Kapitel 36)

268 14 7
                                    


Ich hatte noch genug Zeit, um einen Umweg zu machen, bevor ich mich mit Pjedro treffen musste. Diese Zeit nutzte ich, um zu dem Haus meiner Geburt zurückzukehren.
Ich fand den Weg ohne Probleme wieder. Ob es daran lag, dass ich nichts vergaß, oder daran, dass Gina und ich uns zu häufig in der Dunkelheit zurückgeschlichen hatten, ohne etwas zu sagen, nur an den Metern und Abständen orientierend, war egal - ich fand den Weg.
Ich hatte nicht genug Zeit, um draußen zu warten, ob jemand hineinkam oder das Haus verließ. Meine einzige Chance bestand darin, es zu versuchen.
Nannys dritte Regel war gewesen, bei angebotenem Wissen immer zuzugreifen. Meine Großmutter hatte mir eingeschärft, niemals Wissen abzulehnen, egal, ob ich wissen wollte, was mir gesagt wurde, oder ob ich es lieber nicht wissen wollte.
Meine psychische Gesundheit war egal, wenn ich damit meine physische schützen konnte. Jegliches Wissen könnte mir irgendwann behilflich sein, und ob ich nun damit Probleme hatte oder nicht war egal.
Rahel hatte gesagt, dass meine Großmutter wegen mir tot war.
Wenn es einen Ort gab, an dem ich herausfinden könnte, was an dieser Behauptung dran war, dann war es das Haus, in dem sie gestorben war.
Die Tür zu öffnen funktionierte noch immer mit den gleichen Trick wie früher. Man musste sie zu sich heran ziehen, an der Klinke hochstemmen, ein wenig nach rechts und links rütteln und dann einfach nach Innen aufschieben.
Ich bewegte mich aus dem Schatten der nächsten Gasse auf den Eingang zu, öffnete die Tür mit altgewohnter Geschicklichkeit und huschte durch den Spalt, der sich auftat, ohne dass jemand auf mich aufmerksam wurde.
Der abgestandene Geruch war noch immer der gleiche, auch wenn der Putz von den Wänden noch weiter abgebröckelt war und es aus dem Wohnzimmer zog.
Ich wartete nicht ab, ob jemand sich im Haus befand. Dazu hatte ich nicht genug Zeit. Stattdessen durchquerte ich den Flur mit wenigen Schritten, drang in das Zimmer, in dem mein Vater gelebt hatte. In dem er immer noch lebte.
Mir und Rahel war es verboten gewesen, den Raum zu betreten. Genauso meiner Mutter und meiner Großmutter, wobei sich letztere nicht daran gehalten hatte.
Ich kannte das Regel nur aus dem kurzen Blicken, die ich durch eine halbgeöffnete Tür erhascht hatte, bevor sie mir vor der Nase zugeschlagen worden war. Wie früher standen keine Bücher in den Regalen - die Gefahr, dass einer von uns sie hätte finden können und auf die Idee käme, mit dem Lesen anzufangen, war zu groß gewesen. Stattdessen befanden sich Akten dort, mit schweren Schlössern vor neugierigen Blicken geschützt.
Die Einbände waren nicht datiert, aber ich konnte mich noch daran erinnern, welcher Band in Betrieb gewesen war, als ich damals geflohen war. Demnach holte ich einen Ordner davor heraus, der um die Zeit von Nannys Ableben entstanden sein musste.
Zwar befand sich ein Schloss um den Ordner, doch mein Vater hatte nicht darauf geachtet, dass er überall Büroklammern hatten liegen lassen. Jahrelange Übung ermöglichte es mir, das Schloss innerhalb von einer Minute aufzubrechen.
Ich blätterte durch das bedruckte Papier. Das wenigste von den Dingen, die hier eingeordnet waren, hatte für mich Belang - es stammte von der Arbeit meines Vaters. Früher hätte ich alles dafür getan, hier reingucken zu dürfen, denn ich hätte eine Möglichkeit finden können, ihn zu erpressen.
Heute war er mir egal. Es zählte nicht, was er vergangen hatte. Ich hatte kein Interesse daran, ihn zu vernichten. Das einzige, was ich wollte, waren Informationen zum Tod meiner Großmutter.
Es war meine Mutter gewesen, die darauf bestanden hatte, Nannys Leiche den Behörden zu übergeben. Sie hatte gesagt, wenn irgendjemand die Leiche finden sollte oder darauf aufmerksam werden würde, dass sie tot war, und herauskam, dass wir es vertuscht hatten, würde man uns dafür belangen. Mein Vater hatte widerwillig nachgegeben.
Ihr Autopsiebericht war als vorletztes eingeordnet. Das Papier war verknittert, die Lochung unsauber, als ob jemand es einfach in den Ordner gestopft hatte.
Mir hatte man erzählt, dass Nanny von einer Krankheit über Nacht hinweggerafft worden war. Niemand hätte davon gewusst, sie hätte es wohl geheimgehalten, um uns nicht zu beunruhigen. Dann hätte die Krankheit zugeschlagen und sie wäre ihr innerhalb von wenigen Stunden erlegen.
Ich kannte das Gift nicht, das tatsächlich für ihren Tod verantwortlich war, doch es hatte dazu geführt, dass sie erstickte. Sie mochte schmerzlos gestorben sein, doch meinen Großmutter hatte in den letzten Augenblicken gemerkt, dass ihr Ende sich näherte, sie hatte das Grauen des Erstickens erleben müssen.
Ich konnte mich daran erinnern, dass Roman mich einmal festgehalten hatte, als mein Vater auf mich einschlug. Ich konnte mich daran erinnern, wie seine Hand sich über meinen Mund gelegt hatte, um meine Schreie zu verhindern, wie er versehentlich meine Nase zugedrückt hatte. Wie ich um mich getreten hatte, mich aufbäumte, als ich merkte, dass ich keine Luft mehr bekam.
Rahel hatte mir damals das Leben gerettet. Sie war es gewesen, der aufgefallen war, dass ich mich nicht wehrte, weil ich Schmerzen hatte, sondern weil ich starb.
Ich konnte mich daran erinnern, dass das schlimmste nicht die Schmerzen der Schläge gewesen war sondern die furchtbare Panik, die meinen ganzen Körper erfasst hatte, als ich erkannte, dass es mit mir zu Ende ging.
Dieser Panik war meine Großmutter ausgesetzt worden. Nur dass sie niemand gerettet hatte. Sie war gestorben, alleine, während ich in meinem Bett im Zimmer nebenan lag und schlief.
Ich drehte das Blatt um. Die Polizeiakte, die dort eingeheftet war, sagte eindeutig aus, wer der Hauptverdächtige war. Mein Vater.
Ich hörte, wie jemand die Tür zum Zimmer aufmachte. Ich sprang auf, wirbelte herum, doch es war zu spät um zu fliehen. Mein Vater war gealtert. Ihm stand das Alter genauso wenig wie die Jugend.
Er erkannte mich. Ich sah es ihm an, als seine Züge entgleisten und seine Augen starr wurden. Es gab kein Fenster. Mein einziges Entkommen war die Tür.
"Nila." Seine Stimme war hohl.
Ich hob den Ordner hoch. "Du hast meine Großmutter getötet?", fragte ich kalt. "Hast sie vergiftet?"
Er stieß die Tür hinter sich zu. Roman hatte sich verändert. Nicht so gewaltig wie ich und Rahel, doch mein Bruder war erwachsen geworden. Mein Vater jedoch war noch der gleiche gewaltätige, aggressive Mann, der er immer gewesen war.
"Deine Großmutter hat dir und Rahel Flöhe in den Kopf gesetzt. Sie war daran Schuld, dass ihr vom rechten Weg abgekommen seid. Das musste enden."
Vor mir stand ein alter Mann, ein Mann, der mich gefoltert hatte, seit ich ein kleines Kind gewesen war. Der mich misshandelt hatte, mich unterdrückt und den Menschen getötet hatte, der für mich am wichtigsten gewesen war.
Und er war immer noch der gleiche Mann.
Ich sah ihn an und wusste, dass ich dieses Haus nicht lebend verlassen konnte.
Rahel hatte Recht gehabt. Nanny war wegen mir tot. Nanny war wegen mir tot, Bohrak war wegen mir tot, Victor würde wegen mir sterben.
"Wie kannst du es wagen, jemals wieder in diesem Haus aufzutauchen?", fragte er drohend. "Wie kannst du es wagen, nachdem du so viel Schande über uns gebracht hast?"
Ich wich seinem ersten Schlag aus. Mein Vater verschwendete keine Zeit darauf zu klären, wo ich gewesen war. Mit ziemlicher Sicherheit war er genauestens im Bilde der Tatsache, dass ich im Gefängnis gewesen war - nur hatte er vermutlich nicht gewusst, dass ich daraus geflohen war.
Er ließ sich nicht täuschen, wissend, dass ich zur Tür rennen würde, sobald sich mir die Möglichkeit ergab. Jetzt, wo ich den Grund meines Aufenthalts geklärt hatte, hielt mich hier nichts mehr. Doch er würde mich nicht entkommen lassen. Ich war eine Gefahr für ihn. Ich wusste, dass er meine Großmutter auf dem Gewissen hatte. Ich war inzwischen eine erwachsene Frau, vollkommen im Stande, ihn endlich für seine Vergehen zu bestrafen.
"Du hast diese Familie zerstört! Du hast Schande über uns gebracht!" Er fluchte und spuckte. "Wir haben versucht, dir zu helfen, und du hast uns verraten."
Sein zweiter Schlag erwischte mich an meiner Wange, doch ich war mit dem Schmerz so vertraut, dass es mich keine Sekunde lang behinderte. Er schlug hinterher. Ich spürte, wie warmes Blut mir aus der Nase über die Lippen floss. Nicht gebrochen, doch ich fühlte das vertraute Brennen.
Seine flache Hand erwischte mich am Ohr und ich verlor über das dröhnende Piepen die Orientierung. Ich stolperte, konnte nicht ausweichen, als er seine Faust in meine Magengrube rammte.
Er würde mich in diesem Zimmer zu Tode prügeln.
Ein Tritt gegen meinen Kiefer betäubte mich.
Ich ließ mich an das Ende des Regales in die Ecke drängen, als säße ich in der Falle. Ich würde es nicht zur Tür schaffen. Das wussten wir beide.
Mein Vater holte wieder aus und schlug mich zu Boden. Ich riss das Regal mit mir hinab. Er wich ihm aus, sprang den Einzelteilen aus dem Weg, die auf dem Boden krachend zerbrachen. So schnell ich konnte, kam ich auf die Füße, packte das Holzbein des Regales fest in die rechte Hand und holte aus.
Diesmal war es an meinem Vater, zurückzuweichen. Ich schlug zu. Erwischte ihn mit dem oberen Ende des Holzbeines. Sein Kopf wurde zur Seite geschleudert und er fiel hin.
Das Blut floss noch immer aus meiner Nase. Meine Ohren rauschten und das Geräusch der knackenden Knochen drang nicht zu mir durch, als ich ein weiteres Mal zuschlug.
Mein Vater war mir egal geworden. Für so viele Jahre war er mir egal.
Ihn blutend auf dem Boden liegen zu sehen, löste Erleichterung in mir aus.
Ich würde mich nicht töten lassen. Ich würde nicht zulassen, dass es mit mir in diesem Haus zu Ende ging. Ich war geflohen, um mein Leben zu retten, ich hatte so viel durchgemacht, nur, um endlich von ihm wegzukommen. Ich würde nicht zulassen, dass all das Leid, dass ich wegen ihm durchgemacht hatte, umsonst gewesen war. Ich würde nicht zulassen, dass ich umsonst vergewaltigt worden war, dass ich umstonst im Gefängnis gewesen war, dass Ben umsonst gestorben war und Victor umstonst gefangengehalten wurde. Ich würde Victor Benedict nicht alleine zurücklassen.
Ich sah nicht weg, als ich immer weiter zuschlug. Ich hatte kein Recht, ihn umzubringen. Doch ich konnte ihn nicht leben lassen. Nicht, wenn das bedeutete, dass er mich und Victor in Gefahr brachte. Nicht, wenn es bedeutete, dass Rahel niemals frei von ihrer Vergangenheit sein konnte. Er hatte Nanny umgebracht. Er hatte mich misshandelt.
Es lag nicht an mir zu entscheiden, wer den Tod verdient hatte und wer nicht, und doch nahm ich zum zweiten Mal eines.
In dem Moment, in dem das Leben seine Augen verließ, warf ich das Holzbein neben ihm zu Boden. Ich würdigte seine zerschundene Leiche keinen weiteren Wortes, sondern riss die beiden Blätter über Nannys Tod aus dem Aktenordner und rannte los.
Ich musste nicht würgen. Ich musste nicht weinen. Ich bereute es keine Sekunde lang.
Immer schneller rannte ich durch die Straßen, weg von der zweiten Leiche, die ich zurückließ. Zwei Menschen, die ich mit eigenen Händen getötet hatte. Zwei Menschen, deren Leben ich genommen hatte, um mein eigenes zu schützen.
Ich wischte mir die Blutspritzer aus dem Gesicht, bevor ich bei dem Treffpunkt ankam, an dem Pjedro mich erwarten sollte. Verlangsamte meine Schritte, brachte meine Haare in Ordnung. Meine Hände waren mit klebrigem Blut bedeckt, das ich nicht abwischen konnte, meine Verletzungen brannten und ich musste mich ständig an der Hauswand abstützen, um nicht zusammenbrechen, weil mein Gehör noch immer nicht wieder voll funktionierte.
Zwei Leben. Als ich zu Bohrak kam, war ich das Opfer von häuslicher Gewalt gewesen. Ich war ein unschuldiges Opfer gewesen, das abgehauen war. Als ich seinen toten Körper in der Blutlache zurückließ, war ich weder unschuldig noch ein Opfer.
Ich war nie wieder zum Opfer geworden. Ebenso wenig wieder unschuldig.
Pjedro sah mich erstaunt an, als ich früher als erwartet in das Auto kletterte. Er wartete einen Moment ab, ob ich mich selbst erklären würde, doch als ich kein Wort von mir gab, fragte er: "Wie lief's?"
Ich stopfte meine Fäuste in die Taschen meiner Jeans, damit er das Blut nicht sah. "Weniger gut", antwortete ich. "Meine Nase? Das war sie. Macht mich für alles Übel verantwortlich, das ihr je passiert ist."
Pjedro startete den Wagen. "Auch Rahel wird in der Neuen Welt erkennen, dass du für die guten Dinge verantwortlich bist", beschwor er.
Ich räkelte mich auf meinem Sitz. Vor meinen Augen standen noch immer die Bilder, die ich soeben gesehen hatte. Der übel zugerichtete Körper meines Vaters. Das zusammenstürzende Regal. Wie ich immer und immer wieder zuschlug.
"Mag sein."
Pjedro fuhr schnell. Ob es daran lag, dass es langsam spät wurde, oder ob er mitbekommen hatte, dass ich einfach nur noch zurück wollte, ich hieß es gut. Je schneller ich aus dem Wagen rauskam, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass er das Blut auf meinen Händen doch noch entdecken würde.
Er stellte den Wagen in der Garage ab und begleitete mich durch das Haus. Er wollte mich direkt in die Zelle geleiten, doch ich blieb vor der Toilette stehen. "Kann ich kurz-?", fragte ich.
Er nickte und ich verschwand durch die Tür in den Raum. Ich verschwendete keine Sekunde darauf, mein Spiegelbild zu betrachten sondern beugte mich tief über das Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und fing an, mir die Hände abzuschrubben. Immer fester, immer schneller.
Kleine Stücke der Kruste lösten sich und vielen in das Becken, wo sie sich auflösten und das Wasser rot färbten.
Als ich fertig war, zog ich die Toilettenspühlung, rieb mir die Hände eilig mit einem Handtuch ab und verließ die Toilette. Pjedro wartete noch immer draußen.
Diesmal war ich vor Victor zurück. Sobald die Tür hinter mir zufiel, spielte die Szene vor meinen Augen Revue. Ich setzte mich auf das Bett, krallte die Hände in die Bettdecke und wartete darauf, dass Victor kam und mich von den Bildern erlöste.
Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Wie ich erklären sollte, dass ich schon wieder einen Menschen umgebracht hatte. Ich wusste nicht, wie er reagieren würde. Mein Vater hatte mir wehgetan, genauso wie Bohrak. Doch Bohrak war ein einziger Verstoß gewesen, der mich freigekauft hatte. Meinen Vater hatte ich umgebracht, obwohl ich auch so hätte fliehen können. Ich hatte einfach nicht aufgehört, zuzuschlagen. Und außerdem war es der zweite Mensch, den ich umbrachte.
Die meisten Menschen hätten mich sitzen lassen, sobald sie erfuhren, dass ich einen Mann erstochen hatte. Victor war geblieben. Was würde er tun, wenn er erfuhr, dass ich einen zweiten Mann mit dem Bein eines Holzregales erschlagen hatte?
Als die Tür aufging und Victor eintrat, lief die Szene zum fünften Mal ab. Jedes Mal sah ich nur eines: Wie ich zuschlug, unaufhaltsam, ungezähmt.
Ihm ging wohl augenblicklich auf, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Victor warf einen Blick über die Schulter und eilte zu mir, als er sich versichert hatte, dass die Tür zugefallen war.
Ich stand auf und packte seine Oberarme, drehte den Kopf weg, als er versuchte, mich zu küssen.
"Victor, du musst mir sagen, was du von meinem Vater hältst", erklärte ich. Meine Stimme klang fest. Ich zitterte nicht. Ich hatte keine Träne vergeudet. Ich bereute es nicht. Für mich selbst stellte sein Tod noch immer kein Problem dar. Doch es würde für mich ein Problem darstellen, wenn Victor meinen zweiten Mord nicht mehr erdulden konnte.
Er merkte, dass ich nicht scherzte. Er fragte mich nicht, ob es Interesse oder Manipulation war.
"Dein Vater verdient den Tod genauso wie Bohrak Leddison", erklärte er steinhart.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Was ich ihm jetzt erzählen würde, war eine der schwerwiegensten Wahrheiten, die ich jemals gestehen musste.
"Ich habe ihn umgebracht", flüsterte ich.
Er glaubte es mir sofort. Wenigstens nahm er nicht an, dass ich nur scherzte. Wenigstens zweifelte er diesmal nicht an mir.
Victor starrte mich eine Minute lang stumm an. Ich war versucht, die Augen zusammenzupressen, mich beschämt wegzudrehen, doch ich musste aufhören, das Opfer zu spielen. Ich hatte zwei Menschen umgebracht. Ich war kein Opfer mehr.
"Wie kommt es?", fragte er schließlich.
"Rahel hat mir gesagt, dass meine Großmutter wegen mir gestorben ist." Ich versuchte nicht, meine Stimme nach Reue oder Schmerz klingen zu lassen. "Ich habe meinem Bruder gesagt, er solle sie ins Ausland schaffen, und bin zu meinem alten Haus gegangen, um herauszufinden, ob ich wirklich daran Schuld bin. Mein Vater hat sie vergiftet, weil sie mich und Rahel verdorben hat. Er hat mich dabei erwischt, wie ich in seinen Sachen herumgewühlt hat. Er hat mich geschlagen, hätte mich umgebracht. Ich konnte nicht fliehen, er stand vor dem einzigen Ausgang. Ich hatte die Gelegenheit und habe mein Leben gerettet."
"Bereust du es?"
Ich konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Ich hatte nicht genug Erfahrung mit Gefühlen, um zu sagen, was er fühlte. Ich wusste nicht, wie es für ihn sein musste, zu erfahren, dass ich schon wieder einen Menschen getötet hatte.
"Ich bereue, dass ich dich enttäuschen muss", sagte ich. "Ich kann nicht bereuen, dass er tot ist. Er hat dein Leben bedroht, er hat mein Leben bedroht, er hat Rahels Leben bedroht. Ich habe es getan, um uns zu schützen. Aber ich bereue es, dass du schon wieder mit einem Mord meinerseits kämpfen musst. Ich bereue es, dass der Preis unserer Sicherheit damit verbunden ist, dass ich Menschen umbringe."
Victor sah weg. "Wie viel davon war wahr?"
Er hatte mich noch nicht von sich gestoßen. Er hatte meine Hände nicht von seinen Armen entfernt. "Alles." Es stimmte. Ich log nicht. "Das ist alles wahr, Victor."
Er sah mich wieder an. "Als Lake Will gestanden hat, dass sie eine Frau umgebracht hat, hat er es ihr verziehen."
Ich atmete tief durch. "Hast du auch. Als du erfahren hast, dass ich Bohrak Leddison umgebracht habe, hast du es mir verziehen. Lake hat nur einen Menschen umgebracht."
Victor strich mir langsam durch das Haar. "Warum sagst du das? Denkst du, es wirkt auf mich besser?"
Ich blieb stocksteif stehen. "Ich sage das, weil ich versuche, mich an die Wahrheit zu halten. Ich falle zu schnell wieder ins Lügen zurück, als dass ich eine Lüge von mir geben könnte, ohne dass weitere folgen. Ich kann es mir nicht leisten, dich anzulügen."
Ich erwähnte nicht, dass es mir genauso wenig leisten konnte, weitere Menschen umzubringen.
"Ich akzeptiere, dass du es tun musstest." Victors ganzer Körper war angespannt. "Will hat es Lake verziehen. Ich habe kein Recht darauf, dir irgendetwas zu verzeihen. Du gehörst mir nicht."
"Wann ist dir das aufgefallen?", wisperte ich.
Victor küsste meine Wange, mein Ohr, meine Nase. "Du bist süchtig nach dem Lügen, ich kann nicht aufhören, dich als meinen Besitz anzusehen. Einmal wieder anfangen, und ich komme nicht wieder raus."
"Ich mache es wieder gut", sagte ich. "Ich weiß nicht wie, aber ich höre auf, jeden umzubringen, der mich in Gefahr bringt."
Victor schlang seine Arme um meine Hüften, hob mich hoch und zwang mich, meine Beine um ihn zu schlingen, um nicht runterzufallen. Ich lehnte meine Stirn gegen seine und küsste ihn langsam, vorsichtig.
"Rahel ist weg", murmelte ich. "Dein Team kann loslegen."
Er setzte seine Hände unter mein Gesäß, um mich besser halten zu können. "Wirst du Hall umbringen?"
Die Wärme, die in mir aufstieg, war etwas, das ich schon seit zehn Jahren nicht mehr kannte. "Nicht, wenn du mich dann nicht mehr mit nach Amerika nimmst."
Er küsste mich. "Ich würde es gutheißen, wenn du es nicht tätest. Wobei ich mir sicher bin, dass ich darüber wegkommen würde, würdest du noch einmal töten, um dein Leben zu retten."














Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt