Kassette 1, Seite A

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Hannahs Spind ist voller Post-Its, auf denen Nachrichten von Mitschülern geschrieben sind. Wie sehr sie, sie gemocht haben, wie traurig es war, dass sie nicht mehr da war und dass sie hoffen, sie wäre nun an einem besseren Ort. In der Mitte klebt ein Foto von Hannah. Sie lächelt in die Kamera, als wäre alles in Ordnung. Aber das ist es nicht. Es ist eine Woche her seit ihre Eltern sie völlig leblos und Blut überströmt in ihrem Haus gefunden hatten. Sie hatte einen alten Pulli getragen, sich in die volle Wanne gesetzt, sich die Pulsadern aufgeschlitzt und ihr Leben somit beendet. Zurück bleibt ein riesen großes Fragezeichen. Die einzige Frage, die uns allen auf der Zunge brennt: Wieso? Ich drehe meinen Kopf in die Richtung von Hannahs Spind, nur um in ihr lachendes Gesicht zu sehen. Wie kann jemand, der so glücklich aussieht, sich das Leben nehmen? Aufeinmal sehe ich ihr Gesicht nicht mehr. Denn vor dem Spind stehen zwei Mädchen. “Sie war so hübsch.“, sagt das blonde Mädchen und blickt das Foto mitleidig an. Ihre Freundin nickt zustimmend. Sie nimmt ihr Handy aus der Hosentasche und macht schnell ein Selfie vor Hannahs Spind. “Was war das noch?“, fragt die Blondine. “#NieVergessen.“, antwortet ihre Freundin und beginnt auf ihrem Handy rumzutippen. Beide verlassen augenblicklich den Flur, um ihr Selfie auf Twitter zu posten. Entsetzt schüttel ich den Kopf und verfluche die Mädchen innerlich. Sie kannten sie nicht. Und trotzdem tun sie so, als ob es ihnen wirklich leid tut, Hannah verloren zu haben. Meine Beine bewegen sich wie von selbst zu dem Spind mit den Post-Its und bunten Windrädern. Bedrückt lese ich mir die kleinen Zettelchen durch und frage mich: Habe ich sie eigentlich wirklich gekannt? “Hey, was machst du denn da?“, höre ich die Stimme von Justin Foley. Sein Blick ist finster. Die blauen Flecken unter seinen Augen verraten mir, dass er nicht viel geschlafen hat. Genau wie ich. Trotzdem sitzen seine dunklen Haare perfekt wie immer. “Nichts, ich wollte nur-“, beginne ich, doch Justin unterbricht mich. “Suchst du irgendetwas?“ Fragend sehe ich ihn an. “Was soll ich denn suchen?“ Ich bemerke, dass Justin Stoppeln am Kinn hat. Er muss sich auch tagelang nicht rasiert haben. Seine blauen Augen mustern mich. “Sag du es mir.“ Mit verschränkten Armen sehe ich ihn an. “Kennst du überhaupt meinen Namen?“, frage ich leicht säuerlich und ernte ein abwertendes Lachen. “Sicher kenne ich den, Abigail.“ Irritiert sehe ich ihn an. Vielleicht ist es die Tatsache, dass er wirklich meinen Namen kennt, die mich so verwirrt. Vielleicht ist es aber auch sein generelles Auftreten und seine komischen Aussagen. Vermutlich sogar beides. “Hey, es hat geklingelt.“, ruft Mr Porter, unser Vertrauenslehrer. Justin und ich drehen uns zu Mr Porter um, der ungeduldig im Flur steht. “Du bist nicht so unschuldig, Johnson. Mich interessiert nicht, was sie sagt.“, zischt Justin und sieht mich böse an.
“Auf wiedersehen, Justin.“, zicke ich ihn an und geh den Flur entlang zum Unterricht, aber nicht ohne ihn anzurempeln.

Auf Twitter entdecke ich ein Foto von Hannahs Spind mit dem Hashtag #NieVergessen. Fiona aus meinem Geschichtskurs hat es gepostet. Sie denkt nun, sie würde damit Retweets und Likes bekommen, aber von mir bekommt sie nur ein Kopfschütteln. Unter dem Post ist ein weiteres Bild zu sehen. Diesmal das von den Mädchen, die ich vorhin an Hannahs Spind gesehen habe. Frustriert schalte ich mein Handy aus und lege es unauffällig in meine Tasche. Mrs Bradley erklärt uns, dass es wichtig ist zu sagen, was wir denken. Wenn wir Probleme haben, sollen wir mit einem Lehrer oder den Eltern sprechen. Aber was wissen die schon, was auf der Highschool los ist. “Mrs Bradley, können wir mit all dem hier nicht langsam aufhören?“, schaltet sich ein Schüler ein. “Es ist mehr als eine Woche her. Vielleicht sollten wir weiter machen.“ Im Raum breitet sich Gemurmel aus. “Okay, es reicht jetzt.“, versucht Mrs Bradley den Kurs zum Schweigen zu bringen.
“Jetzt mal ehrlich, ich weiß es ist tragisch, aber ich will nicht ständig daran erinnert werden. Das ist doch scheiße!“, macht der Schüler weiter. “Wir werden nie damit fertig sein, Mr Pratters. Es ist sehr wichtig die Zeichen zu erkennen, wenn jemand, der euch nahe steht Hilfe braucht. Das heißt, ziehen sie sich von Freunden und Familie zurück? Verändern sie plötzlich ihr Äußeres?“ Während Mrs Bradley weiter redet, erinnere ich mich daran, wie Hannah sich die Haare geschnitten hatte. Von einem Tag auf den anderen waren sie plötzlich kurz. Wieso habe ich nie gefragt, wieso sie sich hat die Haare schneiden lassen? Als ich meinen Namen höre, schrecke ich auf. Der ganze Kurs sieht mich an, genau wie Mrs Bradley. “Tschuldigung, was?“, frage ich. Im Kurs fangen die Leute an zu kichern. “Wo sind Sie denn gerade?“, fragt Mrs Bradley mich neugierig.
“Ich bin da.“, sage ich und streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht. “Vielleicht passen Sie alle mal ein bisschen besser auf und melden Sie sich auch mal zu Wort.“ Ich nicke langsam und wende meinen Blick von der Lehrerin ab. Stattdessen blicke ich zur offenen Tür und entdecke Mr Porter zusammen mit Hannahs Eltern. Ich hatte mich nie mit Hannah getroffen, trotzdem kenne ich die beiden aus dem kleinen Laden, in dem sie arbeiten. Als sich der Blick von Mrs Baker und meiner treffen, schaue ich schnell weg.

13 Reasons WhyWhere stories live. Discover now