Kapitel 2)

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Die Augen verfolgten mich weiter. In den Schlaf, zu Esszeiten, wenn ich las, wenn ich schrieb, ja, selbst wenn ich zeichnete, war alles, was ich zu Papier brachte, zwei graue Augen, ernst und klug und berechnend. Sie spiegelten leicht mich wieder, in meiner schwarzen Burka, die mir bei meiner Gefangennahme aufgedrängt worden war, nur als Umrisse. Immer wieder starrte er mich an, sagte mir, dass er mein Weg in die Freiheit sei. Doch in meinen Augen wurden die Augen mit Blut gesprenkelt, Blut, für das ich verantwortlich war, Blut, das ich vergossen hatte. Und dann veränderten die Augen sich, der Blick wurde vorwurfsvoll und abgeneigt, so, wie er mich hätte ansehen sollen, als wir uns trafen.
Zwischen durch verlor ich wieder die Zeitrechnung, auch wenn ich die Tage auf einem Blatt datierte, fein säuberlich und winzig, damit alles auf eines passte. Ich hatte nicht genug, um noch mehr zu verschwenden. Seit einem Jahr und mehr trug ich jeden Tag dort ein, auch wenn ich die Daten nur schätzen konnte. Doch alles, was ich zustande brachte, wenn ich morgens aufwachte, waren forschende Augen auf pechschwarzem Grund, alles, was ich hörte waren seine Worte, das Angebot, mich hier rauszuholen, alles, was ich roch war der Geruch von Freiheit, der Illusion, die sie mir vorgegaukelt hatten.

Nanny hatte mir gesagt, dass es Liebe auf den ersten Blick nicht gebe, und daran hielt ich fest. Und es war ja auch kein Blick gewesen. Ich hatte sie nicht sehen können. Doch ich hatte mich in die Illusion von Freiheit verliebt, von dem Gedanken an Wind in meinen freien Haaren, dem fremden Geruch von Meer um meine Nase, den ich mir in meiner Kindheit erträumt hatte, wenn ich an den alten Muscheln roch, die Nanny aufbewahrt hatte, von ihrer Zeit dort draußen in der Welt. Ich hatte mich in den Gedanken verliebt, meine Hände an Felswände zu legen und nicht nur die Kohlen in der Hand zu halten, ich hatte mich in den Gedanken verliebt, etwas anderes als die kurzen, kalten und harten Wasserstrahlen auf meiner Haut zu spüren, die ich abbekam, wenn ich zum Duschen gelassen wurde.
Wenn ich mich bei meiner Zeiteinschätzung nicht vollkommen getan hatte, dann waren die Benedicts schon fünf Tage wieder weg, als ich abermals geholt wurde. Es war derselbe Wärter, der mich aus der Zelle führte, durch die Gänge zurück zu dem Raum, in dem ich schon meinen letzten Besuch erhalten hatte. Doch es waren nicht sie, die mich erwarteten. Wer genau es denn war, konnte ich schlecht sagen, doch die beiden Menschen, die mich empfingen, machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung mir gegenüber. Eigentlich sahen sie ganz normal aus, ein hochgewachsener, schlacksiger Mann, dessen Stirn zu hoch und dessen Augen zu tief waren, dunkel und recht freundlich, wäre da nicht der dünnlippige, harte Mund, die tiefen Falten um ihn herum, die seinen Hass ausdrückten. Die Frau war recht plump und klein, doch unterschätzte ich sie nicht. Sie war von Kopf bis Fuß verhüllt, ebenso wie ich, sodass ich sie nicht besser einschätzen konnte, es könnte also durchaus sein, dass sie unter ihrer Kleidung noch ganz andere Waffen versteckte.
"Nila", grüßte der Mann nicht unfreundlich. "Oder besser Reva? Was gefällt dir besser?"
Ich dachte, dass sie es nicht schaffen würden, hier herein zu kommen. Doch da waren sie, standen vor mir. Hier könnten sie mich nicht töten, nicht, wenn ihnen ihr eigenes Leben etwas wert war, denn auch wenn das Leben meiner selbst hier nicht viel bedeutete, allein des Rufes wegen konnte sich das Gefängnis nicht leisten, einen Mord ungeschoren davon kommen zu lassen, wenn er direkt vor ihren Augen statt fand.
"Reva", antwortete ich und setzte mich ungefragt auf den Stuhl, damit das Zittern meiner Beine nicht zu einem Sturz führte. Nila war ein Kind gewesen, unschuldig und mitgenommen, misshandelt. Reva war die Frau gewesen, die dem ein Ende bereitet hatte, die sowohl die Unschuld als auch mein Dasein als Geschändete. Keine Tat, für die ich mich rühmen konnte, aber wie sollte ich mich dafür anprangern, wenn es mir doch geholfen hatte?
"Nun, Reva, du kannst dir sicher denken, was wir hier tun."
Oh ja, das konnte ich. Nicht, dass ich es mir denken können wollte, doch darauf vorbereitet zu sein könnte es besser machen. Vielleicht waren die Beiden ja Selbstmordattentäter. Dann würden die Wärter und Überwachungskameras mir auch nicht mehr helfen.
"Kannst du dich noch an deine Schwester erinnern, Rahel?", fragte die Frau mit dumpfer Stimme unter ihrer Burka. Natürlich tat ich das. Rahel, meine süße, witzige Schwester, die jede noch so düstere Stimmung aufzulockern wusste. Rahel, die verheiratet worden war und mit ihrem Mann nach Weißrussland zog. Rahel, die ich nie wieder gesehen hatte, die mir nie auch nur eine Nachricht hatte zukommen lassen. Ich wusste, dass sie diesen Mann aufrichtig geliebt hatte, dass er sie geliebt hatte. Sie war weit weg gezogen und hatte mich hier zurück gelassen.
Zum ersten Mal wurden mir die geringen Vorteile der Burka schlagartig bewusst. Solange ich keine ruckartigen Bewegungen machte, war es beinahe unmöglich, meine Reaktionen einzuschätzen. Ich blieb verdeckt.
"Rahel geht es gut, keine Sorge. Aber das muss nicht so bleiben, weißt du. Deine Schwester befindet sich momentan unter unserer Obhut, und wir denken, das wird auch so bleiben. Es sei denn, du bist nicht bereit zu kooperieren."
Mit dem Leben meiner Schwester wollten sie um meine Kooperation verhandeln. Es ging nicht mehr darum, mich den Preis zahlen zu lassen, jetzt hatten sie eine andere Verwendung für mich gefunden, jetzt wollten sie mich benutzen, um bei ihren Mafiageschäften einzuspringen. Skrupel, was waren Skrupel? Die hatte ich schon verloren, als ich einem Mann das Leben nahm, vielleicht früher, vielleicht schon, als ich meinem Vater den Tod wünschte. Und auch wenn ich mich damit brüsten könnte, ich hätte ein Herz aus Eis, Eis konnte schmilzen, und Rahel war meine Sonne, brennend heiß und strahlend und überlebenswichtig.
"Kooperieren?", grunzte ich. Die schlichte, harte Wahrheit war, dass ich für Rahels Leben alles tun würde. Ich würde mein Leben für das ihre geben, ich würde andere opfern, ich würde zum Mond reisen, wenn ich nur meine süße kleine Schwester schützen konnte. Genau erinnerte ich mich an ihr herzförmiges, rosiges Gesicht, an die riesigen, ehrfürchtigen, rehbraunen Augen, an das reine, sanfte Lächeln, an ihre niedlichen Grübchen und an ihre kurzen Haare, die einfach nicht wachsen wollten.
Die Frau schien zu lächeln, jedenfalls hörte es sich so an, als sie weitersprach: "Genaueres wirst du draußen erfahren. Steh auf, beeile dich, wir haben noch viel vor."
Vor Jahren war ich aus der Hölle geflohen, und dann war ich zu ihm gekommen, dem Mann, dessen Namen ich nicht gewusst hatte. Ich hatte ihn getötet, um meinem Leid ein Ende zu setzen, und musste dafür büßen, und jetzt verkaufte ich meine Seele, um meiner Schwester zu helfen, doch ich wusste, ich tat das richtige. Nicht moralisch, oh nein. Rahel war ein Mensch wie jeder andere, und ich wusste nicht, wie viele andere Leben es kosten mochte, sie zu schützen, doch es war das richtige für mein geschundenes Herz, für mein dunkles Gewissen, für meine gesplitterte, blutige Liebe für sie und für meine Schwester, das süße Ding, das einfach in der falschen Welt geboren worden war.
Rahel würde niemandem etwas zu Leide tun, nein, sie war nett, freundlich, hilfsbereit. Schwach nicht, das konnte man sich in einer solchen Welt nicht leisten, doch ihre Stärke lag in der Wärme, in der Liebe. Das ausgerechnet dieses Mädchen jetzt dafür bezahlte, dass ich egoistisch und feige mein Leben gerettet hatte, statt an die Konsequenzen zu denken, die es für sie haben könnte, dieses Mädchen, für das ich alles aufgeben würde.
Still stand ich auf, mit sicheren Beinen nun, die Hände ineinander gefaltet, den Kopf erhoben. Ein Mädchen wie Rahel gehörte nicht in eine solch grausame Welt, ich jedoch passte hier her. Hier, zu den Mördern und Dieben und Treulosen, zu denen, die immer erst ihren eigenen Hintern retten würden, bevor sie an andere dachten. Es lag nicht an Furcht, das nicht. Angst vor meinem Tod hatte ich nicht, denn der war schon da. Niemals würde ich mich für jemanden riskieren, wenn ich mir dahinter nichts erhoffte. Und ich würde Rahel retten, denn ihr gehörte mein Herz, und das würde mit ihr sterben, und mir würde dies nicht helfen.
Ich wusste nicht, was ich mitnehmen durfte, nach draußen, doch das war auch nicht wichtig. Nichts hiervon bedeutete mir etwas, nicht die Bücher, die ich gelesen hatte und sowieso auswendig kannte, nicht die unzähligen Zeichnungen, die ich versteckte, nicht meine Texte und nicht die Liste mit Tagen hinter Gittern.
Die grauen Augen, die mir die Illusion der Freiheit vorgehalten hatten, hätten meine Rettung sein können, denn die Organisation hatte es auch hier geschafft, mich abzugreifen, denn sie hatten ein Druckmittel. Victor Benedict hätte mein Leben retten können, hätte ich gestern zugestimmt, ganz gleich, welches Spiel er mit mir spielen mochte, ich hätte gewonnen. Doch ich konnte mich nicht selbst besiegen, und genau das wäre es, wenn ich die Organisation nun überlisten würde. Meine Schwester, der beste Teil meiner selbst, war bei ihnen, und sie würde sterben, widersetzte ich mich.
Vielleicht hätte ich den grauen Augen in die Freiheit folgen sollen. Hätte ich nie von Rahels derzeitigen Lebensumständen gehört, hätte mein Herz auch nicht brechen können, und ich wäre frei, so frei wie man eben sein konnte, wenn einem der Feind im Nacken saß.
Doch ich hatte gezögert, und dieses Zögern würde mir das Leben kosten.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now