerst eintreten soll, was ich auch tue. “Das ist doch wegen mir, oder nicht?“, fragt Justin, als uns alle ansehen.
“Ja, ist es wohl.“, sage ich nervös und gehe den Gang entlang. Doch schnell merke ich, dass es nicht wegen Justin ist.
“Ich sag nicht, ich hab es gleich gesagt, aber haben wir das vielleicht nicht ganz durchdacht?“, sagt Hannah in meinem Kopf. “Ich bin neugierig. Was passiert jetzt mit Jessica? Oder Alex, oder Justin oder dir?“ Dummerweise habe ich das wirklich nicht zu Ende gedacht. Ich habe nur daran gedacht, dass endlich die Wahrheit rauskommt, aber nicht daran, dass ich gleichzeitig meine Freunde verrate.
“Abby, hast du meine Nachrichten nicht gekriegt?“, fragt Sheri, als sie auf mich zukommt.
“Mein Handy ist wohl stumm gestellt.“, lüge ich, doch dann klingelt es einfach. Ertappt greife ich danach und gehe ran. “Sorry, sage ich und entferne mich von Justin und Sheri, um mit meinem Vater zu telefonieren. Als ich ihm sage, dass alles in Ordnung ist und dann auflege, sehen Sheri und Justin mich an. “Johnson, hast du davon gewusst?“, fragt Justin mich aufgebracht. “Ich...ja. Ich meine, ich schätze ich habe es wohl gewusst.“, stammel ich vor mich hin. “Hör zu, ich muss los.“, sage ich und gehe. Justin ruft mir nach, aber ich ignoriere ihn.

Sie hat immer das Beste in Menschen gesehen. Selbst, wenn die es nicht sehen konnten. Aber als sie die Liberty High betreten hat, war sie nicht das Mädchen, das ihre Mitschüler in ihr gesehen haben. Wenn sie Hannah ansahen, haben sie nur gesehen, was sie sehen wollten. Sie stellten Vermutungen an, streuten Gerüchte. Wenn ich mir vorstelle, wie das für sie gewesen sein muss, wie alle sie anstarren. Selbst wenn Hannah ihren Mitschülern nicht trauen konnte, hätte doch die Schule etwas unternehmen müssen. Zumal wir sie gezielt wegen ihres Schwerpunkts ausgesucht hatten, nämlich Sicherheit und Unterstützung.

Den ganzen Tag gehe ich den anderen aus dem Weg, weil ich Angst habe, was passiert, wenn sie mich sehen. Sie werden mich hassen. Außerdem gehe ich Bryce aus dem Weg. Wenn er herausfindet, dass ich sein Geständnis veröffentlicht habe, bringt er mich um. Zum Glück sind die Sportler heute mit dem Baseballspiel beschäftigt, genau wie der Rest der Schule. Also schwänze ich und verbringe den ganzen Tag damit herumzufahren. Zumindest so lange bis Alex mir eine Nachricht schickt, dass Justin Drogen genommen hat und er ihn bewusstlos in meinem Zimmer gefunden hat. Also stürme ich in mein Zimmer und sehe die beiden an. Justin sitzt auf dem Boden während Alex auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch sitzt. “Was ist denn hier passiert?“, frage ich.
“Er hat sich 'nen Schuss gesetzt und wäre dann fast an seiner eigenen Kotze erstickt.“ Aufgebracht sehe ich Justin an.
“Scheiße, was ist los mit dir, Justin? Du warst doch gerade erst clean.“
“Hey, lass ihn in Ruhe, okay?“,sagt Alex und sieht mich an.
“Was, jetzt verteidigst du ihn?“, frage ich überrascht.
“Ja, was sollte der Scheiß mit den Kassetten, Abby? Hast du 'ne Ahnung,was du Jessica angetan hast?“, fragt er mich sauer.
“Ja, ich wollte Gerechtigkeit für Hannah.“, erkläre ich. “Und es tut mir leid,wenn das Jessica verletzt hat, aber es wird Zeit, dass endlich alles rauskommt.“
“Scheiße, was gibt dir das Recht zu entscheiden, was rauskommt und was nicht?“, meldet sich Justin sauer zu Wort.
“Hör zu, ich habe alles getan, was ich konnte. Alles, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Aber ich kann es nicht allein, okay?“ Ich sehe beide Jungs eindringlich an. “Das mit den Kassetten tut mir leid, aber es wird erstmal schlimmer bevor es besser wird. Und ich brauche euch.“

Die Schule ist verantwortlich. Die Schule. Die Kinder sind in Ihrer Obhut. Wenn Sie wissen, dass etwas nicht stimmt, sollten Sie aktiv werden. Diese Kids machen so viel durch und die Eltern ahnen nichts. Eltern wissen nicht, was in der Schule vorgeht. Unsere Möglichkeiten anderen Menschen zu helfen sind begrenzt, egal wie sehr wir uns wünschen, dass es nicht so wäre. Es vergeht kein Tag in diesem Prozess, in all den Monaten, an dem ich mir nicht wünschen würde, dass ich sie hätte in den Arm nehmen können und ihr sagen, dass alles gut wird. Aber diese Chance hatte ich nie.

“Wieso hast du uns nie gesagt, dass er Drogen nimmt?“, fragt mich mein Vater streng.
“Es ging ihm besser, okay? Und außerdem wusste ich noch nichts von den Drogen, als ich ihn hier hergebracht habe.“, erkläre ich ihm. “Sollen wir das Jugendamt rufen?“ Entsetzt sehe ich ihn an.
“Nein, Dad.“, sage ich.
“Wenn wir das machen, wird er unter Obhut gestellt und wird dann nicht aussagen.“, widerspricht Tante Polly. “Oh, nur darum geht es uns?“, fragt mein Vater.
“Nein, mir geht es darum, dass er in Sicherheit ist, was schwierig ist, weil beide gegen uns kämpfen.“ Frustriert fahre ich mir über's Gesicht.
“Wann kämpfe ich gegen euch?“, frage ich verwirrt.
“Ich wurde angerufen, Abby. Die Audiodateien hatten ein Wasserzeichen. Du hast sie von meinem Computer gestohlen.“, beginnt Tante Polly streng.
“Du hast gesagt, du arbeitest nicht an dem Fall.“, sage ich sauer.
“Das ist keine Entschuldigung.“ Engeistert sehe ich sie an.
“Du hast Sonya was erzählt. Über Zachs Nachrichten an Hannah und deshalb wusste sie alles.“, sage ich. Mein Vater sieht seine Schwester überrascht an.
“Ist das wahr?“, fragt er sie.
“Sie ist eine Kollegin. Ich habe ihr eine Richtung aufgezeigt. Das ist wohl kaum das selbe.“, versucht sie sich zu verteidigen.
“Es ist schlimmer!“, sage ich aufgebracht.
“Du hast meinen Job gefährdet! Meine Lizenz, unser Lebensunterhalt!“, fängt sie an mich anzuschreien.
“Du ruinierst mein Leben! Du wohnst nicht mal mehr hier! Du bist nicht meine Mutter!“, schreie ich sie auch an.
“Oh man, ihr klingt wie Kinder!“, sagt mein Vater laut. “Und es ist nur ein Kind hier.“ Tante Polly sieht ihren Bruder entgeistert an.
“Was soll das denn bitte heißen?“, fragt sie.
“Abby braucht uns jetzt, als ihre Familie.“, sagt er.
“Ich brauche gar nichts von euch.“, widerspreche ich spöttisch.
“Abigail, geh in dein Zimmer.“, sagt mein Vater streng ohne mich anzusehen.
“Was?“, frage ich verwirrt. “Wo ist das jetzt fair?“
“Geh in dein verdammtes Zimmer.“ Diesmal sieht er mich an. “Sofort.“ Aufgebracht stehe ich auf und begebe mich aus der Küche. “Diese Familie wird nicht zerstört. Nicht für irgendeinen Fall, nicht für ein Kind anderer Eltern, nicht für Drogen.“, höre ich meinen Vater schimpfen. Justin sitzt niedergeschlagen auf der Treppe und sieht mich an. Ohne etwas zu sagen, stampfe ich die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Wie kann man etwas reparieren, wenn man nicht weiß, dass es kaputt ist. Hannah hat es uns nicht gesagt.

Wütend reiße ich die Tür auf und knalle sie dann zu. Ich bin wütend auf Justin, wütend auf Hannah, wütend auf meinen Dad, wütend auf meine Tante Polly. Wütend auf einfach jeden in dieser Welt. Zu meinem Bedauern sitzt Hannah auf meinem Stuhl und sieht mich an. Wütend schaue ich sie an. “Nein.“, sage ich. “Du redest nicht. Du hast nichts mehr zu reden.“ Hannah sieht mich mit offenem Mund an. “Das ist deine verdammte Schuld, Hannah. Du hast mit dem Scheiß angefangen. Ich habe die Kassetten veröffentlicht und das war dumm. Aber du hast sie gemacht. Du hast den Leuten das Leben versaut!“, schütte ich mein Herz aus.
“Ich weiß. Tut mir leid.“, sagt sie.
“Ach ja?“, frage ich sauer. “Tut's dir leid? Das hilft dann leider nur ein Scheiß, denn du bist tot! Du hast dich umgebracht und das war dir Scheiß egal!“ Hannah sieht mich weinerlich an.
“War es nicht!“, sagt sie.
“Doch, war es, sonst hättest du es nicht getan.“, widerspreche ich ihr. “Ich habe gelitten. Hab nicht nachgedacht, wem ich weh tue.“, erklärt sie.
“Du hast etwas Böses getan.“, sage ich. “Verschwinde einfach.“

13 Reasons WhyWhere stories live. Discover now