Kapitel 22)

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Der untere Teil des Hauses, den wir nicht beziehen würde, war im Kolonialstil errichtet und sah genauso aus, wie Sergio und Larsa mir ein amerikanisches Wohnhaus beschrieben hatten. Nur, dass es einen Aufbau hatte, der in skurrilem Kontrast zum Rest des Hauses stand. Die Läden des unteren Hauses waren zu, der Garten war verwildert und ungepflegt, die Holztür verrammelt und der Lack blätterte von der Veranda ab. Im Gegenzug war das Penthouse in besten Zustand. 
Als die Immobilienmaklerin die Stahltür aufschloss, die ohne Fenster und mit nur einem kleinen Spion auf Augenhöhe ziemlich abweisend wirkte, erblickte ich dahinter eine geräumige Diele. 
Von innen waren die Böden mit grauschwarzen Fliesen gepflastert, die Wände in apathischem weiß. Eine kahle Glühbirne hing von der Decke und bestrahlte den Eingang mit einem weißbläulichen Licht. Es gab einen von Hand zusammengezimmerten Garderobenschrank aus Pappelholz, sonst war die Diele leer.

Eine Schiebetür aus Stahl, diesmal mit einem düsteren Milchglas in der Mitte, versperrte den Durchgang zu einem großen Zimmer. Die schwarzen Fliesen wurden weitergeführt, die Wände blieben schmutzig weiß. An der rechten Seite gab es eine Wand, die den Küchenabschnitt vom Rest abtrennte, dahinter in der Ecke ein Holztisch auf wackeligen Beinen, mit drei unbequem wirkenden Gartenstühlen. An der Wand, die den Küchenbereich vom Rest abtrennte, stand ein hohes Bücherregal, das allerdings noch leer war. Daneben erstreckte sich ein schwarzes Ledersofa, mit einer hohen Rückenlehne, einer großen Fußablage und einem Sofatisch aus schwarzem Stahlgestell mit einer Milchglasplatte. An der gegenüberliegenden Wand der Tür erhob sich eine hohe Fensterfront, die einen exzellenten Überblick über die Stadt gewährte. 
Die Immobilienmaklerin führte uns uns erst durch die Wohnung, wobei sie Victor jedes kleinste Detail anpries (der Boden war wohl extra für dieses Haus entworfen worden und an der Küche hatten hochgelobte Designer gefeilt), bis wir zu den Zimmern grenzten, die an den Hauptraum grenzten. Die beiden Büros, auf die Victor bestanden hatte, die beiden Schlafzimmer, die mein Wunsch gewesen waren, das große Bad.

Zuerst zeigte sie uns beide Büros, die nebeneinander von einer Wand abgetrennt lagen. Victors war dem Ausgang näher, doch meines war direkt mit meinem Schlafzimmer verbunden, in dem sich der Hinterausgang befand. Sie waren schlicht eingerichtet, mit einem Bücherregal aus Stahlgestell, einem modernen Schreibtisch, der an der Wand stand, sodass man direkt zum Bücherregal greifen konnte. Zwei identische Drehstühle aus schwarzem Leder standen davor, dieselben kahlen Glühbirnen hingen von der Decke und der gleiche aufwendig geschnittene Mülleimer stand an der Tür, mit weißen Ranken, die sich zu einem Korb formten.

Victors Schlafzimmer war nicht ausgestattet, der quadratische Raum war leer, die großen Fenster hatten keine Vorhänge und die eintönig weiße Farbe der Wände sah frisch gestrichen aus. Es war nicht besonders groß, doch er brauchte hier auch keinen Platz. Von seinem Fenster aus konnte er zwar auf den Highway sehen, doch er hatte keinen Blick auf die Hintertreppe, die meine Flucht ermöglichen sollte.

Mein Zimmer hingegen hatte abgesehen von der großen Schiebetür ein Bettgestell für ein 120 cm Bett – jedoch ohne Matratze. Da dieser Raum sehr viel kleiner war als der, den Victor beziehen würde, passten hier abgesehen von dem Bett noch zwei Schränke rein, wenn wir die richtigen fanden. Einer für Kleidung, der andere für den Rest. Mehr benötigte ich sowieso nicht.

„Wie findest du es?", fragte Victor mich gedämpft, als die Maklerin eine Box mit zwanzig Schlüsseln ausprobierte, um die Schiebetür aufzuschließen.

Ich blickte mich um. Meine Augen huschten über kahlen Wände. Über den Steinboden. Das Zimmer war klein und sicher und abgelegen. Niemand, den ich nicht hier haben wollte, würde mich hier finden. Victor würde nicht reinkommen, er würde mich nicht gehen sehen. Hier hatte ich meinen Raum.

„Sind dir Miesere aufgefallen?", fragte ich in ebenso leisem Flüsterton. Ein paar Schlüssel fielen klappernd zu Boden.

Mein Seelenspiegel schüttelte den Kopf. Dieses Haus war gut. Das erste Haus, das wir uns anguckten, und wir beide waren zufrieden. Ich konnte mich daran erinnern, dass Bohrak mir monatelang vorgehalten hatte, dass er nach einem neuen Wohnort für uns beide suchen würde, aber keinen fände.
Victor verstand mein Schweigen und interpretierte es richtig. Zielstrebig ging er zu der Maklerin und fing an, mit ihr über Einzelheiten zu sprechen, die ich nicht verstand. Ich wanderte durch das Zimmer zum Bad. Die grauen Kacheln, die den Boden auslegten, waren viel sauberer als der Boden des Badezimmers in Bohraks Haus. Die Dusche war groß und geräumig, das Waschbecken auf eine Holzunterlage aufgebaut. Es gab einen Schrank mit verspiegelten Türen, der als Lager dienen würde. Das Schloss sah vertrauenserweckend aus.

>Rahel?>, fragte ich auf gut Glück. Ich besann mich der Berührung von Victors Hand in der letzten Nacht. Wie er sich neben mich gehockt hatte und solange dort blieb, bis ich wieder Kraft hatte, um aufzustehen. Wie er stets an meiner Seite blieb, als wir zurück zu seiner Familie kehrten und alle mich ungeniert anstarrten.

Sky war aufgestanden, hatte mich in den Arm genommen und Diamond und Phoenix hatten mir von ihren Leidensgeschichten erzählt. Crystal erzählte davon, wie sie sich minderwertig gefühlt hatte und wie sie alle entführt wurden. Wie mehreren die Erinnerungen genommen wurden. 
Sie wollten mir damit Beihilfe leisten, doch auch wollten sie mich überzeugen, ihnen meine eigene Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die ich ihnen niemals beichten könnte. 
Victor hatte es unterbunden, bevor irgendjemand noch etwas sagen konnte. Hatte seiner Familie mit knappen Worten erklärt, dass alle Fragen zu meiner Vergangenheit verboten waren, bis ich es selbst ansprach. So sachlich und direkt, dass Karla ihn entsetzt angesehen hatte, doch ich hatte nicht mit der Wimper gezuckt.

Meine telepathischen Worte schallten durch den Raum und verklangen. Sie würden Rahel niemals erreichen. Meine Schwester war zu weit weg. Abermals. Sie hatte mich schon wieder verlassen. Sie war schon wieder fort. 
Das Handy, das irgendwer der Benedicts für mich gekauft hatte, vibrierte. Lake hatte mir irgendwann auf dem Weg zur Schule am Vortag erzählt, dass das ständige Beitragen des Handys Pflicht in der modernen Welt war. 
Es war kein besonders edles Gerät, aber es funktionierte. Mehr brauchte ich nicht. Auf dem Touch-Bildschirm wurde mir eine neue Nachricht angezeigt. Ich tippte das Kennzeichen eines Autos, das ich irgendwann einmal gesehen hatte, ein und der dunkelgraue Startbildschirm tauchte auf.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt