Kassette 2, Seite A

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“Ihr kennt doch bestimmt den Butterfly Effekt, oder? Dass wenn ein Schmetterling seine Flügel genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zusammenschlägt, er einen Hurricane in Tausend Meilen Entfernung auslösen kann. Das ist die Chaos Theorie. Aber seht ihr, bei der Chaos Theorie geht es nicht wirklich ums Chaos. Es geht darum wie ein kleiner Teil in einem großen System alles beeinflussen kann. Chaos Theorie. Hört sich dramatisch an, aber das ist es nicht. Fragt einen Mathematiker. Oder besser noch, fragt jemanden, der schon mal in einem Hurricane war.“
An der Wand des Schulgebäudes klebt ein neues Plakat. Es ist ein Bild aus Pastellkreide, auf dem mehrere Gesichter zu sehen sind. Unten steht Du bist nicht allein und ich frage mich, ob die Person, die das gemalt hat wirklich so denkt oder, ob es nur der Plan der Schule ist, dass nie wieder ein Selbstmord von einem Schüler der Liberty High begangen wird. “Willst du helfen?“ Langsam drehe ich mich um und blicke in das Gesicht von Marcus. In seiner Hand hält er ein Plakat, das zusammengerollt ist.
“Wie jetzt helfen?“, frage ich verwirrt.
“Ob du helfen willst. Beim Poster Aufhängen.“ Marcus rollt stolz das Plakat aus und zeigt es mir. Auf dem Plakat ist ein Junge mit Kapuzenpulli abgebildet. Er hockt auf dem Boden und sieht bedrückt aus. Du willst dich besser fühlen? So geht's. Ich schüttele den Kopf und verneine.
“Komm zeig Schulgeist, ja? Leiste einen Beitrag. Gib was zurück.“, sagt Marcus voller Elan.
“Wem soll ich, was genau zurückgeben?“, frage ich und gehe die Stufen hinunter. Marcus läuft neben mir her, doch mein Blick bleibt an den Instrumenten hängen.
“Warum spielen die hier auf dem Schulhof?“, frage ich leicht irritiert. “Ja, die haben den Schülerrat gefragt, ob es nicht eine großartige Idee ist, sie haben heute Nacht ein Konzert. Tja, Manche brauchen Aufmunterung.“, sagt Marcus und lacht leicht. “Alex Standall, du hast den Hurricane verursacht. Jetzt bist du dran. Ich hatte keine Ahnung, dass du mein Leben für immer scheiße machen würdest. Ich hatte keine Ahnung, dass du mein Hurricane sein würdest.“ Ich beobachte, wie Alex zu den Anderen aus der Band geht und sich mit ihnen unterhält. “Vielleicht haltet ihr mich jetzt für albern. Für ein dummes Mädchen, das sich total über Kleinigkeiten aufregt. Aber kleine Dinge zählen auch. Zum Beispiel hast du mir nie erzählt, wann du angefangen hast Jessica zu daten. Aber ich erinnere mich, wie es zu Ende ging. Mit deiner Liste.“
Alex legt nach ein paar Sekunden seine Gitarre ab und geht. Ich komme ihm entgegen und sehe ihn an.
“Ist Gloomy Sunday echt ein Song?“, frage ich dümmlich, um ein Gespräch anzufangen. Er will den Song spielen, doch die Band findet er würde deprimierend klingen und wäre schön, wenn man selbstmordgefährdet ist. Dummerweise sollte man das nicht sagen, wenn gerade jemand Suizid begangen hat.
“Ja, google doch einfach ungarischer Selbstmord Song.“, antwortet Alex und entlockt mir ein kleines Lachen. Ich setze mich mit ihm an einen der Tische draußen.
“Ich nehm dich beim Wort.“, lache ich. “Alex. Können wir...“, beginne ich dann etwas ernster. Ich öffne meinen Rucksack und deute auf den Walkman. “Darüber reden?“, beende ich dann meinen Satz.
“Was gibt's denn da zu bereden?“, fragt Alex etwas genervt.
“Erzählt Hannah die Wahrheit?“, frage ich nach.
“Was denkst du denn?“, stellt Alex mir die Gegenfrage.
“Hast du getan,was sie da erzählt?“
“Hast du?“ Genervt rolle ich mit den Augen. Die Tatsache, dass ich noch nicht so weit bin, verschweige ich. “Alex! 'Take the A Train', mit deinem Solo.“, sagt ein Mädchen aus der Band und lächelt aufmunternd.
“Alles klar, naja. Ich schätze wenn ich schon glücklich bin dann mach ich das auch vielleicht gleich mit dem Duke.“ Alex steht auf und geht zu der Band, um zu proben. “Alex, wir haben nicht mehr miteinander gesprochen seit du mit Jessica zusammen gekommen bist. Und dann schien es so als wärt ihr plötzlich nicht mehr zusammen. Ist es das weshalb du es getan hast, Alex?“

Ich beobachte, wie Courtney Blumen und Kerzen auf einem Tisch im Flur anrichtet. Es ist eine Art Denkmal für Hannah, damit sich jeder an sie erinnert. Blöderweise brauche ich dafür kein Denkmal. Ich höre jeden Tag ihre Stimme. Langsam gehe ich auf den Tisch zu und komme neben Tyler zum Stehen. Er macht ein Foto davon und das Geräusch des Auslösers lässt Courtney herumfahren. “Echt jetzt, Tyler?“, fragt sie.
“Wenn du 'ne Gedenkveranstaltung machst, dann macht er auch Fotos.“, versuche ich ihn zu verteidigen und ernte dafür ein Lächeln von Tyler. Er geht um den Tisch herum und knippst Bilder während ich Hannahs Foto betrachte.
“Mrs Baker!“, begrüßt Courtney sie freundlich. Hannahs Mutter kommt verwirrt auf uns zu. “Ich bin Courtney Crimsen.“ Mrs Baker bleibt vor dem Tisch stehen und betrachtet ihn. Ich hingegen versuche mich etwas hinter Tyler zu verstecken, damit sie mich nicht sieht. “Mein herzliches Beileid. Ich hoffe es gefällt Ihnen. Schüler machen alle mit. Jeden Tag kommen neue Karten und Blumen.“ Der Blick von Hannahs Mutter bleibt an den weißen Rosen hängen.
“All diese Menschen waren Hannahs Freunde?“, fragt Mrs Baker. Courtney nickt.
“Sie hatte sehr viele Freunde.“ Tyler und ich wechseln vorsichtig Blicke. Courtney log. Doch möglicherweise war es nicht schlecht das zu sagen. Zumindest vor Hannahs Mutter. “Wir alle vermissen sie sehr.“, seufzt Courtney.
“Jeder der sie wirklich kannte wüsste, dass sie Rosen hasste. Sie waren für sie zu sehr Klischee.“, sagt Mrs Baker schnippisch und geht. Ich verkneife mir ein Lachen, als ich Courtneys Gesichtsausdruck sehe. Sie blickt Tyler und mich finster an, also verschwinden wir schnell. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie die Rosen wegpackt.

13 Reasons WhyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt