Die Energiewelle kam aus der Richtung der Eingangshalle, also lenkte ich meine Schritte dorthin. Kurz, bevor ich mein Ziel erreichte, traf mich eine neue, dieses Mal stärkere, Welle Energie und ein ohrenbetäubendes Brüllen, dass das ganze Anwesen durchdrang. Jetzt dürfte jeder der Bewohner endgültig wach sein. Als endlich wieder Ruhe herrschte, nahm ich die Hände von meinen Ohren und überwand die letzten Meter zur Eingangshalle. Ans Geländer gelehnt schaute ich hinab in den Eingangsbereich. Dort, mitten im Zentrum auf dem weißen Marmorboden, lag eine große schwarze Gestallt in Embryonalstellung mit Flügeln. Sie war umgeben von violettem Feuer und einem abartigen Gestank nach Schwefel. Ich zog die Nase kraus. Verdammt, wie hatte ich diesen Gastank bisher überriechen können. Bäh, das war einfach nur widerlich. Unbewusst hob ich meine rechte Hand und tippte mir an die Nasenspitze. Doch statt gefilterter Luft durchzuckten mich Schmerzen. Ach verdammt, das mit meiner Hexenmagie hatte ich ja komplett vergessen. Naja, dann eben Nase zu und durch.

Ich stieß mich vom Geländer ab und ging zur Treppe. Je weiter ich hinabstieg, so intensiver wurde dieser Höllengeruch. Mit dem Ellenbogen vor Nase und Mund überwand ich die letzten Meter. Jetzt trennten mich weniger als zehn Meter von dem Wesen in der Mitte. Ich legte den Kopf schräg, kniff die Augen etwas zusammen und starrten zu dem Etwas. Es kam mir irgendwie bekannt vor.

Die Gestalt lag auf der Seite. Der Rücken mit den fledermausähnlichen Flügeln war mir zugewandt. Vorsichtig nährte ich mich dem Wesen. Eine Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass ich eigentlich Angst haben müsste, doch ich spürte rein Garnichts. Ich wusste nur instinktiv, dass ich helfen musste. In einem Abstand von einem Meter fing ich an die Gestalt zu umrunden. Als das Gesicht erkennbar wurde, stockte ich kurz. Die Knochenzüge waren ausgeprägter als üblich und an der Unterlippe waren die Spitzen von Reiszähnen zu sehen, aber sonst gab es kein Zweifel, dass es Corvin war - Corvin in seiner ursprünglichen Gestalt.

In der hintersten Ecke meines Kopfes fingen die Gefühle an, Radau zu machen. Unbewusst verstärkte ich die Mauer um sie herum. Würden sie freikommen, dann würde es nicht nur bei der Verwüstung meines Wohnzimmers bleiben. Meine Wut war einfach viel zu groß.

Ich hockte mich neben Corvin und überprüfte seinen Atem. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Langsam streckte ich die Hand aus um seinen Puls zu fühlen.

„Stopp! Nicht anfassen!" Ich erstarrte und schaute zu Hektor hinüber. Fragend runzelte ich die Stirn, doch er sprach schon weiter. „Corvin ist nicht er selbst. Berührst du ihn, könnte er dich anfallen und töten."

Schulterzuckend ignorierte ich seine Worte und legte zwei Finger auf die Stelle seines Halses, wo ich seinen Puls vermutete. Ein Herzschlag später, nach dem ich seine kühle, schwarze Haut berührt hatte, lag ich auf den Rücken und ein muskulöser und sehr nackter Corvin ragte bedrohlich über mir auf. Ganz ruhig lag ich unter ihm - die innere Taubheit ließ keine Angst zu - und schaute in seine kohlrabenschwarzen Augen. Nein, Korrektur, sie waren nicht mehr komplett schwarz. Sie schimmerten Blutrot.

Schweigend hielt er meinen Blick gefangen. Schwarzrot gegen hellgrau - Höllenfeuer gegen Mondlicht. Hinter der Mauer fingen meine Gefühle einen riesigen Aufstand an. Doch ich behielt die Kontrolle über sie, obwohl es mir unter dem lodernden Blick des Dämons nicht gerade leicht viel.

Keine Ahnung, wie lange wir so dalagen und uns nur genseitig in die Augen schauten. Jedenfalls schien Hektor die Geduld verloren zu haben. „Herr, vielleicht solltet Ihr..." weiter kam er nicht. Ein tiefes Grollen ließ Corvins Brust vibrieren. Ich konnte es in meinem ganzen Körper spüren. Außerdem breitetet der Dämon über mir seine Flügel so aus, dass sie mich von Hektor abschirmten. Corvins Blick hielt nun auch nicht mehr meinen gefangen sondern fixierten den blonden Dämon mit den Katzenaugen. Eigentlich sollte ich jetzt wirklich in Panik verfallen. Die Betonung liegt bei eigentlich. Stattdessen streckte ich eine Hand aus und legte sie an Corvins Wange. Langsam drehte ich seinen Kopf wieder zu mir. Sobald der Augenkontakt zwischen uns wieder her gestellt wurden ist, ließ das Knurren abrupt nach und Corvin entspannte sich.

„Hektor..." Über mir spannte Corvin seine Muskeln sofort erneut an, sobald der Name meinen Mund verlassen hatte. Beruhigend strich ihm über die Wange. „... du solltest besser gehen." Schweigen. „Verpiss dich sofort!" Schnelle Schritte verrieten, dass meinem Befehl Folge geleistet worden ist.

Ein paar Minuten blieb ich noch ruhig unter Corvin liegen. Als ich sicher war, dass Hektor wirklich weg war, wollte ich mich aufsetzten, doch Corvin bewegte sich keinen Zentimeter. Mit geschlossenen Augen schmiegte er sich in meine Hand und ein zufriedenes Schnurren ertönte. Die Mauer in meinem Inneren bekam Risse. Schnell ließ ich die Hand sinken und versuchte mich erneut aufzusetzen. Sofort riss der dunkle Dämon über mir seine Augen auf und presste mich noch stärker auf den Boden. Er war zu schwer. Ich bekam kaum noch Luft. Mit offenem Mund schnappte ich nach Atem. Sofort erhob Corvin sich. Erleichtert setzte ich mich auf. Doch ehe ich mich versah, hatte er mich schon auf seine Arme gehoben und trug mich fort.

***

Er trug mich hinauf in die zweite Etage und in den verbotenen Teil des Turmes. Ich wehrte mich nicht. Hätte ja sowieso nichts gebracht. Ruhig ließ ich meinen Kopf an seiner Halsbeuge ruhen. Während er mich durch die dunklen Räume trug bis hinauf unter das Dach. Dort legte er mich auf etwas weiches ab - ein Bett? - und schmiegte sich schon kurz darauf an mich. Okay? Was sollte das jetzt werden? Doch er benahm sich. Außer kleine Kreise, die er auf meinen Bauch malte, blieb er lieb und nett.

Mit dem Rücken an die Brust des dunklen Dämons gepresst, wartete ich bis seine Atmung tiefer und gleichmäßiger geworden war. Erst dann wand ich mich vorsichtig aus seinem festen Griff um meine Hüfte und ertastete den Rand unseres Lagers.

Ja, es war ein Bett. Das stellte ich fest, als ich den Rand der Matratze und ein Lattenrost ertastete. Leise stand ich auf, doch die Dunkelheit machte es unmöglich abzuhauen. Wo ein Lichtschalter war, wusste ich nicht. Helles Licht hätte Corvin ehe nur geweckt. Vorsichtig setzte ich ein Schritt vor den anderen. Jedoch hatte das keinen Sinn. Wohin sollte ich denn laufen? Wo war denn die Treppe? Es war einfach zu duster, um auch nur einen Schemen zu erkennen. Mit einem lautlosen Seufzer ließ ich mich auf den Boden gleiten. Zurück ins Bett würde ich auf keinen Fall gehen. Die Berührungen mit Corvin waren die reinste Qual. Sie rissen die Mauer um meine Gefühle immer weiter ein. Schweigend schaute ich auf meine Hände - oder besser auf die Stelle, wo meine Hände in der Dunkelheit sein sollten - und lauschte auf den Atem des Dämons im Bett.

Während die Zeit verging und ich nur so im dunklen Zimmer rumsaß, schweiften meine Gedanken ab. Ich hatte ja nichts Besseres zu tun. Irgendwann blieb ich bei der Situation heute Abend auf der Couch hängen, wo ich meine Magie geübt hatte. Ich war doch so bescheuert! Warum war mir das nicht schon früher eingefallen? Bevor Martin vor einem Jahr gestorben war, war meine Magie für mich alltäglich gewesen. Jede Kleinlichkeit hatte ich mit deren Hilfe erledigt. Nach meinem Koma hatte sich das geändert. Nur wenn es wirklich notwendig geworden war, hatte ich von meiner Magie Gebrauch gemacht und seit ich hier bei Corvin festsaß, so gut wie gar nicht mehr. Was war ich bitteschön für eine Hexe? Ich vergaß einfach mein Hexenerbe! Jetzt war damit aber Schluss!

Kaum war der Gedanke gefasst, glühten meine Hände weiß. Nicht so hell, dass es Corvin wecken würde. Aber so hell, dass ich meine Umgebung wahrnehmen konnte. Ich stand auf und ging auf die Treppe zu. Ohne mich noch einmal umzudrehen, verließ ich das Schlafzimmer.

Dämon - Höllisch VerhextWhere stories live. Discover now