27. Corvin

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Überrascht schaute ich auf, als der Schrei ertönte. Dort stand die kleine Hexe, kreidebleich, mit weitaufgerissenen Augen und starrte in meine Richtung. Doch, wie mir augenblicklich klar wurde, nicht auf mich, sondern auf Vanessa. Die kleine, schwarzhaarige Dämonin war mit zwei ihrer Spießgesellen überraschend hier aufgetaucht. Ich hatte noch nicht mal gewusst, dass sie sich auf meinem Territorium befand. Verwundert über die Reaktion von Nelly schaute ich zu Vanessa. Ihr Gesicht spiegelte Überraschung wider, ehe diese einem bösartiges Grinsen wich.

Ich kniff die Augen leicht zusammen und beobachtete, wie die kleine Hexe hastig den Saal verließ und die Vampirin ihr besorgt hinterherrannte. Dieses Verhalten war untypisch für Nelly. Mit meinen Blicken schaute ich zwischen der Saaltür und der schwarzhaarigen Dämonin hin und her. Was wurde hier gespielt?

Ich gab Hektor ein Zeichen, dass er sich um Vanessa kümmern sollte und rannte schnell hinter der kleinen Hexe her. Die Vampirin stand in der Eingangshalle herum und schaute sich unschlüssig um.

„Wo ist sie?" fragte ich sie barsch.

Hilflos zuckte sie die Schultern und trat mir schnell aus dem Weg. Ohne weiter auf sie zu achten, stürmte ich an ihr vorbei. Doch wo lang sollte ich? Wo war die kleine Hexe nur hingerannt?

Abrupt blieb ich vor den ersten Stufen der Treppe zum linken Flügel stehen und schloss die Augen. Warum sinnlos suchen, wenn es auch schneller und effektiver ging? Wieder einmal nutzte ich die Verbindung zu Nelly und betrat ihre Gedanken. Ich wurde sofort mit Leid, Tod, Angst, Schmerz, Hass, Trauer und so vielen anderen Gefühlen überschwemmt, dass es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, ehe ich ihren Aufenthaltsort gefunden hatte. Da sie die Einsamkeit suchte, war der Ort keine große Überraschung für mich. Schnell wand ich mich von der Treppe ab und betrat den Flur zum linken Flügel.

Als die Bibliothekstür endlich in Sicht kam, durchflutete mich Erleichterung und unbewusst beschleunigte ich meine Schritte noch etwas. Ich wollte zu ihr, sie in meine Arme nehmen, sie halten und trösten, bis alle negativen Gefühle von ihr gewichen waren. Ich wollte sie fröhlich machen!

Leise öffnete ich eine der Flügeltüren zu dem rieseigen mit Büchern gefüllten Raum dahinter. Von hier aus konnte ich schon die leisen verzweifelten Schluchzer der kleinen Hexe wahrnehmen und jeder einzelne von ihnen ließ in meinem Brustkorb einen tiefen Schmerz zurück. Es verwirrte mich so etwas zu fühlen. Doch ich schob das Thema vorerst zur Seite und konzentrierte mich auf das wesentliche: Nelly. Später konnte ich mir Gedanken über das andere, unwichtiger Zeug machen, wie zum Beispiel, was diese neuen Empfindungen zu bedeuten hatten.

Schnell hatte ich die kleine Hexe gefunden. Sie war in ihrer Üblichen Lese- beziehungsweise Arbeitsecke und hatte sich in einem der drei Sessel zu einem Ball zusammengerollt.

Ihre roten, feuchten Augen schauten mich abweisend an, als ich nähertrat.

„Verpiss dich verdammter Dämon!" fauchte sie mich an. „Lass mich in Ruhe!"

Ich ignorierte sie einfach und ging weiter auf sie zu.

Sie drückte sich zurück in den Sessel und ihre Augen weiteten sich ängstlich. „Hast du nicht gehört? Du sollst dich verpissen!"

Langsam hockte ich mich vor ihr hin und strich ihr zart über die Wange. Sie zuckte augenblicklich entsetzt zurück und ich ließ meine Hand nutzlos fallen.

„Fass mich nicht an, du ... du Abschaum der Hölle!" schrie sie nun.

„Abschaum der Hölle?" Ich konnte mir ein Schmunzle trotz dieser unangebrachten Situation nicht verkneifen. „Was Besseres fällt dir nicht ein?"

Schneller als ich schauen konnte – und das hieß bei einem Dämon schon einiges –, hatte ich schon eine Ohrfeige kassiert.

Verdutzt rieb ich mir über die leicht prickelnde Stelle. „Wofür war das denn?"

„Verpiss dich einfach!" bekam ich als Antwort zur hören.

Seufzend stand ich auf. Doch statt zu gehen, hob ich die kleine Hexe hoch, setzte mich statt ihrer in den Sessel und platzierte sie seitlich auf meinem Schoß. Sie stieß ein überraschtes Quieken aus und klammerte sich an mein T-Shirt. Sobald wir jedoch saßen, fing sie an wie wild rum zu zappeln und sich aus meinem Griff zu befreien. Ich schloss meine Arme fester um sie und sie merkte schnell, dass es kein Entkommen gab. Stattdessen brach sie erneut in Tränen aus und vergrub ihr Gesicht an meinem Hals.

Schweigend saß ich da, hielt sie fest in meinen Armen und streichelte beruhigend über ihren Rücken, während ihr Körper immer wieder von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Ich fühlte mich dabei so ... hilflos. Das war ein ganz neues Gefühl für mich. Sonst hatte ich immer alles im Griff. Ich war ein verdammter Höllenfürst! Natürlich hatte ich immer alles im Griff – mit Ausnahme dieser Frau! Ich war es nicht gewöhnt, dass ich mich so hilflos fühlte! Fühlte das sich immer so unangenehm an?

***

Die Tränen der kleinen Hexe waren endlich versiegt und die Schluchzer waren weniger geworden.

Daher traute ich mich leise zu fragen: „Was hat sie dir angetan, Kleines?", während ich weiter ihren Rücken streichelte.

Mit rotgeränderten Augen schaute Nelly zu mir auf. In ihrem Gesicht war reiner Schmerz zu sehen und versetzte meinem Herzen einen erneuten schmerzhaften Stich. Sie musste kein Wort sagen, alles was ich wissen musste stand dort und Verursachte in mir eine Welle von überwältigenden Gefühlen.

Ich wollte Vanessa leiden lassen. Ihr unermessliches Schmerzen zufügen. Sie würde betteln, dass ich ihren Qualen ein Ende setzten und sie in die Hölle zurückschicken möge, doch das würde ich nicht, niemals. Nur reiner Willenskraft konnte mich zurückhalten, damit ich nicht gleich zu dieser Schlampe rannte und sie in den Kerker schleppte. Aufgeschoben war jedoch nicht aufgehoben. Sie würde dafür bezahlen, was sie meiner kleinen Hexe angetan hatte.

Aus einem Impuls heraus zog ich Nelly noch näher zu mir heran und vergrub mein Gesicht in ihren wunderbar duftenden Haaren.

„Ich werde sie leiden lassen für alles, was sie dir angetan hat. Das schwöre ich dir." Murmelte ich in ihre mahagonifarbenen Haare. Jedes dieser Worte war ernst gemeint.

Abrupt zog die kleine Hexe ihren Kopf weg und schaute mich überrascht an. „Wieso solltest du das für mich tun? Du weißt ja noch nicht mal, worum es geht."

Ich schaute ihr fest in die silbernen Augen, während ich mit fester Stimme antwortete. „Du gehörst mir. Und ich werde nicht zulassen, dass dich irgendjemand oder irgendwas verletzt oder dich gar mir wegnimmt. Du hast mich verzaubert kleine Hexe. Du hast mich ganz und gar verzaubert!"

Sprachlos starrte sie mich an und erneut wurden ihren Augen feucht.

„Hey kleine Hexe, nicht wieder weinen." Vorsichtig strich ich ihr über die rotgeränderten Augen und beobachtete erstaunt, wie sich eine leichte Röte auf ihre Wangen stahl.

Verlegen lächelte sie mich an. „Du musst wirklich etwas auf den Kopf bekommen haben, als du in der Hölle warst. Warum sonst, bist du auf einmal so nett?"

„Ich hatte nur viel Zeit zum Nachdenken da unten, das ist alles." Ich strich ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht hinter ein Ohr. „Mir ist dort so einiges klar geworden. Besonders, was dich angeht."

„Ach ja?" Die kleine Hexe schaute mich mit leicht schräggelegtem Kopf neugierig an. „Was ist dir denn alles über mich klar geworden?"

Ich lachte leise auf und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Haare. „Neben dem, was ich dir gerade eben gesagt habe? So einiges."

Erneut wurde sie rot und barg den Kopf schnell an meinem Hals. „Dann hast du das eben wirklich ernst gemeint?" Murmelte sie gegen meine Haut.

„Jedes einzelne Wort davon." Kurz schwieg ich und griff dann zögerlich meine ursprüngliche Frage wieder auf. „Was hat dir die Dämonin Vanessa angetan, Kleines? Sag es mir und ich zahl es ihr tausendfach heim."

Sie schaute wieder zu mir auf und in ihren silbernen Augen war eine tiefe Traurigkeit zu sehen. „Für das was geschehen ist, gibt's keine Form der Wiedergutmachung. Selbst die tausendfache Heimzahlung kann das Geschehene nicht erträglicher machen oder gar ändern."

Bittend erwiderte ich ihren Blick. „Gib mir die Chance, das selbst zu beurteilen."

Sie stieß einen langen Seufzer aus, ehe sie leise anfing zu erzählen.

Dämon - Höllisch VerhextWhere stories live. Discover now