Kapitel 35)

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Ich wusste, dass er mich anlog. Mal wieder.
Vielleicht wusste er es noch nicht einmal selbst. Er hatte mir erklärt, dass er für Lake alles tun würde - aber ob er es nur gesagt hatte, oder ob er wirklich mitbekam, wie weitreichend seine Loyalität für die maskierte Zynikerin war, war nicht klar.
Die Lüge war nicht gewesen, dass Lake auf sich selbst aufpassen konnte. Auch nicht, dass er mich wählen würde. Nur würde er mich nicht wählen und sie fallen lassen.
Lake war für mich eine Gefahr. Doch diese Gefahr war die beste Freundin des Menschen, der mich vor jeden Gefahren beschützen sollte. Ich konnte sie nicht aus dem Weg schaffen, ohne ihn zu verlieren, aber ich war es leid, in ständiger, unmittelbarer Gefahr zu leben.
Ich hatte eine Möglichkeit, wie ich alles bekommen würde, was ich brauchte. Sicherheit vor Lake, Victors Liebe.
Ich musste Lakes beste Freundin werden.
Seit Ginas Tod hatte ich keine wirklichen Freunde mehr gehabt.
Doch mich mit Lake anzufreunden würde nicht allzu schwer werden. Ihre Gabe bestand darin, Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Selbst wenn ihr auffiele, dass ich mich nicht so benahm, wie ich es eigentlich hätte tun sollen, würde sie es auf ihre Gabe schieben, nicht auf meine. Damit wäre ich nicht verdächtigt, schon wieder zu manipulieren.
Das Mittagessen war eiskalt, als wir es aßen, aber das war egal. Wir hatten zu viel Zeit auf uns selbst verwendet, auf unsere Diskussion und das, was darauf folgte, als dass wir uns noch darüber beschweren konnten. Ich hatte gerade noch Zeit, ein paar Bissen hinunterzuwürgen, bevor Mustaf mich aus der Zelle holte und mich zu einem der SUVs brachte, in dem Pjedro schon wartete. Victor blieb in der Zelle zurück.
Pjedro ließ mich wieder auf den Beifahrersitz klettern und lenkte den Wagen durch die Stadt. Offenbar hatte er keine Anweisung bekommen, mir die Augen zuzuhalten. Leise summte er zum Rhythmus des Liedes mit, das er laufen ließ.
Ich hatte meine Hände flach auf meine Oberschenkel gelegt und tat so, als sähe ich angestrengt aus dem Fenster. Aus dem Augenwinkel studierte ich Pjedros Gesichtsausdruck. Er war entspannt, seine rechte Hand klopfte auf das Lenkrad und seine Schultern bewegten sich leicht zum Takt.
"Du glaubst daran, dass Allah will, dass wir die Welt zu einem besseren Ort machen?", fragte ich schließlich.
Pjedro warf mir einen kurzen Blick zu, überrascht davon, dass ich den Mund aufkriegte. "Ich glaube daran, dass Allah weiß, was er tut. Er hat uns Lorenzo als Propheten gesendet. Selbst wenn wir es noch nicht verstehen, wird alles klar werden, sobald wir die Neue Welt sehen, in die ihr uns führen werdet."
"Wie hast du Lorenzo Hall gefunden?" Meine Stimme war sicher, kräftig, als ob ich jedes Recht hätte, ihm diese Fragen zu stellen.
Pjedro drehte das Lied ein wenig leiser, damit wir nicht so laut sprechen mussten. "Lorenzo hat mich gefunden, nicht ich ihn", bestritt er. "Kennengelernt habe ich ihn, als ich vor einer Moschee zusammengeschlagen wurde. Er hat mich gerettet und mir Allahs Botschaft verkündet."
Also hatte Hall seine Handlanger durch Zufall entdeckt und nicht etwa durch ein ausgeklügeltes System. Zumindest würde es somit deutlich länger dauern, bis er genug Menschen zusammengesammelt hatte, sollten Victor und ich scheitern.
"Werde ich alleine mit meiner Schwester sprechen dürfen?", wollte ich wissen.
Pjedro zog seine Augenbrauen zusammen. "Natürlich."
Vielleicht vertraute er mir genug, weil ich mit ihm gesprochen hatte, vielleicht hatte er die Anweisung bekommen, mir Vertrauen gegenüber zu bringen, vielleicht log er mich an und würde mir hinterherspionieren.
In jedem Fall würde ich Rahel sehen.
Meine kleine Schwester, die den Klippenrand fast erreicht hatte, die den Weg hinaus aus der Schlucht fast bewältigt hatte. Weg von den Gebeinen ihres Mannes, die bei Victor tief unten verweilten.
Meine Schwester kam mit einer vollen Tüte aus dem Supermarkt. Sie sah sich um, ihre unschuldigen Augen angstvoll aufgerissen. Noch bevor wir uns ihr genähert hatten, konnte ich sehen, dass ihre zuvor fülligen Wangen die gesunde Farbe verloren hatten und ihre Schultern deutlich schmaler waren.
Pjedro drehte den Motor nicht ab, die Straßen waren zu sehr befahren, als dass er und sein Auto heil davongekommen wären, wenn er eine weitere Ursache für einen Stau geworden wäre. Ich öffnete die Tür und sprang aus der Kabine.
"Wie viel Zeit habe ich?", wollte ich wissen.
Pjedro warf einen Blick auf die Digitaluhr am Armaturenbrett. "Ich hole dich hier in drei Stunden wieder ab. Denk daran, Reva, wir arbeiten für die gute Seite. Wir wollen die die Welt verbessern."
Und sie hatten Victor.
Ich nickte, hob kurz die Hand zum Abschied und knallte die Tür zu.
Die Straße nach möglichen Bewachern Rahels abzuscannen und meine Schwester dabei im Auge zu behalten, stellte sich als schwieriges Unterfangen heraus, weil Rahels Schopf immer wieder zwischen den Menschenmengen unterging.
Als ich sie fast hinter einer Ecke aus dem Blick verloren hätte, gab ich die Suche nach der Organisation oder Victors Team aus und eilte ihr hinterher.
"Rahel", zischte ich, sobald ich mich in ihrer Hörweite befand.
Meine Schwester schoss herum. Ihre Augen wurden noch größer, als sie mich erblickte. Sie blickte sich hastig um, dann beschleunigte sie ihre Schritte, nicht darauf achtend, dass die vollgepackte Tüte an ihrem Handgelenk heftig schlackerte, und eilte auf mich zu.
"Was machst du hier?", fragte sie. Ihre Stimme bebte. Nicht aus Wiedersehensfreude, aus Furcht, Wut. Wieder blickte sie sich um. "Holen sie mich zurück? Bist du deshalb hier? Nehmt ihr mich wieder mit?"
"Beobachten sie dich?", fragte ich eindringlich und trat einen Schritt auf sie zu. Rahel wich abrupt mit einem großen Satz zurück.
"Was heißt hier sie?", keifte meine Schwester. "Ihr!"
"Rahel, antworte mir!" Meine Stimme klang grob und ruppig. "Sind sie hier? Beobachten sie dich?"
Sie funkelte mich aus ihren rehbraunen Augen an, Augen, die mir immer Vertrauen entgegengebracht hatten, Liebe, Respekt. Nichts davon war jetzt in ihnen zu sehen.
"Ihr seid vor etwa einer Stunde verschwunden", antwortete sie. "Aber jetzt bist du ja hier."
Ich wartete auf Schmerz. Auf das Gefühl des Verrats. Auf Enttäuschung. Es kam nichts.
"Hör zu, Rahel, sie haben dich gehen lassen, okay? Du bist frei."
Sie lachte abgehackt. Nichts, von ihrer Erscheinung zu ihrer Stimme und der Art, wie sie sprach, erinnerte mich an das unschuldige, süße Mädchen, das ich kannte. Genauso wie das Leben mich verändert hatten, hatte auch Rahel ihr früheres Ich verloren.
"Frei? Das nennst du frei?" Sie breitete die Arme aus und offenbarte eine Rundung an ihrem Bauch. "Schwanger mit dem Kind eines toten Ehemannes, ein Ehemann, für dessen Tod meine Schwester verantwortlich ist, meine eigene Schwester!"
"Immerhin ist es seines", gab ich kalt zurück.
Rahels Hand pfiff durch die Luft und traf hart auf meine Wange. "Wie kannst du es wagen?", fragte sie mit Tränen in den Augen. "Du hast meinen Ehemann getötet, Nila. Erst Nanny, dann Gina und jetzt auch noch Ben. Alle, alle die ich liebe, sie alle sterben wegen dir! Du wirst dieses Kind niemals zu Gesicht bekommen, hörst du? Niemals."
Nannys zweite eiserne Regel war Kontrolle. Niemals ausrasten. Besonnen bleiben. Wenn man die Kontrolle über die Situation verlor, war man so gut wie tot. Deshalb ließ ich mich nicht auf Rahels Provokation ein.
"Rahel, du musst mir zuhören. Ich werde dafür sorgen, dass du in Sicherheit kommst. Bitte, hör mir zu."
Die Einkaufstüte riss, eine Milchtüte fiel auf den Boden, platzte auf und kippte den ganzen Inhalt über die Straße. Rahel warf die kaputte Tüte hinterher und hatte jetzt mehr Freiheit, ihre Liebe für Gestik auszuleben.
"Hast du gehört?", fragte sie mit zitternder Stimme. Tränen sammelten sich auf ihrer Oberlippe. "Nanny ist wegen dir gestorben, oh ja. Hat dir niemand erzählt, nicht wahr? Eine Krankheit, das haben sie dir erzählt."
Ich versuchte, das Gesagte zu ignorieren. "Rahel, du musst zu dem Café an der übernächsten Kreuzung. Such Roman. Er wird dir genug Geld geben, damit du dir ein Flugticket ins Ausland kaufen kannst. Verschwinde von dir. Ziehe dein Kind nicht hier groß."
Sie stieß einen erbitterten Schrei aus. "Sprich nicht von ihm! Du bist für den Tod seines Vaters Schuld, hörst du? Du, du bist dafür verantwortlich, dass er vaterlos aufwächst!"'
Ich hatte nicht genug Zeit, um mich mit meiner keifenden Schwester auseinanderzusetzen. "Rahel!", herrschte ich.
Sie verstummte. Trotzig starrte sie mich an, ihr zitterndes Kinn hoch in die Luft gereckt. Mir fiel auf, dass sie nicht wegzuckte. Meine Schwester war zu einer selbstmitleidigen, schuldzuweisenden Witwe geworden, obwohl sie niemals hatte erleben müssen, was es hieß, geschlagen zu werden. Sie hatte nie erleben müssen, was es hieß, bei jedem Konflikt Angst vor physischer Verletzung zu haben.
"Ich werde dich zu Roman bringen." Ich ballte die Hände zu Fäusten. Diesmal, um ihr zu zeigen, dass auch ich bereit war, Gewalt anzuwenden. "Roman wird dir Geld geben, um dich zurück nach Europa zu bringen. Hast du das verstanden? Kannst du damit fliegen?"
Ihr Gesicht spiegelte kummervolle Abscheu wider. "Roman?" Sie spuckte vor mir auf den Boden. "Was ist nur aus dir geworden?"
Ich presste die Zähne zusammen, als würde ich mich zwingen müssen, nicht auszurasten. Wenn es nötig war, dass meine Schwester Angst vor mir bekam, damit ich sie retten konnte, dann würde ich ihr eben Angst machen.
"Sprich nicht in dem Ton zu mir, ich helfe dir gerade", fauchte ich. Noch immer gab es keine emotionale Reaktion in meinem Inneren. "Wirst du freiwillig mitkommen oder werde ich dich zwingen müssen?"
Trauer veränderte Menschen. Das war eine der ersten Lektionen, die Nanny mir damals hatte zuteil werden lassen. Geliebte Menschen zu verlieren, hinterließ gravierende Veränderungen in der Persönlichkeit.
Nach Nannys Tod hatte Rahel keine Veränderungen aufgewiesen. Nach Ginas Tod war sie die gleiche gewesen. Jetzt, nach Bens Ableben, konnte ich sie nicht mehr wiedererkennen. Ich wusste nicht, ob ich mich hatte blenden lassen von der Liebe, die ich für sie empfunden hatte. Von der Liebe, die ich mir zu fühlen eingeredet hatte, die nie irgendetwas in mir ausgelöst hatte. Zum Trotz derer ich erkaltet war.
Vielleicht hatte Rahels Veränderung angefangen, als sie aus Afghanistan hatte fliehen können, während sie mich zurückließ. Vielleicht hatte das Leben in Europa sie so geprägt. Vielleicht war es die Schwangerschaft, vielleicht wirklich der Tod ihres Mannes.
Meine kleine, süße Schwester war nun auch verschwunden. Victor war wahrhaftig alles, was mir geblieben war. Das war gut.
Sollte er sterben, würde ich zum ersten Mal seit so langer Zeit wieder unabhängig sein. Doch bis er starb, würde ich mich auf ihn konzentrieren können. Ich musste mich nicht zwischen zwei Menschen entscheiden. Ich konnte mich darauf fokussieren, dass ich wieder erlernen konnte zu lieben.
Vielleicht nicht so, wie ich es hätte können sollen. Vielleicht nicht auf eine mitreißende, stürmische Art, die Art und Weise, auf die Gina ihre und Uriels Liebe beschrieben hatte, hätten sie sich gekannt.
Aber auf eine Art und Weise, die es mir ermöglichen würde, das beste aus der Zeit zu machen, die uns blieb.
Als Rahel sich nicht regte, griff ich nach ihrem Ellenbogen und zog sie mit mir durch die Straße. Sie wehrte sich, bis ich ihren Arm unsanft hinter ihren Rücken bog und sie vor mir her bugsierte. Sie gab ein ersticktes Schmerzensgeräusch von sich, doch ich achtete nicht darauf. Der Schmerz, den sie jetzt durchlebte, war um so viele Male besser als der, den sie erleben würde, wenn ich sie nicht so schnell wie möglich ins Ausland schaffte.
"Hast du jemals geliebt?", fragte sie mich höhnisch über die Schulter. "So, wie ich Ben geliebt habe? Hast du jemals gefühlt, wie deine Brust vor Liebe heiß wurde und sich geweitet hat und es fast wehgetan hat, ihn anzufassen, weil du ihn so sehr geliebt hast? Ich hoffe, du erfährst es. Ich hoffe, du erfährst, wie glühend heiß sich Liebe anfühlt, und ich wünsche, dass er in deinen Armen stirbt."
Ich erwiderte nichts darauf, schob sie einfach weiter. Ich merkte, dass Rahels Schultern zuckten, während sie weinte. Ich reagierte nicht. Zum ersten Mal ließ es mich vollkommen kalt, dass meine kleine Schwester in meiner Anwesenheit so bitterliche Tränen weinte.
Roman entdeckte uns, bevor wir ganz aus der Straße rausgekommen waren. Er ließ den Kaffeebecher, an dem er angelegentlich nippte, auf den Boden fallen und hetzte über die Straße, ohne auf die fahrenden Autos zu achten. Schlitternd kam er vor uns zum Stehen.
Er riss Rahel in seine Arme, ohne ihre Tränen zu sehen.
"Oh Gott, es geht dir gut", flüsterte er. "Oh Gott, du hast es geschafft."
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste ihre Stirn. Ich hielt mich im Schatten, noch immer nach der Organisation oder Victors Leuten suchend.
Rahel entriss sich ihm. Wütend wischte sie ihre Tränen weg. "Wie kannst du es wagen, mich zu ihm zu bringen?", fragte sie in meine Richtung. "Wie kannst du es wagen? Weißt du nicht mehr, was er mir angetan hat?"
Roman schwebte auf der siebten Wolke.
"Hast du Geld?", fragte ich ihn, ohne meine Schwester zu beachten. "Du musst sie ins Ausland schaffen. Kauf ihr ein Flugticket. Rahel muss Afghanistan so schnell wie möglich verlassen."
Er sah mich überrascht an. "Du kommst nicht mit?"
Rahel lachte höhnisch. "Nila muss zurück, um weiter Menschen zu töten. Und zurück zu ihrem Typen. Was, glaubst du, ich weiß es nicht? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du dich von Victor Benedict vögeln lässt, während mein Mann tot ist?"
Ich versuchte nicht mehr, sie zu verängstigen. Es hatte keinen Sinn mehr. Wir waren bei Roman. Ich vertraute ihm nicht, ich fühlte nichts für ihn. Doch obwohl ich wusste, was er mir in meiner Kindheit angetan hatte, wusste ich auch, dass er Rahel niemals die gleichen Wunden zufügen würde. Dass er Rahel so sehr liebte, dass er sein Leben für das ihrige geben würde.
"Ich muss zurück, sie hat Recht. Mein Freund ist noch in Gefangenschaft. Wir finden da schon selbst raus. Du musst Rahel in Sicherheit bringen. Ich meine es ernst. Schaff' sie aus diesem Land. Es ist mir vollkommen egal, ob sie will, was sie sagt, sie trauert, sie denkt nicht klar, aber sie muss hier weg."
Rahel starrte mich mit einer solchen Abscheu an, wie ich sie noch fast nie gesehen hatte. "Na, ist der böse Cop wenigstens im Bett gut?", fragte sie.
Roman sah zwischen uns hin und her. Ich wusste, dass er keinen von uns beiden auch nur annähernd wiedererkannte. "Was ist hier passiert?", fragte er schließlich, an niemand Bestimmtes adressiert.
Rahel legte den Kopf in den Nacken und stieß ein schnaubendes Lachen aus.
Erst jetzt ging mir auf, dass sie betrunken war. Der Geruch wude von ihrem kräftigen Parfum überdeckt, doch ich hätte es schon viel früher daran erkennen müssen, wie unsicher sie auf den Beinen stand.
"Nimm sie mit. Bring sie weg von hier. Weg aus Afghanistan. Es ist mir egal, wie du das anstellst, hörst du?" Ich fing Rahel auf, bevor ihr Körper auf den Boden fiel. "Du schuldest mir das. Das und viel, viel mehr. Ich will, dass du Rahel ein Flugticket nach Weißrussland besorgst und sie dahinschickst. So schnell es geht."
Er nahm mir Rahel ab, die in seinen Armen einschlief. "Und du? Du gehst zurück? Glaubst du wirklich, ich würde dich das tun lassen? Dich wieder in diese Gefahr begeben? Wenn dein Freund es wert ist, dann kann er sich selbst befreien."
Früher hätte ich ihm dafür voller Verachtung ins Gesicht geschlagen. "Du lässt mich gar nichts tun", sagte ich leise. "Du hast keine Macht mehr über mich und du wirst sie niemals wieder erlangen. Bring Rahel in Sicherheit. Kümmer' dich um sie. Was ich tue oder lasse, ist seit sehr vielen Jahren nicht mehr deine Angelegenheit."
Er schluckte schwer, als hätte ich ihn wirklich geschlagen. "Victor Benedict?"
Wenn Rahels Kind wegen ihres Alkoholkonsums tot zur Welt käme, würde sie dann mich dafür verantwortlich machen? Wenigstens konnte ich mir in dieser Situation der Unterstützung von Victor sicher sein.
Ich zeigte ihm die Zähne. "Hast du ein Problem damit?"
Ich konnte mich so gut an die Schläge erinnern, die ich für solche Kommentare bekommen hatte. Konnte mich so gut an die Schmerzen erinnern, die Stimmen, die mir durch den Schleier der Schmerzen zugeflüstert hatten, dass ich nicht so zu reden hatte.
"Habe ich", antwortete er. "Aber du hast Recht. Es geht mich nichts mehr an."
Ich nickte. "Dann verstehen wir uns offensichtlich. Wirst du es schaffen, dich um sie zu kümmern?"
Roman hob Rahel hoch. "Ich verspreche es, ich werde mich so gut um sie kümmern, wie ich es vermag."
Ich betrachtete meine schlafende Schwester für einen Moment. Wartete auf das schwere Gefühl des Abschieds. Dies könnte das letzte Mal sein, dass ich sie sah. Es blieb aus. Ich wusste, dass mein Bruder sich um meine Schwester kümmern würde. Vielleicht nicht so gut, wie ihr Mann es gekonnt hätte, aber besser, als er es bisher getan hatte.
"Noch eins." Ich wandte mich zum Gehen. "Sie ist schwanger und der Vater ist tot."
Roman richtete seine Schwester in den Armen und sah mich mit angespannten Schultern an. Es fiel ihm sichtlich schwer, mich einfach gehen zu lassen. Nicht etwa, weil er Gefühle für mich hatte, weil er mich beschützen wollte, sondern weil ich mich zum ersten Mal wirklich von ihnen losgesagt hatte.
Er sah aus, als hätte er über all die Jahre, in denen ich verschwunden gewesen war, nicht verstanden, dass ich von ihnen geflohen hatte, dass ich schon sehr, sehr lange kein Teil der Familie mehr war.
"Viel Gück", sagte er leise. Ich drehte mich nicht noch einmal um, um auf Wiedersehen zu sagen. Es würde kein Wiedersehen geben. Ob ich mit Rahel noch einmal sprechen würde, wusste ich nicht, aber ich würde meinen Bruder niemals wiedersehen.
Es fühlte sich nicht einmal gut an.






Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt