Kapitel 10)

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Der Schultag war vorbei. Den ganzen Tag hatte ich Sticheleien auf Maras Kosten verlauten lassen, um sie auf schlechte Laune zu stimmen, doch bis jetzt hatte meine Arbeit noch keine Früchte getragen. Sie behielt ihr freundliches, etwas quengeliges Lächeln aufrecht und nahm es Tjara offensichtlich nicht übel. Sollte sie aber.
Der Weg zum Haus der Andeliers kam mir kürzer vor als gestern. Vielleicht lag es daran, dass der Markt abgebaut worden war und wir somit schneller voran kamen. Marek begleitete uns erneut, aber im Gegensatz zu seiner Schwester reagierte er auf meine Vorarbeit. Ich warf ihm flirtende Blicke zu, leckte mir in seiner Gegenwart auffällig häufig über die Lippen und strich dicht an ihm vorbei. Er musste seine Sorge um Maras Reaktion vergessen, musste sich selbst vergessen, damit wir von Mara erwischt werden konnten.
Heute Morgen hatte Mara duschen können, sodass ich nicht darauf angewiesen war, so lange mit Marek rumzumachen, bis sie wieder nach unten kam. Stattdessen legte ich schon los, als sie nur ihre Tasche auf ihr Zimmer bringen wollte. Ich schob meine Hüften gegen ihn und dachte an das Jahr bei Bohrak, das mich so vieles in diesem Bereich gelehrt hatte. Marek grinste, noch durchschaute er mein Vorhaben nicht.
"Ist da jemand auf mehr aus?", fragte er grinsend und küsste mich sachte. Ich strich mit den Fingerspitzen sachte über seinen Nacken, sah ihn unter halb geschlossenen Lidern lasziv an und ließ ein spitzbübisches Lächeln aufblitzen. "Was denkst du denn?", fragte ich verrucht.
Mareks Hände fanden ihren Platz auf meinen Hüften, er beugte sich über mich. Wir standen in der Küche, zu meinem Rücken war die Eingangstür. Rahel und ihr Mann waren gefangen, sie konnten sterben, wenn ich nichts tat. Ich hatte keine Gefühle. Nur Erinnerungen, und Erinnerungen alleine konnten mir nichts anhaben.
Sein Mund fuhr über meinen und ich schlang meine Arme um seinen Nacken. Rahel, Rahel, meine kleine süße Schwester war in Gefahr. Nanny hatte mir beigebracht, dass ich mein Herz schützen musste, Rahel war in meinem Herzen, ich musste das durchstehen. Nanny war tot, aber ihre Ratschläge hatten großen Einfluss auf mein Leben. Gina hatte mir gesagt, ich sei geboren, um schwere Entscheidungen zu treffen. Meine beste Freundin hatte gesagt, dass ich, weil ich keine Gefühle besaß, die kühnsten und grausamsten Entscheidungen treffen konnte, ich konnte Menschen opfern, um das Allgemeinwohl zu retten. Wenn ein Passagierflugzeug auf ein Atomkraftwerk zufliegen würde, wäre ich diejenige, die die Maschine mitsamt ihren 300 Passagieren aus dem Himmel schießen würde, weil sonst womöglich Tausende von Menschen sterben würde.
Ich schlang ein Bein um Mareks Hüfte und blendete seine Berührungen auf meiner Haut aus. Nanny hatte mir solche Aufgaben gestellt, um mich zu trainieren. Wenn ein Zug auf einem Gleis fährt und dieses Gleis von 30 Menschen bevölkert ist, die nicht weg können, und es die Möglichkeit gibt, den Zug auf ein weiteres Gleis umzuleiten, das aber von 10 Menschen besetzt ist, was tut man? Ich hätte den Zug auf die 10 Menschen umgeleitet, hätte sie umgebracht, denn es waren weniger. Wenn eine Mannschaft sich auf Rettungsboote rettet, sie aber an Hungersnot nacheinander sterben, ist es dann Kannibalismus, die Toten zu essen, um am Leben zu bleiben?
Rette ich eine geliebte alte Frau, der nur noch ein paar Jahre bleiben, oder ein unbekanntes kleines Mädchen, dem noch sein ganzes Leben bevorsteht?
Diese Aufgaben halfen. Sie mir in Erinnerung zu rufen, mir zu überlegen, was meine Antwort darauf war. Mein Körper, dem über ein Jahr hinweg alles antrainiert wurde, was ich brauchte, übernahm die Arbeit und ich konnte alles ausblenden, nur noch an die Aufgaben denken und den Mund auf meinem vergessen.
"Was zum Teufel ist hier los?", fragte eine zitternde Stimme. Marek schreckte von mir weg und ich konzentrierte mich wieder auf das Hier und Jetzt. Mara stand im Türrahmen, ihr Gesicht blass vor Schock, ihre Augen weit aufgerissen.
"Das ist nicht das, wonach es aussieht", versuchte Marek, seine Schwester zu beschwichtigen. Vielleicht hätte er es nicht sagen sollen, wahrscheinlich aber hätte es keinen Unterschied gemacht. Schnell änderte sich das Entsetzen in Maras Gesicht zu blinder Wut.
"Wie konntest du nur?", brüllte sie. An wen dies gerichtet war, blieb unklar. "Ich habe doch gesagt, das wird niemals geschehen! Was fällt euch eigentlich ein?"
Eine dickte Träne quoll aus ihren Augen und rann über ihre Wange. Ärgerlich wischte Tjaras beste Freundin sie weg, aber weitere folgten. Tränen der Wut, Tränen der Trauer, des Verrats.
"Wie lange schon?", schrie sie, gleichermaßen laut und zornig und enttäuscht.
"Lange", antwortete ich tonlos.
"Und du benimmst dich, als wäre ich deine Freundin?" Zorn mischte sich mit Schmerz. "Wie kannst du mir das antun? Ich habe gesagt, ich will das nicht, du hast mir versprochen, da würde niemals etwas sein... du Verräterin!"
Tjara hatte mit ihrer Schilderung nicht untertrieben. Mara rastete völlig aus. Sie verlor die Kontrolle über ihre Freundschaft, über ihre Geschwisterschaft, über die Situation. "Ihr beide seid solche dreckigen Verräter! Ja, los, geht auf ein Zimmer, beendet das!"
Marek hob die Hände."Es ist nicht leicht, immer richtig zu handeln, okay? Es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders."
Mara schüttelte den Kopf. "Du bist nicht mein Bruder, du bist ein mieser Verräter, du bist ein Lügner! Sie ist meine Freundin, Marek, meine einzige Freundin, und du zerstörst das, wie du immer alles zerstörst!"
Sie stieß gegen einen Küchentopf, der scheppernd zu Boden fiel, und trat danach, tat sich weh, fluchte und weinte und schrie. "Mara, es musste irgendwann so kommen", fing Marek im gleichen, vorsichtigen Ton um, als würde er mit einer Zeitbombe sprechen. Nun, er hatte diese gerade ausgelöst. Sein Satz brachte das Wasser zum Überlaufen. Mara schrie noch etwas Unverständliches, dann drehte sie sich um, stürmte davon, durch die Tür nach draußen. Ich folgte ihr, in den Garten, sah, wie sie das Tor mit einem Code aufschloss und davonrannte. Mein Teil war getan, nun waren es die Benedicts, die den ihren dazutun mussten.
"Was sollen wir jetzt tun?", fragte Marek. "Gott, wie konntest du es nur so weit kommen lassen? Wieso hast du das überhaupt angefangen? Du musstest doch wissen, wie sie es aufnimmt! Tjara, ich habe dir häufig genug gesagt, dass sie das mit uns niemals erfahren darf!"
Ich biss mir auf die Unterlippe. "Darüber reden wir später. Ich muss los."
Marek funkelte mich an. Er gab mir die Schuld daran, dass Mara es erfahren hatte, er machte Tjara dafür verantwortlich. War sie auch, aber er hätte auch ruhig darüber nachdenken können, dass er sie nicht abgewiesen hatte. Ich nahm das Kopftuch, das ich zu einem Beutel umfunktioniert hatte und rannte Mara hinterher. Das Tor stand noch weit offen, sodass ich einfach hinterher konnte. Während des Rennens verlor ich Tjaras Bild aus dem Kopf, doch das war auch nicht mehr wichtig, ich hatte meinen Teil dieses Auftrags erledigt, ich konnte mir eine Pause von der Verstellung geben. Es tat überraschend gut zu rennen. Meine Füße flogen über den Boden, meine nachgewachsenen Haare wehten frei hinter mir her, und selbst als meine Atmung anfing, schwerer zu werden, genoss ich es noch.
Es dauerte nicht lange, da sah ich, wie die Benedicts Mara abfingen. Ich hatte sie aufgeholt. Xavier Benedict redete beruhigend auf sie ein, aber sie wollte weiter rennen. Schließlich packte die Frau sie, drehte sie so, dass sie ihr ins Gesicht blickte und redete auf sie ein, mit verschlossener Miene. Schließlich nickte Mara. Als ich näher kam, rannen ihr Tränen über das Gesicht. Trace Benedict entdeckte mich, wie ich rannte, er machte seine Begleiter auf mich aufmerksam.
Mara drehte mir ihr Gesicht zu, aber sie erkannte mich nicht, natürlich nicht, nun sah sie zum ersten Mal mein echtes Gesicht. Ich verlangsamte meine Schritte nur minimal, denn ich durfte nicht bei ihnen stehen bleiben. "Wir haben sie. Erklärst du uns jetzt, wieso?", fragte die Frau scharf.
"Bringt sie in Sicherheit", war alles, was ich ihnen zuwarf, als ich mich über die Motorhaube ihres Autos schwang und weiter rannte. Ich hörte ein wütendes Schnauben, weil ich wieder nicht auf ein Gespräch einging, hörte, wie die Frau ein paar aufgebrachte Worte zu Victor Benedicts agte, ich vernahm seine ruhige, besonnene Stimme antworten, aber konnte nicht verstehen, was er sagte. Jedenfalls wurde ich nicht aufgehalten.
Ein paar Häuserreihen weiter hinten, als ich mich Pjedros Team näherte, verlangsamte ich meine Schritte, bis ich ging. Ich musste Glück haben. Sie mussten herausfinden, dass Mara verschwunden war, sie mussten herausfinden, dass die Benedicts sich in der Stadt befanden und es verhindert hatten, sodass ich nichts mit ihrer Flucht zutun hatte. Und das musste geschehen, bevor sie Rahel umbrachten. Das Kopftuch ließ ich in den Staub fallen, ich brauchte es nicht mehr. Was mit Tjara geschehen würde, wusste ich nicht, aber freigelassen werden konnte sie nicht, sie würde überall herumerzählen, was ihr passiert war. Doch mit diesem Mord hätte Rahel nichts zu tun, es würde ihr nicht auflasten, denn er war nicht ihretwegen.
Ich strich meine Haare zurück, die vom Wind zerzaust waren. Das hatte ich lange nicht mehr gefühlt. Klar, in den letzten Tagen hatte ich mich wieder daran gewöhnt, keine Burka zu tragen, ebenso wenig ein Kopftuch, doch das Rennen erinnerte mich an Gina. Meine beste Freundin hatte nicht genug davon kriegen können, auf Häuser zu klettern und von einem zum anderen zu springen, auch wenn es in Kabul nicht gerade ungefährlich war, sich wie ein Dieb oder ein anderer Krimineller über Dächer fortzubewegen. Sie hatte den Adrenalinkick geliebt, und ich war mitgekommen, weil es mir egal war, was mit mir passierte. Ich wusste nicht mehr, ob ich es gemocht hatte oder nicht, doch die Erinnerung an meine Freundin war sicherlich nicht von der Hand zu weisen.
>Rahel?<, fragte ich während ich langsam meinen Weg durch die Gassen suchte. Anders als heute Morgen fühlte ich mich jetzt absolut stark genug, um Kontakt aufzunehmen, auch wenn sie sich noch weiter weg befand als zuvor. Meine Nachricht suchte sich einen Weg durch die Gassen, fliegend und zielsicher. Meine Schläfen begannen leicht zu pochen und mein Atem stach, doch ich hatte keine schwarzen Punkte vor den Augen, ich stolperte nicht und ich verlor nicht jeglichen Weltbezug.
>Bist du auf Drogen?<, fragte meine Schwester argwöhnisch. Noch nie hatte meine Botschaft sie so schnell erreicht, so leicht. Die Verbindung wurde mir wie immer abgenommen und ich spürte, wie ein schweres Gewicht von mir abgenommen wurde, aber trotzdem war es viel leichter gewesen als sonst.
Vielleicht war ich auf Drogen. Einer Droge, die ich nicht wollte, aber doch half sie mir in dieser Situation. Vielleicht war es ja Marek. Darin zu erkennen, wer ein Savant war und wer nicht, war ich schon immer schlecht gewesen. Ich brauchte es nicht, denn solange die Menschen es nicht von mir wussten, musste ich es auch nicht von ihnen wissen. Vielleicht war es auch einfach nur ein Klassenkamerad von Tjara. Kian. Oder so.
>Sie werden kommen. Beharre auf meine Unschuld. Zögere alles so lange wie es geht hinaus. Es wird alles gut werden, du musst sie nur aufhalten.< Ich stützte mich mit einer Hand an der Hauswand neben mir ab. Jetzt wurde mir doch ein bisschen schwindelig.
>Nila, mir gefällt das nicht. Wieso wirst du auf einmal so stark? Was verdammt ist bei dir los?<
Ich tastete mich an der Wand entlang, stand aufrecht, ging weiter. >Egal.<
Ich spürte die Wut am anderen Ende der Verbindung, die Sorge. Noch nie hatte ich so etwas spüren können, auch wenn Rahel mir beschrieben hatte, dass Menschen, die sich nahe standen oder sich schon sehr lange kannten, so etwas übertragen konnten. Von mir hatte sie noch nie etwas Derartiges empfangen.
>Das ist nicht egal! Du kannst nicht immer alles als egal abstempeln, nur weil du nicht drüber reden willst, Nila! Du bist es mir schuldig, mir wenigstens diese Frage zu beantworten.<
War ich das? War ich ihr etwas schuldig? Ich tat alles, um sie zu schützen, auch wenn ich das für mich tat und nicht für sie. Ich versuchte, sie und ihren Mann vor dem Tod zu bewahren, während sie ihn mir vorgezogen hatte. Ich war ihr nichts schuldig.
>Ist egal<, beharrte ich kühl.
Die Wut in Rahel schien zusammenzubrechen, von Sorge und Angst und Trauer erstickt. Meine Schwester, die sonst so stark war, litt unter ihrer Gefangenschaft. Es schien ihr zwar gut zu gehen, sie wurde gut behandelt, doch sie war kein freier Mensch mehr, bis ich es schaffte, sie hier rauszuholen. Und ich hatte keinen Plan, wie ich das anstellen sollte.
>Du bist eine verdammte Einzelgängerin<, schimpfte sie. >Du bist wie ein Tiger. Immer alleine, jagst alleine, lebst alleine, machst dir eigene Pläne. Dir ist alles egal, solange du am Leben bleibst, oder?<
Rahel hatte schon immer gerne Tiervergleiche gemacht. Sie war vernarrt in Tiere, in ihre Lebensart, in ihre Charakterzüge. Raubkatzen liebte sie ganz besonders. Sie hatte mir einst lang und breit einen Vortrag über Tiger gehalten. Es waren Einzelgänger, ihre Lebensräume variierten wild, sie konnten schwimmen, klettern, sie waren nachtaktiv und vom Aussterben bedroht. Tiger waren stille Lebewesen, sie gaben nur selten Laute von sich, in der Paarungszeit oder bei Angriffen ein Brüllen, das angeblich an einen dumpfen Schuss erinnern sollte. Sie jagten alleine und fraßen große Säugetiere, waren kräftig und leise und geschickt.
>Zögere es einfach heraus<, erwiderte ich und ließ die Verbindung zu ihrem Geist los. Rahel würde wütend sein, dann enttäuscht, und schlussendlich würde ihr wieder einfallen, dass ich mich immer so verhielt. Das war mein Verhaltensmuster; ich passte auf sie auf, aber ich baute keine besondere Beziehung auf, ich ließ sie keine Zuneigung spüren und ich weihte sie nicht in meine Pläne ein.
Pjedro und sein Team kamen in Sicht. Sie hatten sich an eine Hauswand gelehnt. Pjedro trug über der Schulter ein Gewehr, die Frau, die mich aus dem Gefängnis geholt hatte, hatte eine Pistole in der Hand, Mustaf, Doug und Sergio ihre Pistolen offen am Gürtel.
"Wo ist sie?", fragte ich, sobald ich vor ihnen stehen blieb. "Mara Andelier. Habt ihr sie gefangen genommen?"
Mustafs Gesicht verzerrte sich wütend. "Sie war nicht einmal hier! Du hast deinen Auftrag versaut, gleich deinen ersten."
Ich blickte ihn an. "Ich habe meine Arbeit gemacht. Ich habe sie aus dem Haus gejagt, von ihren Beschützern getrennt und in diese Richtung geleitet. Wenn ihr sie nicht erwischt habt, ist das wohl kaum meine Schuld."
Ein Schritt zu weit, und ich unterzeichnete Rahels Todesurteil. Wenn ich eine falsche Sache sagte, war meine kleine Schwester dem Tode geweiht, und mit ihr ihr Mann. Doch ich würde nicht falsch handeln, ich konnte das. Ich passte mich an, so wie der Tiger, ich täuschte Menschen und ich verschmolz mit meinem Hintergrund.
"Du hast deine Arbeit gemacht?", fragte die verschleierte Frau wütend. "Das nennst du deine Arbeit machen? Du hast sie nicht hier her gebracht, sie hockt wahrscheinlich noch sicher Zuhause und du hältst uns hier zum Narren. Ich hab's dir gesagt, Sergio, sie hat nicht das Zeug dazu!"
Sergio wandte sich an Doug und Mustaf. "Findet heraus, ob Mara Andelier noch Zuhause ist oder ob sie als verschwunden gemeldet worden ist. Beeilt euch. Pjedro, Larsa, ihr kümmert euch um sie. Sie muss unter ständiger Bewachung stehen, lasst euch nicht von ihrem Identitätswandel täuschen, sie ist gerissen."
Pjedro bohrte mir seinen Gewehrlauf unsanft ins Kreuz. "Was machst du, Sergio?", fragte er steif. Sergio musterte mich kurz, abschätzend. "Ich hole ihre Schwester und gebe ihr einen Ansporn, uns die Wahrheit zu sagen."
Ich hatte Rahel gesagt, dass sie sie holen würden. Wenn meine Schwester über die letzten Jahre nicht vollkommen ihr Wesen verändert hatte, würde sie sich trotz ihrer Wut auf mich bereit machen, würde alles tun, um ihre Exekution herauszuzögern, bis ich bewiesen hatte, dass Mara Andelier sich in den Händen der Benedicts befand und ich somit Unschuld an ihrem Verschwinden trug. Was nicht stimmte, aber die Organisation musste das zumindest glauben.
Pjedro schob mich mit seinem Gewehr vorwärts, bis ich mich in Bewegung setzte. Doug und Mustaf brachen in die Richtung auf, aus der ich gekommen war, mit einem letzten, vernichtenden Blick von Mustaf auf mich. Die Frau lief dicht zu meiner Seite, selbst wenn Pjedro das Gewehr runternehmen würde und mir somit eine Fluchtmöglichkeit darbieten sollte, sie würde mich erschießen, bevor ich drei Schritte getan hatte. Sergio ging in eine andere Richtung davon.
"Ich warne dich, wenn du nicht die Wahrheit sagst, ist es mit deiner Schwester aus", sagte die Frau bedrohlich. Ich zuckte mit den Achseln, was Pjedro dazu veranlasste, mir den Gewehrlauf reflexartig heftig in den Rücken zu bohren.
Der obligatorische SUV stand nicht weit weg, so schwarz und unscheinbar wie immer. Ich wurde auf einen hinteren Platz gedrückt, die Frau setzte sich neben mich und übernahm von Pjedro das Gewehr, der sich ans Steuer setzte. Der Wagen sprang mit einem Knurren an und wir fuhren los, schnell und achtlos.
"Hast du Mara Andelier in unsere Richtung gejagt?", horchte Pjedro mich aus.
Ich nickte.
"Wie hast du es getan?"
"Verrat."
"Was hast du getan?", fragte die Frau scharf, als meine knappen Reaktionen sie zu nerven begannen. Wenn ich ihnen erzählen würde, dass Tjara und Marek sich ebenfalls nahe standen, würden sie auf die Idee kommen, mich wieder dorthin zu schicken und Marek zu entführen, und diesmal würde ich ihn nicht schützen können. Als Mara konnten sie mich nicht zurückschicken, denn der Kraftaufwand, mich Tag und Nacht zu verstellen, weil ich ständig bewacht wurde, war zu groß, das wussten sie.
"Ihr erzählt, ich und ihr Bruder hätten was", antwortete ich ruhig. Die besten Lügen waren die, in denen ein Körnchen Wahrheit steckte, hatte Nanny gesagt. Solche waren schwerer als Lügen zu entlarven und leiteten die Belogenen in die Irre.
Pjedro fuhr uns in waghalsigem Tempo durch enge, dicht bevölkerte Straßen. Menschen stoben auseinander, wenn sie unseren Wagen anbrausen sahen, Standbesitzer retteten eilig ihr wichtigstes Hab und Gut vor der Staubwolke, die unsere Reifen hinterließen, Mütter zogen ihre Kinder von uns weg. Wir kamen wesentlich schneller voran, als ich es je mit einem Auto durch Kabul geschafft hatte, aber wie viele Menschen wegen Pjedros Fahrstil einen Herzinfarkt davontrugen und wie viele Waren verloren gingen, war schwer zu sagen. Viele.
Die Augenbinde wurde mir erst aufgelegt, als ich die ungefähre Richtung unseres Zieles schon geortet hatte, doch ich konnte nicht mehr bestimmen, in welche Richtung wir abbogen, weil alles gleichermaßen schwankte.
"Pjedro, willst du uns umbringen?", fragte auch die Frau irgendwann. "Fahr verdammt nochmal ein bisschen langsamer!"
Er gab ein Knurren zur Antwort, aber einige Minuten später schien der Wagen sich wirklich ein wenig zu verlangsamen. Die Befragung war schon lange aufgegeben worden, ich war kein Mensch, der bereitwillig Auskunft gab. Ein Handy klingelte, ein grelles, stetes Piepen, das erst aufhörte, als Pjedro sich mit barscher Stimme zu Wort meldete.
"Ja?"
Ich hörte ein Knacken, dann Stimmen, ein Rauschen, wieder Stimmen. Die Augenbinde bedeckte auch meine Ohren, sodass es umso schwerer war, etwas zu verstehen, aber dann erwiderte Pjedro eilig ein paar Worte und legte auf.
"Mara Andelier ist tatsächlich verschwunden, nach einem Streit zwischen ihr, ihrem Bruder und Tjara Sawbi", berichtete er. "Sergio macht sich mit Rahel auf den Weg." Das war gut. Sie hatten den Beweis, dass ich Mara wirklich verscheucht hatte, jetzt mussten sie nur noch den Grund finden, weshalb sie nicht bei ihnen angekommen war.
Als erstes roch ich es, dass wir angekommen waren. Durch Pjedros halb offenes Fenster wehte stets ein frischer Wind hinein, der die Stadtluft mit sich trug, doch als wir in die Parkhalle fuhren, veränderte der Geruch sich. Dann stoppte der Wagen und der Motor wurde abgedreht. Grob wurde mir die Augenbinde vom Kopf gerissen, meine Tür wurde von außen aufgemacht und ich konnte aussteigen. Die Frau rutschte hinter mir her, richtete das Gewehr auf meinen Kopf.
Ich wurde durch die mir inzwischen bekannte Halle geführt, zu der Tür. Die 1, die 4. Eine 6. Danach konnte ich nichts mehr sehen, weil Pjedro seinen Körper zwischen mich und das Tastenfeld schob.
Die Tür wurde aufgeschoben, ich wurde in den Gang gestoßen, von dem die Türen abgingen. Hier war das Badezimmer, in dem ich mich zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr gesehen hatte, in dem ich zum ersten Mal seit einem Jahr etwas anderes als einen Wasserschlauch zum Duschen benutzen konnte. Zwar waren auch die Duschen hier nur knapp und kalt, aber das war nicht weiter schlimm, ich war sauber gewesen, hatte Nahrung bekommen und ein vernünftiges Bett. Diesmal konnte ich von Anfang an nicht sehen, was Pjedro für Zahlen eingab. Seine Muskeln spannten sich, als er die schwere, dickte Eisentür aufschob. Sie war überraschend leise, schabte nur leicht über den Boden, sonst vernahm man von ihr keine Geräusche.
Hinter der Tür war der Raum mit dem langen Tisch.
Da war der alte Mann, saß am Tisch wie jedes Mal, diesmal löffelte er eine klebrige braune Masse aus einer Schale und trank dazu ein rotes Gebräu, zu dickflüssig für Wein, zu dünn für Tomatensaft. Als ich reingeführt wurde, blickte er von seinem unappetitlichen Mahl auf und legte den Löffel weg, den er gerade zum Mund geführt hatte.
"Sergio hat bereits eine Lagebeschreibung abgegeben", erklärte er, als Pjedro den Mund öffnete, um etwas zu sagen. "Er müsste bald da sein. Doug und Mustaf haben die Spur von Miss Andelier weiterverfolgt, es scheint zu stimmen, dass sie in eure Richtung gerannt ist, ohne von ihren Beschützern verfolgt zu werden. Aber sie ist nie bei euch angekommen. Irgendwo ist etwas passiert, und ich möchte wissen, wo und was und wie."
Die Frau stieß mich grob nach vorne, ich stolperte aber nicht, sondern ging gelassen ein paar Schritte auf den Tisch zu. Rahel war noch nicht hier, sie würde erst kommen, momentan konnte ihr noch nichts getan werden. Sie würden sie nicht auf der Fahrt umbringen, wenn überhaupt würden sie es vor meinen Augen tun.
War einer der Männer in diesem Raum vielleicht mein Seelenspiegel? Pjedro war es nicht, sein Alter stimmte nicht mit dem meinen überein. Der alte Mann auch eher nicht. Und ich hatte noch nie davon gehört, dass zwei Frauen seelenverwandt waren.
Der alte Mann sah mich an, Misstrauen und Abschätzung lag in seinem dunklen Blick. Verlor er schon den Gefallen an meinen Fähigkeiten? Selbst wenn, er würde Rahel und mich nicht gehen lassen, es brachte mir nichts. Eher noch, er würde uns umbringen, wir wussten zu viel. Das Interesse an mir musste bestehen bleiben, bis ich einen Weg nach draußen fand.
"Du hast Mara Andelier aus dem Haus in die Richtung von Pjedro gejagt?", fragte der alte Mann fürs Protokoll nach und klopfte mit seinem Löffel auf die Holzplatte des Tisches. Ich nickte. Das hatte ich getan. Nur hatte ich Leute geschickt, damit sie sie abfingen, bevor sie zu ihnen gelangen konnte.
"Bist du ihr hinterher gelaufen?", fragte der alte Mann weiter. Ich nickte abermals. War ich. Ich war gehend bei Pjedro und Sergio, der Frau, Doug und Mustaf angekommen, also gingen sie wahrscheinlich davon aus, dass ich Mara etwas Abstand gelassen hatte und dann gemächlich hinterhergegangen war, die Vermutung, dass ich gesehen haben könnte, wie sie weggeschafft wurde, war somit aus der Welt geschafft. Außerdem hatte ich die letzten Tage zwar ordentlich zu Essen bekommen, aber ich hatte eine harte Zeit hinter mir, die harten Zeiten waren immer noch nicht vorbei, ich war unterernährt und untrainiert, meine Kondition war nicht der Rede wert, ich litt unter akutem Schlafmangel, war mit Verletzungen auf die Straße und dann ins Gefängnis gekommen, die nie ganz hatten verheilen können und hätte, wenn ich Gefühle besäße, ein emotionales Wrack sein müssen. Es war ein Wunder, dass ich laufen und rennen und fliehen und denken und kommunizieren konnte. Dieses Wunder hieß Rahel. Solange meine kleine Schwester in Gefahr schwebte, konnte ich es mir einfach nicht leisten, Schwäche zuzulassen.
Pjedros Telefon klingelte schon wieder. Er zog es aus der Tasche, blickte stirnrunzelnd auf das Display, hob ab. Er senkteden Kopf, seine Augen glitten unruhig durch den Raum, er wechselte ein paar geraunte Worte mit den Menschen, die angerufen hatten. Dabei tigerte er auf und ab. Es schienen keine guten Nachrichten zu sein, die ihm gerade überbracht wurden. Dann legte er auf, sein Gesicht war düster und seine Muskeln angespannt.
Er wechselte einen Blick mit der Frau, dann ging er zu dem alten Mann, beugte sich zu ihm hinab und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Der alte Mann hielt sich mit der knochigen, runzligen Hand an der Tischkante fest, die Falten um seine Augen wurden tiefer, er presste die Lippen aufeinander. Pjedro richtete sich auf, verschränkte die Hände hinterm Rücken und wartete auf das Urteil des Mannes, der scheinbar ihr Anführer war. Dessen Blick richtete sich auf mich, er legte den Kopf schief, seine klugen Augen sahen mich nachdenklich an.
Dann richtete er sich auf und klatschte in die Hände, plötzlich lächelnd. "Oh, das sind tolle Nachrichten. Oh ja, ja, das wollte ich hören. Du hast Mara Andelier aus dem Haus gejagt, aber sie wurde abgefangen, Reva. Doug und Mustaf haben herausgefunden, dass die Benedicts hier sind, hier in Afghanistan. Du weißt, wer die Benedicts sind? Natürlich weißt du das. Ihr kennt sie alle, oder nicht? Weißt du, die Benedicts sind mir schon lange ein Dorn im Auge."
Der alte Mann setzte sich nicht wieder hin, er hatte auf einmal sehr viel Energie, seine klugen dunklen Augen funkelten. Er fühlte sich gut, hinterlistig, mächtig, ihn belustigte sein Vorhaben. "Victor Benedict hat nun wohl Mara Andelier gerettet, doch er wird sich nicht selbst retten können. Du weißt, dass er der einzige von ihnen ist, der noch auf der Suche nach seinem Pendant ist? Nun, du kannst dich verstellen, du bist einzigartig darin, du hast Mustaf und Doug getäuscht, auch wenn diese wussten, dass du es bist. Genau das brauche ich. Um deine Schwester zu retten, musst du wohl weg hier. Kannst du aufgrund einer Verbindung zwischen Savant seinen Menschen vortäuschen, den du noch nie gesehen hast?"
Ich hatte es noch nie versucht. Vor einem Jahr wäre ich mir sicherg ewesen, dass es ginge, aber ich nicht mächtig genug dazu wäre. Heute wusste ich, dass ich diese Macht vielleicht schon besaß, vielleicht würde sie morgen da sein, vielleicht in einer Woche. Jeden Tag kam neue Kraft dazu, und eine Verbindung zwischen einem Benedict und einem Mädchen würde mächtig genug sein, um mir dabei zu helfen. Wenn ich damit Rahel retten konnte, wenn ich durch Rahel mich retten könnte.
Ich nickte.
Der alte Mann wirkte äußerst zufrieden. "Perfekt. Absolut perfekt. Du wirst Special Agent Victor Benedicts Seelenspiegel verkörpern. Wozu auch immer er hier ist, wenn er deine Illusion sieht, wird er dich in Sicherheit bringen. Erzähl ihm irgendeine Geschichte darüber, dass Menschen hier dich jagen, er muss dich weg bringen. Halt ihn da. Klopf ihn weich. Und dann, wenn er deiner Illusion verfallen ist, bringst du ihn uns zurück. Nimmst in gefangen. Sergio und Doug werden euch hinterherfliegen, nach Amerika, sie werden sich irgendwo in einem nahegelegenen Bundesstaat einnisten. Du bist nicht frei, Rahel wird hier bleiben. Täusch den Benedict, bring uns sein Leben, und deine Schwester, ihr Mann und du seid frei, ihr könnt gehen, tun und lassen, was ihr wollt. Dann hast du deine Schuld bei uns abbezahlt."
Einen Benedict. Victor Benedict. Diese Augen. Aber ich würde damit Rahel und mich und ihren Mann freikaufen, wir würden fliehen und niemals wieder zurückkehren. Rahel und er könnten zurück nach Weißrussland, ihr Leben wieder aufnehmen. Und ich wäre weg, ich könnte wegreisen, die Welt sehen, sterben, Leute umbringen, egal was, ich wäre frei.
Ich musste nur Victor Benedict davon überzeugen, dass ich ihm alles bedeutete.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now