Kapitel 20)

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„Du lügst fabelhaft", bemerkte Lake auf unserem Rückweg. Ihre Stimme klang erfreut, doch
ihren Gesichtsausdruck konnte ich wegen der Maske nicht recht deuten. Sie schien mit sich zu
ringen, ob sie es gut finden sollte, eine weitere pathologische Lügnerin gefunden zu haben, oder ob sie sich Sorgen machen sollte, weil ich mich als ihre Gegnerin als große Gefahr entpuppen könnte.
Ich schwieg. Wir hatten die Schule weit hinter uns gelassen, ohne weitere Zusammenstöße mit Menschen, denen ich nicht begegnen sollte. Zed hatte uns nicht gehen sehen, denn als Sheena ihre Erzählungen beendet hatte, hatte der Unterricht bereits begonnen.
„Und du schauspielerst phänomenal. Allerdings gehört das wahrscheinlich zu deiner Gabe." Lake beobachtete mich mit zusammengekniffenen Augen und versuchte ganz offensichtlich, mir eine Reaktion zu entlocken, die ihr mehr Auskünfte über mich geben könnte, doch ich würde ihr diese nicht liefern. Rahel stand auf dem Spiel, und wenn meine Schwester in Gefahr war, spielte ich mit gezinkten Karten.
„Woher wusstest du, dass Sheena dir in die Falle gehen würde, wenn du dich gegen ihre Schwester stellst? Das Risiko wäre dir zu groß, oder nicht? Du wusstest es, aber woher?"
Lake war vielschichtig. Ich wusste, dass sie Lügen über sich erzählte, wenn das Gespräch zu nahe an Fakten kam, die sie lieber verheimlichen wollte. Lügnerinnen zu knacken war schwierig. Nanny hatte mich schon vor vielen Jahren davor gewarnt, denn bei Lügnerinnen konnte man sich nie sicher sein, welchen Teil der Wahrheit sie verbergen wollten, zu welchem Preis, wieso. Aber ich musste es versuchen, denn wenn ich weiterhin schwieg, würde mir das teurer zu stehen kommen als wenn ich einen Fehler beging.
„Meine beste Freundin von früher hatte eine Schwester. Sie war Sheena ziemlich ähnlich. Gina und ihre Schwester standen in ständiger Konkurrenz um die Liebe ihrer Eltern, um den besten Freund, um die besten Noten und die meisten Freunde. Sheena hatte die gleiche Art an sich."
Lügner trifft Lügner. Nur dass ich log, weil ich keine andere Wahl hatte, weil ich meine kleine Schwester schützen musste, weil Leben auf dem Spiel standen. Ob Lake überhaupt einen Grund zu lügen hatte, wusste ich nicht. Und es war nicht von Belang. Ihre Gründe, ob nun existierend oder nicht, würden Rahel nicht umbringen.
„Du hast wirklich Glück, dass ich Lügen mag. Und dass ich weiß, wie schwierig es ist, Geheimnisse vor dieser Benedict-Bande zu verstecken. Sonst wärst du jetzt dran."
„Ich lüge nicht", behauptete ich.
„Die Wahrheit erzählen tust du aber auch nicht", erwiderte Lake und zwinkerte mir zu. Dann wandte sie sich dem weitläufigen, modernen Gebäude zu, das sich direkt vor uns in den Himmel erhob. „Wir sind da."
Hinter der Drehtür, die uns in das Gebäude ließ, schlug mir kühle Luft entgegen. Aufgrund der Tatsache, dass es noch sehr früh war, war das Kaufhaus noch sehr leer. Ein paar ältere Paare liefen herum und erledigten ihren Monatseinkauf, in einem Eiscafé saßen ein paar Teenager, die höchstwahrscheinlich Sport schwänzten, und wenige, sehr durchtrainierte Mittzwanziger kamen mit Sporttaschen über den Schultern aus der Richtung, in der von einem großen Plakat angekündigt ein Sportstudio lag.
„Zed und Sky kommen später, wenn sie mit Schule durch sind", erklärte Lake, als ich nichts mehr von mir gab und die Stille sie zu stören begann. „Die anderen warten bei Starbucks auf uns."
Lake schlug einen sehr direkten Weg durch das Center ein, was erahnen ließ, dass Starbucks ein häufig besuchter Ort war. Café, angesehen, empfehlenswert, Trend. Rahel hatte Starbucks immer geliebt. Ferngeliebt. Wie so viele Dinge. In dieser Hinsicht war meine Schwester meiner besten Freundin sehr ähnlich. Sie waren in Dinge vernarrt, die sie nie haben konnten, nie sehen konnten, nie besuchen konnten. Vielleicht war das einer der Gründe gewesen, weshalb ich sie so liebte. Ich konnte ihren Schwärmereien zuhören und fühlte mich dann ein bisschen menschlicher. Ich selbst hatte Sehnsucht zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr fühlen können.
Die Menschen machten einen sichtlichen Bogen um die Benedicts. Es war nicht so, als würden sie sie nicht mögen, als würden sie sie ausgrenzen, es war viel mehr Respekt, der sie dazu bewog, Platz zwischen sich und der Familie zu lassen. Mehrere Teenager - Jungen wie Mädchen - beschäftigten sich eingehend mit der Musterung der Benedicts, aber das bezog sich auf das Aussehen derer. Trace und Diamond gaben irgendeine Geschichte zum Besten und gestikulierten dabei fröhlich, während Xavier mit zusammengekniffenen Augen herauszufinden versuchte, wie verlässlich und glaubwürdig die Erzählungen waren. Victor hörte geduldig zu, aber die Tatsache, dass er seinen Blick fest auf eine Gruppe kiffender Jugendlicher geheftet hatte, ließ an seinem Interesse zweifeln. William hatte sich lässig auf einem Sessel gefläzt, beschäftigte sich mit seinem Handy und hämmerte mit den Fingern rhythmisch auf die Tischplatte vor sich, was wohl eher automatisch geschah als wirklich bewusst.
Lake zupfte an meinem Ärmel und bedeutete mir, mich nicht zu erkennen zu geben. Dann zog sie mich mit sich an die Bar, direkt hinter die Benedicts, die uns nicht sahen.
„-aber nachdem Trace Pete zerstört hat und Lake sich Pete 2.0 gekauft hat, ist Alice auf wundersame Weise schon wieder kaputt gegangen", erzählte Diamond kopfschüttelnd. Victor richtete seinen Blick über die Köpfe der Erzählenden auf uns, aber auch wenn er uns erkannte, blieb seine Miene ausdruckslos. Lake grinste ihn dankbar an.
„Trace geht davon aus, dass Lake sie sabotiert hat. Jetzt ist Pete 2.0 auch im Eimer. Also um deine Frage zu beantworten, meine Geräte lagern sicherheitshalber bei Crystal."
„Sehr interessant, das mit Pete 2.0", bemerkte Lake und trat in Diamonds Blickfeld.
Die riss die Augen auf und warf Trace einen entgeisterten Blick zu, der sehr viel geschockter darauf reagierte, dass Lake von seiner Sabotage an was-auch-immer wusste. Doch bevor er sich damit auseinandersetzte, warf er Victor einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Solltest du nicht Ausschau halten?", fragte er.
„Er hat Ausschau gehalten", seufzte Xavier und zuckte die Achseln. „Nur gilt Vics Treue nicht mehr uns, Trace. Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, Lake, immerhin kannst du eigentlich nichts anderes als nerven, aber mein geliebter Bruder lässt uns für dich immer im Stich."
„Ihr überdramatisiert", gab Victor bekannt, aber ihm wurde keine Beachtung geschenkt. Von Seiten der Benedicts aus nicht, weil diese soeben von ihm verraten wurden, von Lake nicht, weil die sich Hals über Kopf in eine hitzige Diskussion mit Trace stürzte, was das Zerstören der gegenseitigen Besitztümer anging.
„Habt ihr erledigt, was ich nicht wissen durfte?", fragte Victor mich, als ich einen Schritt aus dem Schlachtfeld rausging und neben ihm zum Stehen kam.
„Jetzt schon Geheimnisse?", spöttelte Will, der seine Aufmerksamkeit für einen kurzen Augenblick von seinem Handy abwandte, um den Streit zu verfolgen, der sich nun zwischen Trace und Lake anbahnte.
„Haben wir", bestätigte ich an Victor gewandt knapp. Ich merkte, dass er mich scharf ansah. Er war nicht beleidigt, das wusste ich. Auch nicht enttäuscht oder wütend. Es war eine Spur von Misstrauen, die ihn dazu bewog, mich so anzusehen. Und ich wusste, was zu tun war.
Grau traf auf Bronze, als ich meinen Blick zum ersten Mal nicht ungerührt abwandte. Nicht etwa, weil ich ihn ansehen wollte. Aber ich wusste, wenn er mich lange genug ansehen würde, würde ich ihn daran erinnern, was er auf meinen Bildern gesehen hatte. Den Schrecken meiner Vergangenheit. Und sobald er sich dessen entsann, würde er wieder wissen, dass er sich auf meine Seite gestellt hatte.
Er hatte mich akzeptiert, mit allem, was ich mit mir brachte, und das musste ich ihm nur in Erinnerung rufen.

Das Misstrauen wich aus seinem Blick. Ich wusste, tief in ihm drin war es noch, aber es richtete sich nicht mehr direkt gegen mich. Es richtete sich gegen seine Entscheidung, mich so zu nehmen, wie ich kam. Er könnte damit den größten Fehler seines Lebens begangen haben. Ich hatte bis jetzt nichts getan, was ihn davon überzeugen könnte, dass ich auf seiner Seite stand. Ich hatte ihn nicht akzeptiert, ich hatte ihm nichts erzählt, ich log, und er wusste es. Aber ich war Victor Benedicts Seelenspiegel, und er gab mir eine Chance.
„Sehr süß, ihr beiden", frotzelte Lake, „aber wir haben noch Besseres zu tun als zu messen, wer der bessere Manipulator ist. Di, du und Sky und Trace, ihr kümmert euch um Kleidung für Tiger. Zed, Will und ich kaufen den Rest, den Tiger an Privatgegenständen braucht. Vicki, Tiger, ihr beide kümmert euch um euer Haus, ihr könnt nicht zu zweit in einer zwanzig Quadratmeter Wohnung leben. Xavier, du tust, was du nicht lassen kannst, und gehst nachher mit Tiger zum Arzt. Noch irgendwelche Fragen?"
„Ja." Diamond sah Lake an und zog neckisch eine Augenbraue hoch. „Haben wir Mitspracherecht bei irgendetwas oder wirst du die Planung für unseren restlichen Tag übernehmen?"
Lake winkte ab und platzierte sich auf Wills Schoß. „Mitspracherecht ist überbewertet, ich regle euren Zeitplan für euch."
Will küsste sie aufs Haar und fügte grinsend hinzu: „Lake ist nicht ausgeschöpft genug, wisst ihr? Das Training als Personenschützerin ist ihr zu leicht. Vic, möchtest du ihr vielleicht helfen, ihre Energie abzubauen?"
Lake riss die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf, doch da war es schon zu spät. „Morgen, 6 Uhr, Lauftraining", kündigte Victor todernst an.
„Wie weit?", jammerte Lake und rieb sich demonstrativ die Oberschenkel. „Ich habe immer noch Muskelkater vom letzten Mal."
„Dann musst du wohl mehr trainieren", foppte Will und kitzelte Lake in der Seite, ließ sie aber nicht los, als sie windend versuchte, ihre Freiheit zurückzuerlangen.
„15 Kilometer."
Lake starrte Victor an, als hätte er ihr gerade ihren anstehenden Tod durch Verbrennen verkündet. „15? Um 6 Uhr? Ich wusste ja, dass du keine Ahnung von Menschen hast und was die tun können und sollten und wollen, aber das kannst doch nicht einmal du für möglich halten. Ich bitte dich. Läufst du um 6 Uhr 15 Kilometer?"
Trace fing an zu grummeln, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum und Xavier hustete prompt los. Lake schnitt eine Grimasse und murmelte etwas von wegen, dass ihr auch gerade aufgefallen wäre, mit wem sie redete. Diamond war vollkommen traumatisiert alleine von der Vorstellung, die Aufgabe, die Victor Lake stellte, zu bewältigen.
Lakes Blick glitt suchend über die umstehenden Benedicts, als wolle sie jemanden finden, mit dem sie ihr Leid teilen konnte, und Victor schob seinen breitschultrigen, großen Körper ein Stück vor mich.
„Netter Versuch, Vicki. Tiger, läufst du gerne?" Lake lächelte teuflisch.
Sport. Cheerleading. Ich zuckte mit den Achseln und rief mir ein Bild von Sheena vor Augen. Leichter wäre es, wenn ich Donna kennen würde, wenn ich sie gesehen hätte, wenn ich mir ein eigenes Bild von ihr hätte machen können, doch sie lebte zu weit weg. Also musste ich mich an dem orientieren, das ich durch ihre sie hassende Schwester über sie herausgefunden hatte.
Lake klatschte sich schadenfroh in die Hände. „Dann sind wir ja schon zu zweit. Oder, Vicki, möchtest du deine Entscheidung vielleicht zum Wohle deiner neugefundenen Freundin überdenken und unseren Termin auf einen Zeitpunkt verschieben, an dem ich nicht als schlafwandelndes, sich dem ersten Kaffee entgegensehnendes und von deiner unmenschlichen, gefühlskalten Grausamkeit zutiefst getroffenes Wesen in menschlicher Gestalt herumgeistere und meine physische sowie psychische Gesundheit aufs Spiel setze, nur um deiner sadistischen Ader eine Genugtuung zu geben, die vom Verlust deiner ersten Liebe geschwächt werden würde?"
„Welche psychische Gesundheit?", kam von Trace, der als Einziger nicht baff von der Kunst war, mit der Lake Wörter aneinanderreihte, ohne auch nur einen einzigen Moment zögern zu müssen, um ihre Wortwahl zu ersinnen. Mit Ausnahme von Victor. Er war nicht baff, er schien ernsthaft darüber nachzudenken, ob er es mir antun konnte, mich mich Lake auf einen derartig langen Ausflug zu schicken. 
Xavier nahm es ihm ab, indem er mit der Gewissheit jahrelanger ärztlicher Erfahrung zum Ausdruck brachte, mein gesundheitlicher Zustand wäre noch lange nicht gesichert genug, als dass ich einer körperlichen Anstrengung jener Ausmaße ausgesetzt werden dürfte.
Lake setzte gerade zu einer erneuten Klagerede über Victors bestialischen Trainingsplan an, als Will entschloss, sie abzulenken und kurzerhand aufstand, was seine Freundin dazu brachte, gezwungenermaßen ein paar Schritte zur Seite zu gehen und uns damit dem Ende dieser Versammlung ein Schritt näher brachte.
„Ihr zieht um?", fragte Diamond, die zwanghaft nach einem Themawechsel gesucht zu haben schien.
„Ich habe ihn überzeugt, mit dem Umzug auf Tigers Ankunft zu warten, damit sie ein Mitspracherecht - das entgegen meiner vorherigen Behauptung scheinbar doch nicht unnötig zu sein scheint - darauf hat, wo sie ihre nächsten Lebensjahre verbringt, es sei denn, die beiden haben vor, alle drei Monate umzuziehen, was ich anhand von Victors irritierender Missachtung aller menschlichen Regungen im Bezug auf Wohnbegebenheiten und dem Umstand, dass Tiger das letzte Jahr im Gefängnis zugebracht hat, für höchst unwahrscheinlich halte."
Victor machte sich nicht einmal die Mühe, Lakes Auskunft zu bestätigen. Bis wirklich alle der Benedicts den Schwall von Worten in die richtige Reihenfolge gebracht und korrekt gedeutet hatten, dauerte es noch ganze dreißig Sekunden. 
Diamond und Trace seilten sich so schnell es ging ab und verschwanden in Richtung des Modeteils des Einkaufszentrums, um nicht in einen weiteren von Lakes Erklärungsdialogen zu geraten, Xavier folgte ihnen um die Apotheke zu besuchen, bevor er mit mir zum Arzt ging, Will und Lake brachen auf, um die ersten Erledigungen zu machen, bevor Zed ankam und Victor und ich blieben ein Mal mehr alleine zurück.
Schweigend führte er mich zu dem Büro eines Immobilienmaklers, an dessen Schaufenstern Anzeigen für leerstehende Apartments und Häuser in Denver und der näheren Umgebung waren, die man kaufen konnte.
„An was hattest du gedacht?", fragte ich und betrachtete die Bilder. Sie zeigten größtenteils großflächige, flache Neubauhäuser oder winzige Wohnungen in Apartmentkomplexen mit Feuertreppen außen und bunt angemalten Blechplatten statt Ziegeln. 

„Nicht an so etwas", antwortete er, als er meinem Blick gefolgt war. Leicht berührte er mich an der Schulter und nickte in Richtung einer anderer Art von Bildern. Als ich näher trat, erblickte ich darauf eine Ansammlung von weitaus luxuriöseren Immobilien. Es waren nicht alles Häuser und sonderlich groß war es auch nicht alles, aber sie hatten mehr Klasse.
Es gab imposante Altbauten aus Stein, moderne Neubauten mit Fensterfronten, die einen angepriesenen Ausblick auf die Rocky Mountains hatten und große, renovierte Holzhäuser im Wald. Apartments, die vom Prinzip her Victors derzeitigem sehr ähnelten, nur mehr Platz hatten. Apartments, die mit kunstvollen, architektonischen Meisterwerken Käufer anwarben und Fünf-Sterne-Hotels, deren Zimmer mit mächtigen King-Size-Betten, fünf Meter Duschen und Dachterrassen prahlten.

„Was brauchen wir?", fragte ich und ließ meinen Blick über die Aushänge schweifen. „Zwei Schlafzimmer, Bad, Garage, Büro."
Er trat neben mich. „Küche oder Esszimmer, ein zweites Büro."
Als ich ihm einen kurzen Seitenblick schenkte, betrachtete er ausdruckslos die Blätter. Er schien meinen Blick zu bemerken und sah mich an, doch nicht vorwurfsvoll oder wütend. Entweder, es war ihm egal, dass ich auf zwei Schlafzimmer verwies, oder er hielt mit seinen Gefühlen sehr gut hinterm Berg.
„Was ist dir wichtig?", wollte er wissen und sah wieder zu den Aushängen.
Wichtig? Was würde ich brauchen? Ein eigenes Schlafzimmer, in dem ich die Dinge verstecken könnte, die ihm nicht unter die Augen kommen durften. Eine Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen, ohne dass er es jedes Mal mitbekam und mich fragte, wohin ich ging. 
„Hinterausgang."
Vielleicht wäre Donna ein Hinterausgang nicht wichtig gewesen, doch sie hätte gesagt, was sie wollte, und ich hatte ein Jahr im Gefängnis verbracht und war vorher von einem Mann gefangen gehalten und missbraucht worden - Victor würde meinen Wunsch nach einer Fluchtmöglichkeit auf meine Vergangenheit schieben, nicht auf meine Zukunft.
„Sonst? Haus oder Apartment?" Er quittierte meinen Wunsch noch nicht einmal mit einem fragwürdigen Blick oder gar einem Kommentar, er nahm es einfach hin. Seine Akzeptanz war unbezahlbar, und wenn ich ihn auslieferte und zum Tode verurteilte, würde er wissen, was für einen Fehler er gemacht hatte, Vertrauen in mich zu setzen.
„Vorteile, Nachteile?"
Er blieb an dem Bild einer Wohnung in einem ruhigeren Teil von Denver hängen, der in der Nähe des Highways lag, der zu dem kleinen Ort führte, in dem seine Eltern und ein Teil seiner Brüder noch lebte. Es war ein Penthouse auf einem modernen Mehrfamilienhaus, das sich an einen Hügel schmiegte, sodass man vom Penthouse aus direkt auf die Spitze des Hügels kam und nicht somit einen getrennten Eingang vom Rest des Hauses hatte, der am Fuß des Hügels lag.
Es hatte sechs Zimmer, jedes einzelne mit einem großen Fenster ausgestattet, eine schmale Dachterrasse, ein großes Badezimmer und einen Hinterausgang, der über eine schmale Holztreppe auf den Boden führte, die an der Rückseite des unteren Hauses angebracht war und nicht so wirkte, als wäre sie in den letzten zehn Jahren jemandem aufgefallen.
Das untere Haus war nicht verkauft.

„Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?", fragte eine Frauenstimme hinter unserem Rücken. Unwillkürlich trat ich einen Schritt auf die Wand zu, die vor mir stand, um Platz zwischen mich und die Unbekannte zu bringen, bevor ich mich umdrehte und sie ansah. Sie sah kurz über meine schnelle, abwehrende Reaktion verwirrt aus, aber Victor lenkte ihre Aufmerksamkeit wie von selbst auf sich.
>Was hältst du davon?<, fragte er mich, ohne seinen Blick von ihr zu nehmen. Er hatte nicht so schnell reagiert wie ich, doch mir entging nicht die schnelle, professionelle Musterung, derer er sie unterwies, wie er sie nach möglichen Gefahren absuchte, ähnlich wie ich zuvor, nur gründlicher.
Ich antwortete nicht, aber das brauchte ich auch nicht. Wenn er spüren konnte, dass ich krank war, dann konnte er auch spüren, dass ich dem Penthouse nicht abgeneigt war. Es hatte separate Zimmer, einen Hinterausgang, der mir eine sofortige Flucht ermöglichen konnte, und auf der einen Seite eine Stadt, in der ich untertauchen konnte, auf der anderen Seite einen Wald, der mich verstecken konnte, und noch einen Highway, falls ich anders entkommen wollte.

„Wir wollen uns das Penthouse ansehen", antwortete Victor und deutete auf den Aushang. Die Frau lächelte ihn kurz wohlwollend an, studierte das Ausgewählte und fing dann an, Formalitäten aufzuzählen.
Termine, an denen sie uns das Haus zeigen könnte, Kosten, alles.
Ich hörte ihnen zu, ließ es aber Victor regeln. Ich hatte noch nie ein Haus gekauft - ich wusste nicht, wie man so etwas verhandelte. Nächstes Mal würde ich mich damit auskennen. Während ich mein Gehör den Verhandlungen schenkte, blieben meine Augen auf der Suche nach möglichen Gefahren an den Teenagern hängen, die sich zuvor in verschiedenen Gruppen im Kaufhaus verteilt hatten. 
Sie hatten sich allesamt vor der Fensterscheibe versammelt, hatten ihre Handys gehoben und starrten uns schamlos an. Natürlich starrten sie uns an. Gerüchte mussten in die Welt gesetzt werden, und irgendwoher mussten Gina und Rahel ihr Wissen über die Benedicts ja gehabt haben. Ich hätte es erwarten müssen.
„Tiger", sagte er leise. Ich spürte seine kühlen, schlanken Finger an meiner Hand, und ich ließ zu, dass er sie nahm. „Beachte sie einfach nicht."
Ich schluckte und wandte mich ab. Es gab immer mehr Zeugen, und die würden ein Problem darstellen. Nicht, wenn ich Victor auslieferte, denn niemandem würde es komisch vorkommen, wenn ich mit ihm gesehen würde. Das Problem würde erst aufkommen, wenn ich auf der Flucht war. Victors Leiche würden sie finden, meine nicht. 
Wenn ich trainierte, würde ich bis zu diesem Zeitpunkt, je nachdem, wie lange ich brauchte, um Victors Zuneigung zu gewinnen, schon tagelang ein anderer Mensch sein können, ohne dass es mich zu viel Kraft kostete - solange ich genug Nahrung kriegte. Victors Anwesenheit alleine kräftigte mich mit jeder Minute, die wir zusammen verbrachten, mehr, und der kurze Wortaustausch über Telepathie, die Berührung an meiner Hand, das alles ließ mein Energielevel in die Höhe schießen. Mit Übung und immer mehr davon würde ich die Flucht vielleicht trotz der vielen, hinderlichen Aufmerksamkeit meistern, die mir hier geschenkt wurde. Wie lange das anhalten würde, wusste ich nicht, denn nachdem mein Seelenspiegel tot und vergraben war, würde die Machtzufuhr wieder stoppen, doch darum konnte ich mich kümmern, wenn es soweit war.
Die Immobilienmaklerin und er hatten einen Termin vereinbart - er hatte es geschafft, morgen einen zu bekommen. Wie viel Beeinflussung per Gabe dabei eine Rolle spielte, war nicht ganz klar, denn er stärkte nicht diesen Teil von mir. Telepathie, Transformation, Schutzschild, das alles wurde mächtiger. Abwehr, verstecken, Defensive. Aber auch vor dem hatte Nanny mich gewarnt. Meine Gabe war zum Selbstschutz ausgelegt, nicht zum Angriff. Ob ich jemals den Geist eines anderen Savants in meiner Umgebung spüren konnte, ohne intensiv damit zu suchen, ob ich jemals merken könnte, wie jemand in meiner Gegenwart seine Gabe einsetzte, das stand in den Sternen. Wohl eher nicht. Aber das brauchte ich auch nicht. Denn die Menschen würden mich auch nicht entlarven, denn genau darin bestand meine Gabe. Dem Verstecken, der Anonymität.
"Meine Familie hat dich heute Abend zum Abendessen eingeladen", erklärte Victor, als wir das Büro der Immobilienmaklerin verließen. So wie er es sagte, war er nicht begeistert von der Aussicht, einem Abend mit seiner ganzen Familie beizuwohnen. 
Und obwohl jedes Mitglied dieser Familie mir eine Gefahr sein könnte, je besser er oder sie mich kennenlernte, desto größer war auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir einen von ihnen zu Nutzen machen konnte. Wie wusste ich nicht, aber in den Jahren auf der Straße hatte ich gelernt, dass man aus fast jedem Menschen einen Nutzen ziehen konnte, wenn man nur genau hinsah.
Als wir ohne Worte auf die Übereinkunft kamen, mir noch Zeichenmaterial zu besorgen, löste ich meine Hand nicht aus seiner, denn ich näherte mich Rahels Rettung schneller als gedacht und brauchte die Kraft.
Je mehr Zeit ich mir nahm, desto langsamer konnte ich die Geschichte angehen lassen. Langsam war gut, denn langsam war sicherer. Doch Rahel hatte keine Zeit, und ich war Risiken gewohnt. Victor würde mir genug Kraft geben, um meine Schwester in wenigen Wochen endlich wieder auf freien Fuß zu bringen.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now