Kapitel 7)

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Ich brachte drei Tage damit zu, die Bücher, die mir gebracht worden waren, in mich reinzufressen. Drei Tage, in denen ich herausfand, dass Physik sogleich spannend als auch hoch anspruchsvoll war, dass das Kochen mir noch weniger lag als erwartet und dass Rot wirklich eine grelle Farbe war. Als der vierte Tag heraufzog und Sonnenstrahlen durch das Dachfenster meines Zimmers schickte, war ich bereits hellwach, prägte mir alles über Physik und höhere Physik und Kochrezepte ein, das ich noch lernen konnte, trug schon Tjaras Kleidung und schlürfte derweil Filterkaffee.
"Aufstehen", forderte Mustaf mich grob auf, als er die Tür geöffnet hatte. Ich stand auf, richtete den Ausschnitt des engen roten T-Shirts, das zu Tjaras üblichem Kleidungsstils gehörte, und strich mir die, endlich von dem Kopftuch befreiten, Haare aus der Stirn.
Der Weg durch den Gang war mir bekannt, ich ging ihn jeden Tag entlang. Ich wusste noch immer nicht den ganzen Code, da meine Wachen nach meinem ersten Ausbruchsversuch darauf achteten, dass ich nicht mehr sehen konnte, wie sie ihn eingaben.
Der alte Mann stand in dem Raum mit dem langen Tisch, neben sich Pjedro und Sergio, die Frau, die mich mit Sergio aus dem Gefängnis geholt hatte und dem Mann, der dabei gewesen war, als ich die Öle über die Grenze nach Pakistan schmuggeln musste.
Als ich in den Raum geführt wurde, wandte der alte Mann sich an mich und unterband somit die Diskussion, die bis eben heiß her gegangen war. "Du weißt, was du zu tun hast, Reva?"
Ich nickte. Mir war genau erklärt worden, was ich tun musste, wie viel Zeit ich hatte, wie es ablaufen musste. Pjedro und Sergio und die Frau, deren Namen ich nicht kannte, würden mich bei Tjaras Mutter Merissa abliefern. Danach würden sie zurück zum Quatrier fahren und es mir überlassen, Merissa eine Lügengeschichte über meinen Verbleib in den letzten Tagen zu erzählen. Ich würde meinen Tagesablauf genauso abhalten, wie Tjara es mir von ihrem erzählt hatte, wie ich es mir eingeprägt hatte. Abends, wenn ich von Mara oder anderen Dingen nach Hause kam, würde ich Pjedro treffen und ihn über den Stand der Dinge aufklären. Ich hatte ausreichend Zeit, um mich genau darüber zu informieren, wann Mara ungeschützt war, wie ich die Aufmerksamkeit der Leute, die von ihrem Vater für ihren Schutz abgestellt worden waren, auf etwas anderes lenken konnte oder wie ich sie in die Gefahrenzone lotsen konnte.
Wieder wurde mir das schwarze Klappmesser gegeben, das ich in den Ausschnitt des T-Shirts steckte, weil Tjara enge Kleidung beforzugte, was für das Verstecken einer Waffe nicht gerade optimal war.
"Zeig mir ihr Gesicht", befahl der alte Mann, und ich rief es mir vor Augen, dachte an Tjara, hochgeschossen, mehr dünn als schlank, was mich ehemalig zu der Annahme verleitet hatte, sie wäre erst 14. Ich war aufgeklärt worden, ihr tatsächliches Alter waren glorreiche 16, sie war zehn Jahre jünger als ich. Ich dachte an das längliche, schmale Gesicht, an die kleinen, misstrauischen, schwarzen Augen, die vollen, dunklen Lippen, an die Art, wie sie ihr Kinn regte und wie sie die Arme vor der Brust verschränkte, wie sie auf den Ballen auf und ab wippte und wie sie sich auf die Unterlippe biss. An ihre kurzgeschorenen Haare erinnerte ich mich, an das zarte Muttermal auf ihrem Ohrläppchen, in Form eines Schafes, an ihre abgebissenen Fingernägel, die rissigen Finger und die rauen Hände, an ihre langen Läuferbeine, das abneigende Funkeln in ihren Augen und an den sehnsüchtigen Ausdruck, wenn sie von ihrer Zukunft sprach, das alles schoss mir in wenigen Sekunden durch den Kopf.
Als ich meinen Blick auf den alten Mann fixierte, sah ich in der Spieglung seiner dunklen Augen nicht mehr mich, sondern ein dünnes Schulmädchen. Ein bösartiges Lächeln umspielte seinen Mund, seine Augen, die sonst recht höflich wirkten, glänzten vor höhnischer Vorfreude auf das Geld, das er als Auslöse für Mara kriegen würde.
Natürlich war es wieder ein SUV, der mich aus dem Quartier fuhr, eine Augenbinde über den Augen, damit ich den Weg nicht erahnen konnte, damit ich nicht wusste, wo ich momentan lebte. Auf den Straßen war schon ein reger Verkehr, Menschen schleppten Taschen und Körbe durch die Gegend, Stände waren an einigen Straßenränden aufgebaut, Soldaten patrouillierten durch die Stadt und Autos standen im Stau, obwohl die Sonne noch weit im Osten stand und das Licht erst schief auf die Hausdächer warf.
Das Haus von Tjaras Mutter, zu dem ich gefahren wurde, war klein und dreckig, schmiegte sich an die anderen an und ging zwischen dem ausladenden Dach des rechten und dem mächtigen Klotzbau des linken beinahe unter. Der SUV hielt etwa fünfzig Meter entfernt, die Frau warnte ein letztes Mal: "Du versuchst nicht, Hilfe zu bekommen, du bist nicht nur eine flüchtige Gefängnisinsassin, wir haben auch deine Schwester, und du hast schon einmal versucht, vor dem Gesetz und uns zu fliehen, du weißt ja, wie es ausgegangen ist."
Flüchtige Gefängnisinsassin. Sie hatten mich also nicht ganz legal aus dem Gefängnis geholt. Wie die Benedicts es hätten hinkriegen wollen, wusste ich nicht, doch es konnte scheinbar nicht allzu schwer sein. Schnell vergewisserte ich mich, dass das Klappmesser noch an Ort und Stelle war, dann rutschte ich von meinem Platz zur Tür und öffnete diese.
"Pjedro trifft dich heute Abend an der Ecke da vorne", erklärte die Frau, die Straße hinab deutend. Ich nickte, schwang mich aus dem Wagen und knallte die Tür hinter mir zu. Frische Luft wirbelte meine offenen Haare auf, umschmeichelte mein Gesicht und erinnerte mich daran, wieso ich die Burka so sehr hasste, wieso ich das Kopftuch verabscheute.
Menschen sahen mich an, wandten sich ab und liefen weiter. Ich reckte das Kinn, straffte die Schultern, biss mir auf die Unterlippe und schritt die Straße entlang, mit dem gleichen herrischen Schreiten, mit dem Tjara in mein Zimmer gekommen war, bevor ich sie umgarnte und ihre Träumereien aus ihr herauslockte.
Als ich die Tür zu dem Haus aufstieß, mussten meine Augen sich erst an das düstere Licht gewöhnen, das drinnen herrschte. Die Fenster waren verschmutzt, was dazu führte, dass durch sie nicht viel Licht eindringen konnte, die Decke war tief und das Zimmer, das ich betrat, war unordentlich und vollgestopft.
Es schien eine Küche zu sein, denn ich konnte einen alten Herd in der Ecke entdecken, es gab Küchenregale, in denen ein paar wenige Teller, Gläser und Besteck stand, nebst Lebensmitteln und Flaschen, deren Inhalt ich nicht zu erkennen vermochte. Ich entdecke einen Kühlschrank, der aber auch nicht mehr der neuste zu sein schien. In der MItte des Raums stand wohl ein Küchentisch, von Schemeln umgeben, der aber mit Büchern, Töpfen und weiteren Lebensmitteln vollgestellt war.
"Mutter?", rief ich halblaut. Bei dem Besteck entdecke ich ein paar große Küchenmesser, doch sie sahen nicht annähernd so scharf aus, wie die Mordwaffe, mit der ich meine Vorliebe für Messer entdeckt hatte.
Eine kleine, pummelige Frau mit Pusteln im Gesicht kam aus einem Hinterzimmer. Unter ihren Augen waren tiefe Falten, die von Schlaflosigkeit zeugten, ihre Haltung war gebückt und ihre Hände zitterten.
"Tjara?", fragte sie und eine Träne rollte aus ihren blassblauen, blinden Augen. Sie stützte sich auf einen Stock, tastete sich damit über den Boden, bis er gegen meine Füße stieß. Merissa legte ihre Hand an mein Gesicht und streichelte mit dem Daumen sanft darüber, und ich hielt still und gestattete es ihr um Rahels Willen.
"Mutter", sagte ich abermals, leiser nun und kniete mich vor ihr hin, sodass mein Gesicht sich knapp unterhalb des ihren befand. "Es tut mir so unendlich leid."
Die Frau schlang ihre fleischigen Arme um mich und drückte mich so fest an sich, dass ich keine Luft mehr bekam. "Tjara, Tjara, Schatz, du bist wieder da. Wo warst du denn? Warst du lange weg? Was tut dir leid, Kind?"
Ich löste ihre Hände sanft aus meinem Nacken, behielt sie aber in den meinen. Die Berührung schreckte mich ab, aber es musste sein, Rahel brauchte meine Hilfe. "Ich war bei Mara, sie hat Liebeskummer, es tut mir leid, Mutter. Ich habe einfach die Zeit vergessen, und dann war schon wieder der neue Tag, und sie hatte wieder Liebeskummer. Ich werde nicht wieder so lange weg bleiben."
Merissa schnaubte und auf einmal erkaltete ihr faltiges, gütige Gesicht. "Mara hier, Mara da. Kind, pass auf deine Zukunft auf, du darfst sie nicht für dieses reiche Mädchen opfern, hörst du? Sie mag dir eine gute Freundin sein, aber sie wird das Geschäft ihres Vaters erben und merk dir eins, Kind, denn davon weiß ich genug, reiche Leute lassen die armen zurück, ohne noch einmal an sie zu denken."
Ich strich Merissa eine fettige schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, hinter das Ohr, das von einer kleinen weißen Perle geziert wurde. "Ich werde auf mich aufpassen, Mutter, aber Mara ist nicht so. Mara wird mich nicht alleine lassen."
Merissa nickte, ihre blinden Augen verdrehten sich und sie hustete, was ihren ganzen Körper wackeln ließ. "Ja ja, das sagen sie alle, bis das Leben sie etwas Besseres lehrt. Aber mach nur, Kind, denn ich werde immer für dich da sein, ich bin deine Mutter. Du musst selbst lernen, du kannst nicht auf mich hören, ich bin eine alte blinde Frau, aber ich bin nicht zu blind um den Unterschied zwischen reich und arm zu kennen, und merk' dir Kind, sie kennen ihn auch."
Auf skurrile Art und Weise erinnerte mich die verhunzelte Frau an Nanny, auch wenn Nanny noch bei Verstand gewesen war, als sie starb, und meine Großmutter hätte niemals so mit mir gesprochen, sie hatte mir klare Ansagen erteilt.
"Ja, Mutter", murmelte ich. "Hör, ich muss zur Schule, ja?"
Auf einmal wurden ihre Augen wieder traurig. "Du gehst schon wieder? Immer gehst du weg, bedeute ich dir denn gar nichts, ich bin deine Mutter. Wieso bist du nie hier, Tjara? Hast du eine eigene Wohnung? Lebst du mit einem Mann zusammen? Kind, was machst du hier?"
Ich drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange, erhob mich und wandte mich zum Gehen. Zusätzlich zu den Informationen über Tjaras Leben hatte ich einen Stadtplan bekommen, auf dem alle wichtigen Orte für Tjara gekennzeichnet waren, den ich gemeinsam mit dem Physikbuch auswendig gelernt hatte.
Leise murmelnd entfernte sich die blinde Merissa wieder, und ich verließ das Haus. Auf dem Weg zur Schule kam ich über einen Markt, die Stände reihten sich dicht aneinander und Verkäufer priesen mir ihre Waren an, als ob man mir nicht ansähe, dass ich mir nichts von dem hier leisten konnte. Ich begegnete einigen möglichen Mitschülerinnen, die sich um Stände mit Kopftüchern und Burkas und Schälen drängten, mir aber nur einen kurzen, abschätzigen Blick widmeten.
"Tjara! Hey, Tjara! Bleib stehen!" Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und entdeckte zwei Personen, die im Eilschritt auf mich zuhielten. Ein Junge, vielleicht 18, ein Mädchen von 16 Jahren. Das Mädchen trug ein pinkes Kopftuch, eine schwarze Hose und eine weiße Bluse, ihr Gesicht war süß und rund, ihre Augen groß und braun. Der Junge war nicht besonders groß, aber gertenschlank, hatte ein ebenso rundes Gesicht wie seine Schwester, sah aber wohl ganz gut aus.
Mara fiel mir um den Hals, sobald sie nahe genug dran war und ich stolperte rückwärts und spannte mich an, bereit, sie zurückzustoßen. Tjaras beste Freundin reagierte nicht darauf, sah mich fröhlich und dennoch traurig an. "Was war? Wieso warst du weg? Gott, ich dachte, dir sei was passiert!"
Marek stieß zu uns, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht. "Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Tjara."
Ich lachte. "Hättet ihr nicht tun müssen. Mir ging's gut, ich musste mich nur um Merissa kümmern, aber der geht's wieder besser. Tut mir leid, dass ich euch nicht Bescheid gesagt habe."
Marek umarmte mich ebenfalls, berührte meine Wange kurz mit seinen Lippen. Fast hätte ich ihn von mir gestoßen. Um diesen Reflex vor Tjaras Freunden zu verbergen, verschränkte ich die Arme vor der Brust und biss mir auf die Unterlippe.
"Was hatte deine Mutter?", fragte Mara neugierig. Sie strich ihr langes, glattes Haar zurück und klimperte mich mit dick geschminkten Wimpern an. Sie lächelte und ihre Zähne strahlten.
"Nur einen Schwächeanfall", behauptete ich und schob meinen Körper auf Marek zu. Dieser grinste, legte mir eine Hand auf die Schulter und lotste mich durch die Menschenmassen auf dem Markt, Mara lief auf meiner anderen Seite und schien der Geste ihres Bruders nicht bewusst.
"Ich habe dich in Physik gebraucht", stöhnte Mara und rieb sich über die Augen, sodass ihre Schminke leicht verschmierte, aber das schien sie nicht im Geringsten zu stören. "Ohne dich schaffe ich das einfach nicht, Tjar. Mir wurde schon wieder gesagt, dass ich dieses Jahr vielleicht durchfalle."
Ich entdeckte seinen schwarzen Anzug in der Menge. Er stand mit dem Rücken zu mir, ich konnte nur seine schwarzen Haare, seine breiten Schultern und seine Größe ausmachen, seine langen Beine, aber ich wusste, dass er es war, ich brauchte keinen Beweis. Dann wurde er auch schon wieder von der Menge verdeckt, und ich musste mich beeilen, um ihn nicht zu verlieren.
"Hey, Mara, Marek, geht schon mal vor, ich komme nach, ja? Ich muss Merissa noch etwas kaufen, aber ich möchte euch nicht aufhalten."
Marek wollte protestieren, aber Mara verstand meinen Drang, alleine zu sein, und zog ihren Bruder mit sich. "Beeil' dich aber, ja?", warf sie mir noch über die Schulter zu, bevor sie nach rechts verschwand, während ich geradeaus ging. Ich kämpfte mich durch die Massen, und während die Menschen mich umspülten, wurde ich wieder zu mir selbst, dem Mädchen mit vielen Namen.
Von hier und da bekam ich nun lüsterne Blicke zugeworfen, ich war kleiner als Tjara und der Ausschnitt hing somit tief, außerdem wusste ich, dass ich gut aussah. Das Gefängnis, die Straße, der Mann, mir wurde von mehreren Aspekten in meinem Leben beigebracht, dass Schönheit keineswegs immer erstrebenswert war, und ich mich damit abfinden musste.
Ich tauchte so plötzlich vor ihnen auf, dass Xavier kurz zusammenschreckte. Diesmal traf ich sie alle vier an, die drei Männer und die Frau mit der Maske. Sie erkannten mich sofort, nur Trace musste sich mit einem Blick zu seinen Begleitern vergewissern, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, wer ich war.
"Mara Andelier", sagte ich knapp an Victor Benedict gewandt, ohne seine Begleitung eines weiteren Blickes zu würdigen, der dafür gedacht war, ihre Bewaffnung zu überprüfen. Zwei Glocks, eine Sig Sauer, Xavier trug keine Waffe bei sich. "Fangt sie ab, wenn sie abhaut, bringt sie in Sicherheit."
Die Frau verzog den Mund und runzelte die Stirn. "Wieso?" Beim Sprechen verrutschte die Maske etwas und ich konnte das Ende einer großen Narbe sehen, das darunter hervorlugte, bevor sie sie wieder richtete und den Anblick meinen Augen versagte.
"Wann?", fragte Victor Benedict, als er merkte, dass ich nicht auf die Frage seiner Begleiterin eingehen würde. "Bald", erwiderte ich vage. Ich wollte mich umdrehen und wieder verschwinden, doch er hielt mich am Arm fest. "Ich wüsste gerne mehr über deine vergangenen Tage", sagte er mit scharfer Stimme. Damit war wohl nicht gemeint, was ich zum Frühstück gegessen hatte.
Ich blickte kurz auf seine Glock, dann sah ich ihm in seine Augen und erkannte, dass er mich nicht erschießen würde, was auch immer ich täte. Mit diesem Wissen riss ich mich los, drehte mich um und war noch nicht von der nächsten Menschenwelle umgeben, als ich wieder zu Tjara Sawbi wurde und die Benedicts aus meinem Gedächtnis schwanden, denn ich musste mich auf meine Rolle konzentrieren.
Allerdings entging mir nicht, dass mit jedem Mal, wenn ich blinzelte und diese grauen Augen sah, mehr Stärke in mich floss, dass ich Kraft bekam und meine Macht sich erweiterte.




Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now