Kapitel 39)

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Victors Team verweilte in einem Hotel in der Nähe des Flughafens. Sie buchten einen Flug zurück auf den frühen Nachmittag.
Wir kamen zu zweit in einem Zimmer unter, nachdem er sich mit seinen Kameraden kurzgeschlossen hatte. Keiner von ihnen wirkte, als sei dies eine besonders schwere Mission gewesen. Sie blieben unbeeindruckt.
Der Heiler fragte mich, ob er mich nach Verletzungen durchsehen sollte, doch ich weigerte mich. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben frei. Ich würde diese Freiheit nicht damit beginnen, dass ein Fremder erfuhr, dass ich körperlich alles andere als gesund war.
Victor schloss die Tür hinter uns ab. Er drehte sich zu mir um, lehnte sich gegen die Tür und starrte mich durch zusammengekniffene Augen an.
Seit wir das Haus verlassen hatten, das jetzt nichts mehr als Asche und Schrott war, hatten wir nicht gesprochen. Ich hatte nichts gesagt, weil ich nicht wusste, was er dachte. Ich wusste nicht, ob er wütend oder erleichtert oder enttäuscht war.
Was hätte ich sagen sollen? Er hatte mir den freien Willen nehmen wollen, um mein eigenes Leben zu retten. Und ich hatte ihn angelogen, um ihn nicht zurückzulassen.
"Du hast nicht gehorcht", sagte er durch zusammengebissene Zähne.
Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen, um nicht wieder zu verkrampfen.
"Ich muss mich auf dich verlassen können, Tiger. Du hast es versprochen. Ich muss mich darauf verlassen können, dass du das tust, was ich dir sage." Er dachte, ich wüsste nicht, dass er versucht hatte, mich zu kontrollieren. Offenbar wussten die Menschen, an denen seine Kontrolle normalerweise scheiterte, nicht, dass er es überhaupt versucht hatte.
"Auf mich verlassen?", wiederholte ich leise. "Wirfst du mir vor, dass ich dein Vertrauen enttäuscht hätte? Nachdem du mich gewaltsam zu etwas zwingen wolltest? Nachdem du versucht hast, mir den freien Willen zu stehlen?"
Sein Gesicht blieb steinhart, doch seine Augen flackerten.
Ich starrte ihn an. "Willst du mir vielleicht erklären, in welcher Hinsicht du irgendein Recht hast, mir etwas vorzuwerfen?"
Victor blieb stumm.
Ich ging langsam auf ihn zu. Meine Fingernägel gruben sich in meinen Taschen in meine Handflächen. "Dann werde ich dir erklären, wie es aus meiner Sicht war. Ich schenke dir mein Vertrauen. Ich höre für dich auf zu lügen, ich erzähle dir, dass ich meinen Vater umgebracht hatte. Weil ich dich nicht betrügen möchte. Und nach allem, was du darüber weißt, welche Erfahrungen ich in meiner Vergangenheit mit Männern gemacht habe, versuchst du, in meinen Kopf einzudringen, versuchst, mir das Entscheidungsrecht zu stehlen. Versuchst, mich zu einer Sklavin zu machen. Und jetzt, während du mir vorwirfst, dich zu hintergehen, hättest du mir verheimlicht, was du zu tun versucht hast?"
Ich blieb vor ihm stehen. Victor betrachtete mich aus ausdruckslosen, grauen Augen.
"Willst du mir noch einmal erklären, auf welche Art und Weise du in dieser Situation von mir verraten worden bist?", fragte ich. Meine Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen.
"Du hast mich angelogen", sagte er starrköpfig. "Du hast mir ins Gesicht gelogen und das hätte dich dein Leben kosten können. Du wolltest von mir, dass ich dich beschütze. Ich werde dich beschützen; ich würde mein Leben für dich geben. Aber ich kann das nicht tun, wenn du Befehle missachtest, die zu deinem eigenen Schutz sind. Du hättest mir zumindest sagen müssen, dass meine Kontrolle dich nicht erreicht."
"Damit du es noch einmal versuchst und darauf achtest, dass es auch wirklich sitzt?"
Victor schnaubte. "Tiger, du hast als Bedingung für unsere Beziehung gestellt, dass ich alles in meiner Macht stehende tun würde, um dich zu schützen."
"Und deine Bedingung war es, dass ich dich nicht wieder verrate. Ich habe das einzige getan, das mich zu einem Punkt bringen konnte, an dem ich dich nicht einfach automatisch verrate; ich habe mich gezwungen, dich als die wichtigste Person in meinem Leben anzusehen. Ich konnte mich nicht selbst retten, wenn das heißt, dass du stirbst!"
"Vielleicht ist das ja das Problem", zischte er. "Dass du Menschen automatisch verrätst."
"Das sagst du mir jetzt, nachdem ich dir gerade eben gesagt habe, dass es bei dir eben nicht mehr so ist?" Meine Stimme blieb leise und kalt.
"Willst du mich dafür umbringen?", höhnte Victor.
Es war wie ein Schlag. Es tat nicht weh, nicht so, wie Gina mir es beschrieben hatte, wenn jemand einen emotional verletzte. Es war ein Schlag, der mich aus einer Trance riss. Er weckte mich auf.
"Geh von der Tür weg", verlangte ich.
Victor bewegte sich keinen Zentimeter. "Damit du mich verlässt? Vergiss es. Du kannst da draußen sterben."
"Ich werde dich auf jeden Fall verlassen, wenn du mich nicht augenblicklich durchlässt."
Er zögerte für einen Moment. Doch als ihm klar wurde, dass es für mich gefährlicher sein würde, wenn ich mich nachts davonstahl, trat er widerwillig beiseite.
"Wohin gehst du?", fragte er.
Ich öffnete die Tür. "Wenn du mir nicht folgst, werde ich es dir bei der Rückkehr vielleicht sagen. Solltest du mir folgen, bezweifle ich, dass ich hier wieder auftauche."
Ich schlug die Tür hinter mir zu und ließ ihn zurück. Es war keine Wut, die mich dazu trieb, ihn vor ein Ultimatum zu stellen. Doch ich musste ihm vertrauen können, wenn ich mein restliches Leben mit ihm verbringen wollte. Ich musste mir absolut sicher sein, dass ich nicht schon wieder an einen Mann geraten war, der mich unterdrücken würde.
Ich hatte Gefühle für eine sehr lange Zeit als ein Privileg angesehen.
Jetzt, wo ich langsam wieder anfing, Sympathien zu empfinden, wusste ich, warum ich mit dem Fühlen aufgehört hatte. Es war viel zu gefährlich.
Ich würde mein Leben für Victor geben, weil ich Gefühle für ihn hatte.
Doch momentan war es mir noch möglich, diese Gefühle abzustellen, sollte er sich meinem Leben nicht wert erweisen.
Er hatte es als Egoismus bezeichnet. Ich wusste, ich war egoistisch. Aber ich sah keinen Sinn darin, es nicht zu sein. Wäre ich nicht egoistisch, wäre ich schon seit vielen Jahren tot. Es mochte Egoismus sein - es war mein Überlebensinstinkt.
Ich hatte versucht, diesen für Victor zu unterdrücken, etwas, das ich noch für niemanden getan hatte. 26 Jahre Erfahrung mit Verrat, Tod und Gefahr hatten mich gelehrt, dass ich mich auf niemanden als auf mich und meine Instinkte verlassen konnte.
26 Jahre Erfahrung würde ich für Victor aufgeben, wenn er das gleiche für mich tun würde.
Ich verließ das Hotel. Noch war er mir nicht gefolgt. Ich wusste nicht, wo ich Larsa finden würde, doch ich musste zumindest versuchen, sie aufzustöbern.
Es ging nicht darum, dass ich wissen wollte, was mit den Murphy-Brüdern passiert war. Ich suchte sie zum Teil, weil es mich irritiert hatte, dass sie die beiden mitgenommen hatte. Larsa und ich hatten uns verständigt, weil ich einige meiner Verhaltensweisen in ihr wiedererkannt hatte - doch ich hätte die Brüder niemals mitgenommen, wenn ich geflohen wäre. Sie hätten mich nur behindert.
Zudem kam, dass ich Victors Standpunkt vertrat: Dass sie, nachdem sie mit Lake und Victor gefangen gewesen war, bei meiner Schwester auftauchte, noch bevor ich mich als Victors Seelenspiegel entpuppt hatte, war kein normaler Zufall.
Ich musste herausfinden, ob die Frau in unserer Zukunft eine Gefahr für uns darstellen würde.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt