Zwei küssende Mädchen

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Was ist die Wahrheit? Was ist wahr? Ich glaube wir alle haben unsere eigene Wahrheit.

Nun liege ich in meinem Bett und starre Hannah auf dem Sofa in meinem Zimmer an. Dass sie auf einmal hier ist macht mir Angst, da ich befürchte den Verstand zu verlieren. Ich schließe kurz die Augen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich sie nicht mehr. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, doch als ich am nächsten Morgen aufwache, sitzt sie neben mir auf meinem Bett und beobachtet mich. “Abby!“, höre ich von draußen und schaue dann auf die Uhr. Schnell stehe ich auf und gehe zur Tür, um sie zu öffnen. Vor mir steht Tante Polly, was zu erwarten war. “Wie war es gestern beim Gericht?“, fragt sie mich nachdem sie mich gemustert hat.
“Sag du es mir.“, entgegne ich kühl. “Ich war nur dort, um ein paar Akten einzureichen. Was ist mit dir?“ Fragend sieht sie mich an.
“Ich war nur neugierig.“, antworte ich wahrheitsgemäß.
“Abby, ich weiß du hast gesagt, dass du nicht mehr an Hannah denkst und dass dir nichts mehr an ihr liegt, aber ich habe die Befürchtung, dass das nicht stimmt.“ Da ist sie wieder. Die fürsorgliche Tante Polly.
“Ich muss mich jetzt anziehen.“, unterbreche ich ihre Rede und sehe sie an. Tante Polly nickt und geht dann. Ich schließe die Tür und atme aus. “Es ist nichts los?“, fragt Hannah in meinem Kopf. Sie sitzt auf meinem Bett und sieht mich enttäuscht an. “Ich muss in die Schule.“, sage ich und kann nicht fassen, dass ich ihr auch noch antworte.
“Und dir liegt nichts mehr an mir?“ Frustriert sehe ich sie an.
“Ich habe es versucht! Hannah, ich habe alles für dich getan, was ging und nichts hat funktioniert. Gar nichts. Und jetzt bist du zurück und ich kann immer noch nichts tun.“, erkläre ich. Tante Polly wird mich einweisen, wenn sie herausfindet, dass ich Selbstgespräche führe. “Wenn das so ist, wieso bin ich dann hier?“, fragt Hannah. Seufzend drehe ich mich um und nehme das Polaroid in die Hand. “Hannah war nicht die Einzige. Was glaubst du was das heißt?“, fragt Hannah und steht plötzlich neben mir. Nachdenklich schaue ich auf das Foto. “Wer hat dir das gegeben? Und warum jetzt, an dem Tag, an dem mein Prozess angefangen hat?“ Aber ich habe keine Antwort.
“Da gibt es eine Verbindung?“, frage ich verwundert.
“Denkst du nicht?“ Seufzend packe ich es weg. Wieso frage ich jemanden,der in meinen Gedanken existiert.
“Ich denke, ich werde mich jetzt anziehen, zur Schule gehen und versuchen mein Leben zu leben.“

Wir alle verbergen irgendwelche Dinge. Manchmal überleben wir dadurch, dass wir Geheimnisse bewahren. Denn in der Highschool kann dich ein Gerücht, ein Bild oder ein Vorfall für immer brandmarken. Und die Wahrheit spielt überhaupt keine Rolle. Wenn Gerüchte aufkommen, kannst du dagegen vorgehen oder sie ignorieren. Aber aus der Welt sind sie damit nie. Wenn du die Zielscheibe bist, tust du alles, um dich zu schützen. Manchmal versteckst du dich, manchmal wehrst du dich. Je nachdem, was du tun musst. Die Sache ist nämlich die, an der Highschool beobachtet dich jeder. Die ganze Zeit. Du musst vorsichtig sein. Du musst dich schützen so gut du kannst. Und das hab ich getan. Ich habe ein Gerücht über Hannah in die Welt gesetzt und ich bin nicht stolz darauf.

Ich habe beschlossen diesmal nicht zum Gericht zu fahren, wo Courtney heute aussagt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht die Wahrheit sagen wird. Genau wie Tyler. Oder lügt Tyler nicht? Zumindest hat er nicht gelogen, als er gesagt hat, dass ihn jemand zum Schweigen bringen will. Denn ich stehe in einem verwüsteten Computerraum. Tyler sitzt auf einem Stuhl, völlig niedergeschlagen.
“Wer war das?“, frage ich fassungslos. “Jemand, über den ich geredet habe, denke ich. Beim Prozess.“, sagt er leise und spielt an seiner kaputten Kamera herum. “Das passiert, wenn du die Wahrheit sagst.“ Ich schlucke und sehe ihn an.
“Frag ihn.“, sagt Hannah in meinem Kopf. Kann sie nicht gehen?
“Bist du nur hergekommen, um dir mein zerstörtes Leben anzusehen oder...“, beginnt Tyler, aber ich schüttel den Kopf.
“Nein, ich wollte wissen, ob du auch mit Polaroids arbeitest.“ Fragend sehe ich ihn an.
“Ach das ist doch Schnickschnack für Hipster.“ Tyler steht auf und läuft durch den Raum.
“Ich werte das als ein Nein.“, murmel ich und sehe ihn an.
“Das ist doch analoger Retroscheiß. Es gibt keine Negative. Wo ist da der Witz?“ Ich mag Polaroids, aber das gebe ich nicht zu.
“Es lassen sich keine Kopien erstellen?“, frage ich nach.
“Doch du kannst von allem eine Kopie erstellen. Mach einfach ein digitales Foto davon. Aber ja, wenn du ein Abzug haben willst, den du aufheben kannst, mach ein Polaroid.“ Ohne zu zögern hole ich das Polaroid aus meinem Spind aus der Tasche und zeige es Tyler.
“Kennst du die hier?“, frage ich. “Tommy Schuster, Erica, sieht aus wie Charles, ich habe Tommy beim Baseball fotografiert.“, erzählt Tyler. “Sind sie Schüler von hier?“, frage ich nach.
“'Ne Weile her. Sie waren ein paar Klassen über uns.“ Ich nicke. “Kannten sie Scott Reed?“
“Kennen sich diese Höhlenbewohner nicht alle?“, fragt Tyler und entlockt mir ein kleines Lachen. Er hat ja so recht. “Wieso interessiert dich das?“, fügt er hinzu.
“Ich weiß nicht, ob es das tut.“, beichte ich und gehe dann ohne mich zu verabschieden.

Beim Mittagessen treffe ich mich mit Alex und Jessica. Jessica erzählt uns, dass bei ihr auf der Veranda eine Sexpuppe hing, auf der Schlampe stand. Außerdem hatte sie einen Zettel im Spind, der ihr sagte, sie solle schweigen. “Wow, das ist echt total krass.“, kommt es von Alex.
“Ja, irgendjemand macht, dass ich total durchdrehe. Dabei bin ich schon von allein ganz durch den Wind.“ Ich blicke zu Bryce, der mit seinen Freunden an einem Tisch sitzt. Ich kann nicht fassen, dass er immer noch gefeiert wird.
“Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen wie Bryce in einen Sexshop geht.“, gestehe ich und sehe Jessica und Alex an.
“Und was hälst du von Chloe?“, fragt Jessica. Chloe ist die neue Freundin von Bryce, die natürlich denkt, dass Jessica alles erfunden hat.
“Keine Ahnung. Sie belegt gute Kurse, aber sie macht dämliche Sachen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie solche Ideen hat.“, schaltet sich Alex ein.
“Irgendwer muss es doch sein.“ Alex sieht Jessica mitfühlend an.
“Egal wer es ist, es wird aufhören, wenn du morgen die Wahrheit erzählst.“, sagt er zuversichtlich, aber ich bin mir nicht sicher nachdem, was Tyler passiert ist. Statt es ihr zu sagen, schweige ich, um Jessica nicht noch mehr zu verunsichern.
“Wo ist da bitte die Logik?“, fragt Jessica entgeistert.
“Naja, der Betreffene will Bryce schützen. Und wenn du die  Wahrheit erzählst, dann kann er nicht mehr beschützt werden.“,erklärt Alex.
“Ja, ich glaube das klingt total logisch.“, gibt Jessica sarkastisch von sich.
“Ich glaube genau das musst du tun.“, macht Alex weiter.
“Sag mal, ich glaube du kapierst rein gar nichts oder? Jedes Mal, wenn ich ihn angucke ist es so, als würde diese Vergewaltigung wieder passieren. Genau jetzt. Als würde es mein restliches Leben lang wieder passieren.“ Mitfühlend sehe ich Jessica an.
“Vielleicht hört es ja danach auf.“, sagt Alex, aber das hätte er lassen sollen.
“Ich seh schon. Ich muss da allein durch.“, sagt Jessica und steht auf. “Jess, er hat es nicht so gemeint.“, versuche ich es, aber sie geht. Seufzend lasse ich meine Gabel fallen. “Große Klasse.“, murmel ich.
“Ich brauche deine Hilfe.“, sagt Alex plötzlich und sieht mich an. “Ich brauche die Kassetten.“ Entsetzte sehe ich ihn an.
“Alex, ich habe sie nicht mehr.“, lüge ich, aber er glaubt mir nicht.
“Deine Tante hat sie. Ich brauche sie. Ich weiß du bist nicht vorgeladen, aber ich vielleicht bald. Ich muss vorbereitet sein. Ich muss wissen, was auf den Kassetten ist.“ Seufzend lehne ich mich nach vorne.
“Vielleicht solltest du nur das wissen, was Jessica dir erzählt.“, erkläre ich, aber Alex wird sauer.
“Was? Warum müssen mich alle beschützen?“
“Alex, du musst dich beruhigen.“, rede ich auf ihn ein.
“Ach ja? Du musst aufwachen. Du hast gehört, was mit Courtney heute passiert ist und wer weiß, was Jessica morgen tut. Okay,ich darf nicht, ich darf nicht versagen. Nicht schon wieder.“
Courtney hat sich vor Gericht geoutet und zugegeben, dass sie in Hannah verliebt war. Ohne etwas gegessen zu haben nehme ich das Tablet und stehe auf. “Ich muss jetzt los. Wir sehen uns nachher.“, sage ich und verschwinde auch. Das letzte, das er braucht sind die Kassetten.

Es ist nicht immer einfach zu wissen, wie man sich als Freund verhält, aber Hannah wusste es. Und sie war mutig. Statt mich meinen Ängsten zu stellen und mit den Gerüchten aufzuräumen, habe ich Hannah den Kopf hinhalten lassen. Ich hatte Angst davor, was die Leute wohl denken würden, wenn sie wüssten.... Jeder hat etwas, das er verbergen will. Aber das klappt nicht immer. Dieser Prozess, dieser Prozess zwingt viele Leute dazu die Wahrheit zu sagen, denke ich. Ob das gut ist oder schlecht. Die Wahrheit kann befreiend sein. Wenn du sie lässt. Oder die Angst vor der Wahrheit kann dich in deinen Geheimnissen gefangen halten. Und jemand, der ein Geheimnis hat, der dieses Geheimnis unbedingt behalten und im Verborgenen bleiben will, der kann jeden in seinem Umfeld verletzen. Es wird immer der Zeitpunkt kommen, an dem wir gezwungen sind uns dem zu stellen, vor dem wir am meisten Angst haben.

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