Kassette 7, Seite A

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Um Jessica zu überzeugen auszusagen, treffe ich mich mit ihr im Monet's. “Danke, dass du dir Zeit für mich nimmst.“, sage ich und lege meine Hände um die Tasse.
“Du bist die Einzige, die je ehrlich zu mir sein wollte.“, erzählt Jessica und lächelt leicht.
“Geht's dir... Ich hab mir eigentlich geschworen, dass ich hier nichts Dummes sage, so wie 'geht's dir gut?' oder 'wie geht's dir?' , weil du... naja wie sollte es dir schon gehen, richtig? Aber wie geht's dir?“, stammel ich vor mich hin. Jessica zuckt mit den Schultern.
“Wie sollte es mir schon gehen?“ Ich nicke.
“Willst du mit jemandem reden? Jemanden sehen?“, frage ich.
“Wen?“, stellt Jessica die Gegenfrage. Ich schweige. Dann greife ich in meinen Rucksack und hole den Karton mit den Kassetten raus.
“Ich verbrenne die. Ich zünde sie an und lasse sie brennen bis sie, keine Ahnung, geschmolzenes Plastik oder Asche sind. Es liegt an dir.“ Ich blicke sie an. “Aber wenn du kämpfen willst, wenn du willst, dass er bestraft wird, diese Kassetten helfen als Beweise.“
“Du willst, dass ich der verdammten Welt erzähle, was er mir angetan hat?“, fragt Jessica entsetzt.
“Ich will, dass du das tust, was du willst.“, sage ich. “Was auch immer es für dich leichter macht, wenn es möglich ist. Aber ich werde nicht lügen, ich will, dass er für sein Verbrechen bezahlt.“, erkläre ich seufzend.
“Wird er das wohl? Ich meine... hast du die letzte Kassette angehört? Du weißt, was passiert, wenn Mädchen Hilfe suchen.“
“Ich habe sie mir angehört. Und ich denke, ich werde sie weitergeben, so wie Hannah es wollte.“
“Ich müsste damit zur Polizei. Ich müsste es auch meinem Dad sagen...“, zählt Jessica auf. “Ich denke nicht, dass ich das schaffe.“
“Okay.“, sage ich leise.
“Du denkst ich lasse Hannah im Stich?“
Verwirrt schüttel ich den Kopf.
“Nein. Ich denke wir alle haben das getan. Und sie hat dich im Stich gelassen. Also...“ Vorsichtig packe ich die Schachtel wieder in meinen Rucksack und setze ihn auf. “Danke, dass du mit mir geredet hast. Und ich... lass mich wissen, wenn ich dir irgendwie helfen kann.“ Jessica nickt und ich gehe Richtung Ausgang. “Abby?“, ruft Jessica nochmal. Langsam drehe ich mich um. “Bitte verbrenn sie nicht.“ Lächelnd nicke ich.

“Ein paar Tage nachdem ich Kassette 12 aufgenommen hatte, sah ich Bryce auf dem Schluflur. Und ich dachte, ich könnte mich nie wieder in dieser Schule blicken lassen. Alles war dunkel. Tagelang. Aber dann war da ein kleiner Funken Licht.“

Nach der ganzen Sache bei Jessicas Party, beschloss ich mit Hannah zu reden. Also ging ich in der Schule auf sie zu, um sie anzusprechen. “Ich habe das Gefühl, dass in dieser Gesellschaft die Prioritäten aus dem Gleichgewicht geraten sind.“, sage ich und lache leicht. Ich wollte nicht mehr streiten. Ich brauchte Hannah. Sie war meine Freundin.
“Ja.“, antwortet Hannah und blickt zu den Sportlern, die total von jedem gefeiert wurden. “Abby...“, begann sie, doch dann blicke sie mich an und es kam nichts raus. “Vergiss es. Wir sehen uns später.“ Sie lächelte leicht, schloss ihren Spind und ging. Und sie ließ mich verwirrt zurück.

Mr Porter ist meine letzte Station. Der letzte, mit dem ich sprechen muss bevor ich die Kassetten weitergebe. Ungeduldig warte ich im Sekretariat, doch als ich ihn reinkommen sehe, springe ich sofort auf. “Mr Porter!“, sage ich. Fragend sieht er mich an. “Abigail, alles okay? Ist was passiert?“, fragt er besorgt, aber ich winke ab. “Nein, mir geht es gut.“, antworte ich. “Ich bin suspendiert, aber ich muss reden. Ist das okay?“ Mr Porter nickt. “Ja, sicher. Kommen Sie.“ Ich folge ihm in sein Büro und setze mich. “Worüber wollen Sie mit mir sprechen?“
“Ich bin hier bei Ihnen wegen Hannah Baker.“, fange ich an zu erklären. “Sie hat mich weggestoßen und ich habe darüber nachgedacht, wie verletzt ich war und ich habe nicht mal eine Minute daran gedacht, dass auch sie gelitten hat.“
“Nun, Abigail, was immer Hannah passiert ist, zwischen Ihnen und ihr, und anderen Kids, sie hat entschieden ihr Leben zu beenden.“
“Aber wieso?“, frage ich. “Warum hat sie sich so entschieden?“
“Wir können das nicht mit Sicherheit sagen.“, meint Mr Porter und lehnt sich zurück.
“Was wenn wir es könnten? Was wenn wir unsere Fehler kennen würden?“ Mr Porter stellt eine Schachtel Taschentücher auf den Tisch.
“Wissen Sie, es ist normal die Schuld bei sich zu suchen, aber wir alle wollen immer das beste geben.“
“Das ist doch bescheuert. Ich finde wir sollten uns selbst die Schuld geben. Wir alle können uns verbessern.“, erkläre ich aufgeregt. “Wir können versuchen unser Leben miteinander zu verbessern, aber wir sind nunmal nicht perfekt. Wissen Sie, wir leben nicht perfekt, wir bekommen das nicht immer hin.“, erklärt Mr Porter.
“Wie können Sie bloß damit leben? Sie sind ein Berater.“, meine ich.
“Ich muss damit leben. Man kann alle Zeichen erkennen und die Angelegenheiten verstehen und doch kann man noch etwas verpassen.“ Fassungslos sehe ich ihn an.
“Aber das ist nicht gut genug. Ich meine, was ist mit dem nächsten Kind, das sich umbringen will?“, frage ich.
“Haben Sie das Bedürfnis sich umzubringen?“, stellt Mr Porter die Gegenfrage.
“Nein. Aber... Hannah Baker war am Tag ihres Todes bei Ihnen. Sie sagte Ihnen, was passiert war.“, erzähle ich. “Gut, uh... selbst wenn sie mich besucht haben sollte, das ist nichts worüber ich sprechen dürfte.“
“Wenn ich Ihnen also sage, dass ich mich umbringen werde, dürfen Sie das keinem anderen sagen?“, frage ich provokant.
“Kommen Sie, ja, diese Info ginge an Ihre Eltern. Wissen Sie, ich könnte es den Stellen mitteilen, die medizinische Versorgung zukommen lassen.“
“Und wer wusste bescheid über Hannah?“
“Hannah hat mich nie informiert, dass sie darüber nachgedacht hat sich umzubringen, Abigail.“
“Aber Sie war bei Ihnen.“, betone ich.
“Das habe ich nicht gesagt.“
“Sie war hier. Und sie sagte Ihnen, dass es ihr schlecht geht. Dass ihr nichts im Leben mehr wichtig wäre, dass sie wollte, dass alles aufhört.“
Verwirrt blickt Mr Porter mich an. “Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?“
“Sie hat Ihnen erzählt, wie es so weit gekommen war.“, mache ich einfach weiter. “Sie nannte Ihnen keinen Namen und sie hat das Wort nicht gesagt, aber es war eine Vergewaltigung.“
“Nochmal, ich kann nicht...“
“Ich weiß, es geht nicht. Reden wir über eine hypothetische Schülerin, die hier reinkommt und sagt, sie wurde vergewaltigt, aber sie sagt nicht von wem. Sie kann's nicht.“
“Wenn ein Schüler angegriffen wird, bin ich verpflichtet zur Polizei zu gehen. Aber dazu muss ich genau wissen, was passiert ist und wer beteiligt war.“, erklärt Mr Porter. “Einen Namen?“, frage ich.
“Den Namen.“, antwortet Mr Porter. Ich nicke.
“Bryce Walker.“, sage ich schließlich selbstsicher. Mr Porter wird hellhörig. “Bryce Walker vergewaltigte Hannah.“
“Es kann sehr gefährlich sein, jemanden einer solchen Straftat zu bezichtigen.“
“Ich habe sein Geständnis.“, beichte ich.
“Wie kommen Sie an so ein Geständnis heran?“ Ich zucke mit den Schultern.
“Ich habe ihn gefragt. Ich habe Hannah beim Wort genommen, was Sie hätten auch tun sollen. Ich habe Hannah geglaubt und habe Bryce die Vergewaltigung vorgeworfen. Er hat es zugegeben.“, erzähle ich die Geschichte.
“Okay, halt. Ich denke vielleicht ist hier der Punkt erreicht die Unterhaltung zu beenden.“
“Okay, in Ordnung.“, sage ich seufzend. “Aber würden Sie nicht gerne wissen, was passiert ist nachdem Hannah an diesem Tag Ihr Büro verlassen hat?“ Ich beuge mich etwas vor und sehe Mr Porter in die Augen. “Sie ging raus aus Ihrem Büro. Und sie hat gehofft, dass Sie ihr nachlaufen würden. Aber Sie kamen nicht.“

Ich fand meine Äußerung ziemlich klar, aber niemand tritt vor und stoppt mich. Einige waren bemüht. Niemand war bemüht genug. Nicht mal ich selbst. Es tut mir leid. Also, damit endet Kassette 13. Es gibt nichts mehr zu sagen.“

Ich schaue Mr Porter weiter an. Sein Blick ist etwas ängstlicher, als hätte er Angst davor, was ich als nächstes sage. “Sie haben sie gehen lassen. Wir alle haben sie gehen lassen. Sie ging raus aus der Schule nach Hause und hat ein paar Dinge vorbereitet. Sie hat ihre Arbeitskleidung im Crestmont abgegeben, dort wo ich mit ihr gearbeitet hatte. Sie hat nichts gesagt. Sie hat bloß ihre Uniform abgelegt und ging. Sie hat noch ein Päckchen bei einem Freund vorbeigebracht und ein weiteres brachte sie zur Post. Dann ging sie nach Hause zurück und hat sich ein paar alte Klamotten angezogen. Sie ging ins Badezimmer, ließ sich Wasser ein, öffnete die Box mit Rasierklingen, die sie am Morgen aus dem Laden ihrer Eltern mitgenommen hatte. Sie stieg in die Wanne, mit all ihren Sachen, schlitzte sich auf und verblutete. Und sie starb einsam.“, erzähle ich zu Ende. “Und Sie hätten sie stoppen können. Und ich hätte das auch. Und Justin Foley hätte es gekonnt und mindestens ein dutzend anderer Leute. Aber wir haben's nicht.“ Mr Porter hat angefangen zu weinen während ich alles erzählte. Er nimmt sich ein Taschentuch und wischt sich damit die Tränen weg.
“Das ist ergreifend. Und schmerzvoll. Sich bloß vorzustellen wie Hannahs letzten Tage waren. Nachzuvollziehen, was sie an diesen Punkt getrieben hat. Aber wenn sie entschlossen war ihr Leben zu beenden, hätten wir sie nicht aufhalten können.“ Überraschenderweise weine ich nicht. Meine Tränen sind wohl aufgebraucht.
“Ich kostete sie ihr Leben, weil ich nicht für sie da war, als sie mich brauchte. Ich war ihre Freundin und ich bin einfach gegangen. Ich habe sie nicht geliebt.“, sage ich leise.
“Man kann niemanden zurück ins Leben lieben.“, erklärt Mr Porter. “Aber es versuchen.“, sage ich.
“Abigail, wir wissen nicht, was in ihrem Kopf vorging oder ihrem Herzen. Da ist kein Weg zu erfahren warum sie tat, was sie tat.“
“Eigentlich geht das doch.“, widerspreche ich. Vorsichtig nehme ich den Karton mit den Kassetten aus dem Rucksack und lege ihn auf den Tisch. “Bevor sie starb, hat Hannah genau 13 Gründe für ihren Selbstmord aufgezeichnet. Und Sie sind Nummer 13. Jeder, der vor Ihnen die Kassetten hatte weiß, was Sie getan haben und nicht getan haben. Und das für immer. Und sie kennen Ihre Taten. Sie sind die letzte Person in der Reihe. Und Hannah hat keine Anweisung hinterlassen, was nach Ihnen passiert. Also werden Sie entscheiden. Von mir gibt es eine 14. Kassette. Sie wird Ihnen hoffentlich weiterhelfen bei Ihrer Entscheidung.“
“Woher haben Sie die Kassetten?“, ist Mr Porters einzige Frage.
“Ich bin Nummer 11.“, gestehe ich und stehe auf. “Wir müssen uns bessern. In der Art wie wir miteinander umgehen und Acht geben aufeinander. Das muss irgendwie besser werden.“, sage ich und verlasse das Büro.

Auf dem Weg zum Ausgang komme ich an der Sporthalle vorbei und irgendwie bewegen sich meine Füße wie von selbst dort rein. Beim Reingehen entdecke ich Zach, der alleine ein paar Körbe wirft. “Hey.“, begrüße ich ihn und gehe vorsichtig auf ihn zu. Überrascht blickt er mich an.
“Was machst du hier?“, fragt er und wirft einen weiteren Korb.
“Ich wollte nur...“, beginne ich und bleibe dann stehen.
“Ich wollte nur sagen, dass die Kassetten bei Mr Porter sind. Ich habe sie weitergegeben. Ich weiß nicht, was er damit machen wird, also...“ Zach hört auf zu spielen und sieht mich an. Dann nickt er.
“Okay.“ Verwirrt sehe ich ihn an. “Du... hast kein Problem damit?“, frage ich.
“Nein, mir sind die Kassetten egal. Vielleicht müssen wir ehrlich sein. Vielleicht ist das der einzige Weg,um damit fertig zu werden.“ Erstaunt blicke ich ihn an.
“Hast du 'nen Ratgeber gelesen?“, frage ich und Zach lacht leise.
“Nein, habe ich nicht. Ich schätze Alex hat mich irgendwie drauf gebracht.“ Ich nicke. “Aber cool, dass du mir davon erzählst. Danke.“ Leicht lächle ich ihn an.
“Wir müssen uns alle bessern, Zach. Und ich habe beschlossen heute damit anzufangen.“, erzähle ich.
“Das bedeutet was?“, fragt Zach verwirrt.
“Dass ich gerne, wenn das Angebot noch steht, mit dir reden würde. Über Hannah und einfach über alles.“,sage ich und beiße mir nervös auf die Unterlippe. Auf Zachs Gesicht entseht ein Lächeln und er nickt.
“Aber nur, wenn du mich im Basketball platt machst.“ Er wirft mir den Ball zu, den ich schnell fange. “Fangen kannst du schon mal.“, lacht er.
“Ich spiel eigentlich keine Ballsportarten.“, beichte ich, doch Zach will davon nichts wissen.
“Dann fängst du heute damit an. Du willst doch sowieso neu anfangen.“ Lachend nicke ich.
“Einverstanden.“ Als Zachs Handy vibriert, geht er zu seinen Sachen, die auf der Tribüne liegen und schaut auf sein Handy.
“Das ist Alex,ich ruf ihn eben zurück.“, sagt er und drückt das Handy gegen sein Ohr. Vielleicht ist Zach Dempsey kein so großer Idiot wie ich immer dachte. Vielleicht konnte alles nur noch besser werden. Aber ich habe unrecht. Denn meistens wird es nur schlimmer.

13 Reasons WhyWhere stories live. Discover now