Das zweite Polaroid

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Mein Leben lang hat mein Vater gesagt, die Leute würden über mich urteilen. Die Leute würden annehmen, sie wüssten wer ich bin, wenn sie mich nur ansehen. Und dass ich schlechtere Karten habe als andere. Wenn du damit konfrontiert bist, wenn du machtlos bist, Außen stehst, dann musst du schwere Entscheidungen treffen. Es ist einfach, sich zu verstecken. Dem Schmerz nachzugeben. Zu glauben, dass ein privilegiertes Leben und Ansehen nur etwas für andere Menschen sind

"Justin.", versuche ich meinen neuen Mitbewohner aufzuwecken. Aber er schläft weiter. Sogar als ich seine Schulter berühre und an ihm rüttel, passiert nichts. Kein Murren, kein Abby lass mich in Ruhe, kein Fick dich, Abby , was er normalerweise sehr gerne sagt, wie ich festgestellt habe. Absolut keine Reaktion. Nur sein leises Schnarchen zeigt mir, dass er noch lebt. "Justin, komm schon. Wir müssen dich zu Mrs Baker und den Anwälten bringen, bevor die Verhandlung beginnt." Endlich rührt sich Justin und murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Er will nicht aufstehen, was ich irgendwie verstehen kann. Auf einem Karton zu übernachten ist sicher nicht so schön gewesen. Mein Sofa hingegen ist wie ein Boxspringbett. Zumindest für ihn. "Justin, steh auf!", sage ich lauter und rüttel weiter an ihm. Genervt rollt er sich auf die Seite und denkt gar nicht daran aufzustehen.
"Ich glaub, er hat es nicht verstanden.", merkt Hannah in meinem Kopf an.
"Das ist widerlich. Er stinkt.", antworte ich ihr angewidert.
"Die Kleider stinken. Er lebt auf der Straße, seit fünf Monaten." Als ich dachte, ich würde keine Halluzinationen bekommen, hatte ich mich geirrt. Hannah sitzt neben Justin und er merkt es nicht mal, denn er kann sie nicht sehen. Sie existiert nur in meinem Kopf. Genervt nehme ich seine Sachen, die er gestern gegen ein Shirt und eine Hose von meinem Vater getauscht hat und laufe in den Waschkeller, um sie in die Waschmaschine zu stecken. Dabei fällt mir versehentlich ein blaues Bandana runter. Als ich mich bücke, um es aufzuheben, fällt mir auf, dass etwas darin eingewickelt ist. Bevor ich es auch zu der restlichen Wäsche packe, schaue ich nach, was es ist und erschrecke, als ich eine Spritze entdecke.
"Du bist ja früh wach.", lacht mein Vater. Schnell verstecke ich die Sachen und sehe ihn an.
"Hi, eh Wäsche.", stammel ich vor mich hin. Verwirrt betrachtet mein Vater die Sachen.
"Das sind aber nicht meine.", stellt er fest.
"Ja, ehm die sind von einem Freund.", antworte ich und verdränge die Tatsache, dass Justin Drogen nimmt. Skeptisch blickt mein Vater mich an. "Wieso hast du Klamotten von einem Freund bei dir?", fragt er mich.
"Weil ehm... Eine verlorene Wette. Jetzt muss ich seine Wäsche waschen.", lüge ich und hoffe, dass er es damit belässt.
"Ich habe gleich ein Morgen-Meeting, aber Tante Polly kommt vorbei, um mit dir zu frühstücken.", erzählt er und ignoriert die Tatsache, dass ich ihn angelogen habe. Entweder ist es ihm egal oder er denkt wirklich, ich habe eine Wette verloren. Vielleicht will er auch einfach nicht wissen, was los ist. Auch gut.
"Wie zu erwarten.", murmel ich vor mich hin und warte bis mein Vater den Raum verlässt ehe ich die Sachen nehme und nach oben ins Bad verschwinde. Ich recherchiere gerade über Drogen, als ich ein Geräusch wahrnehme. Voller Panik öffne ich den Klodeckel und werfe alles hinein, nur um gleich alles runterzuspülen. Noch einmal darf mich niemand mit Drogen erwischen. Diesmal wird mir nämlich keiner glauben. Ich nehme mein Handy wieder in die Hand und rufe Tony an. Es dauert nicht lange bis er rangeht, aber bevor er etwas sagen kann, komme ich ihm zuvor.
"Tony, es war Heroin, ich habe eine Bildersuche gemacht und es kam schwarzes Heroin heraus. Er hatte Heroin." Ich versuche leise zu sprechen, damit mich niemand hört. Vor allem Tante Polly nicht, wenn sie ins Haus kommt. Eins steht fest, er kann nicht vor Gericht, wenn er Drogen nimmt.

Aber die Wahrheit ist, die Privilegien an sich sind schon eine Falle.

Verwirrt sehe ich zu wie Sheri durch das Fenster in mein Zimmer klettert. Obwohl ich Tony angerufen habe, steht nun sie in meinem Zimmer, was mich im ersten Moment nicht gerade erfreut, denn ihretwegen ist Jeff tot. "Verdammt, was soll das? Was machst du denn hier?", frage ich. Justin ist mittlerweile wach und isst das Frühstück, das ich ihm gemacht habe. Um seine Schultern ist eine Decke, die ich ihm gegeben habe, weil ihm kalt war.
"Naja, Tony meinte, ich soll durchs Fenster klettern sobald dein Vater und deine Tante weg sind. Hab ich es geschrottet?", fragt Sheri unschuldig. "Nein, das mit dem Fenster ist okay, aber wieso schickt er dich?", frage ich etwas unfreundlich nach.
"Er dachte, ich könnte helfen.", antwortet sie.
"Wobei helfen?", meldet sich Justin zu Wort.
"Ich habe was zu Essen dabei. Wie geht's dir?", fragt Sheri an Justin gewandt, der noch nichts von meiner Entdeckung weiß.
"Gut. Was hast du denn für Essen dabei?" Neugierig mustert er ihren Rucksack.
"Wann wird Tony hier sein?", unterbreche ich die beiden.
"Er wird nicht kommen, Abby. Er ist noch auf Bewährung. Das Risiko ist zu groß für ihn wegen der Sache mit Justin." Irritiert blickt Justin uns mit vollem Mund an.
"Was ist mit mir?", fragt er. Seufzend gebe ich nach.
"Okay, also die Sache ist, ich habe deine Klamotten gewaschen und deinen Stoff gefunden und habe ihn runtergespült. Ins Klo. Und Tony meinte, du bist vielleicht süchtig und wir müssten dich entgiften.", erzähle ich schlicht und einfach, doch Justin ist weniger begeistert.
"Scheiße man!", ruft er, was mich zusammenzucken lässt. Schnell legt er den Teller weg und steht auf. "Ich bin raus hier.", sagt er noch und will seine Sachen aufsammeln.
"Naja, erstens sind all deine scheiß Klamotten in der Wäsche und zweitens wohin willst du denn gehen?", frage ich nach und sehe ihn an.
"Hey, wir stehen das gemeinsam durch.", versucht Sheri es und holt alles raus, was sie mitgebracht hat. "Hör zu, Justin. Du willst Jessica helfen, oder? Aber so high kannst du nicht aussagen.", erkläre ich etwas sauer. Justin ignoriert mich, schnappt sich seine Tasche und geht an mir vorbei.
"Justin.", sage ich. Er setzt sich auf mein Bett und zieht sich seine Schuhe an. "Scheiße, was ist mit dir passiert?", frage ich vorsichtig. "Glaubst du Jessica will dich so sehen?" Justin hört auf und scheint nachzudenken. Dann schüttelt er den Kopf.
"Nein.", sagt er schließlich und sieht mich an.
"Ich muss in die Schule.", sage ich seufzend und schnappe mir meinen Rucksack.
"Geh schon. Ich regel das hier. Ich schreibe dir jede Stunde.", sagt Sheri und ich sehe sie fragend an.
"Wieso machst du das, Sheri?" Sheri hört auf in ihrem Rucksack zu kramen und sieht mich an.
"Ich habe in den letzten fünf Monaten versucht wieder einiges gut zu machen. Und jetzt wo ich draußen bin wird mir klar, dass ich dafür eigentlich mein ganzes Leben brauchen werde, also fange ich vielleicht hier damit an." Beeindruckt nicke ich und sehe dann zu Justin, der etwas blass wirkt.
"Ich glaub, ich glaub, ich habe zu viel gefrühstückt.", sagt er und übergibt sich dann einfach auf mein Bett.
"Oh, verdammt, Justin. Das ist mein Bett!", sage ich sauer und ziehe ihn von da weg. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.

13 Reasons WhyWhere stories live. Discover now