Kapitel 30)

304 13 9
                                    


Ich wurde von einer sich öffnenden Tür geweckt. Die Sonne hatte ihren Weg noch nicht so hoch auf den Himmel geschafft, dass ich sie durch das Dachfenster hätte sehen können. Es herrschte Finsternis, selbst durch die offene Tür konnte ich kein Licht von draußen hereindringen sehen.
Ich richtete mich auf, versuchte zu erkennen, wer dort stand, wer meine Tür aufgemacht hatte. Es war zu früh. Es war viel zu früh.
Ich hatte noch nicht herausgefunden, wo Rahel war. Sobald die Benedicts mich hier herausholten, würden sie meine Schwester umbringen. Dann wäre es zu spät. Sie durften noch nicht hier sein.
Als das Licht anging und ich Dougs grinsendes Gesicht sehen konnte, war ich alles andere als enttäuscht.
"Aufstehen. Da will jemand mit dir sprechen."
Ich folgte der Aufforderung. Ich war voll angekleidet, selbst die flachen Turnschuhe, die man mir gegeben hatte, hatte ich über Nacht anbehalten. Doug registrierte es noch nicht einmal. Ich warf einen kurzen Blick auf das Tastenfeld. Die Tasten leuchteten bläulich. Ich kannte den Code. Ich könnte hier herauskommen. Es gab sowohl außen als auch innen einen Code, damit meine Besucher einen Weg hinaus fanden. Sie hatten sich darauf verlassen, dass ihr Gefangener nicht darauf kommen würde, was er war. Oder dass der Gefangene es sich nicht merken könnte.
146419572.
Vielleicht mochten meine Gefühle langsam wieder einen Weg in meinen Kopf finden, doch mein Gedächtnis ließ mich nie im Stich.
Doug führte mich in den Raum mit dem langen Tisch. Larsa stand verhüllt und stumm an einer Wand, ohne sich zu regen. Der alte Mann war nicht da, genauso wenig Mustaf oder Pjedro. Sergio hatte ein Handy in der Hand, doch er nutzte es nicht, sondern blickte mir entgegen.
"Benedict am Telefon." Sergio klang ruppig, seine Augen waren von dunklen Ringen untermalt. Sein Kinn war nicht rasiert, seine Haltung war gebückt und sein Gesicht eingefallen. Tatsächlich hatte ich nicht erwartet, dass ein Entführer sich so leicht von fehlendem Schlaf zermürben ließ.
Ich nahm das mir entgegengestreckte Handy entgegen.
"Tiger?"
Ich registrierte seine Stimme. Zwar war er zu weit weg, aber er telefonierte mit mir. Würde er mir etwas sagen wollen, etwas Wichtiges, Geheimes, wäre es über Crystal gelaufen. Ihm musste bewusst sein, dass wir abgehört wurden. Doch mit der Verbindung über Crystal konnte ich nichts anfangen, was Kraft anbelangt. Alles, was von ihm auf mich übertragen werden könnte, ging darüber verloren. Vielleicht rief er deshalb an.
"Wie viel Uhr ist es bei euch?", antwortete ich. Es musste aussehen, als triebe ich SmallTalk. Für Sergio und Doug musste es aussehen, als hätte ich den Benedict bezierzt, indem ich mich verhielt, als wäre ich ein normalredender Mensch. Als ob mich irgendetwas interessieren könnte. Denn sie dachten noch immer, dass ich ihm nur vorlog, wir seien verbunden.
"Etwa 17 Uhr. Wie geht es dir?"
Small Talk. Etwas, das wir nie wirklich intensiv betrieben hatten. Ich, als inkompetentes soziales Missglück, er als zielfixierter Cop. Wir waren eine miserable Mischung, was Small Talk anbelangte. Und doch war das jetzt eine Aufgabe. Was auch immer er wollte, ich musste diese Unterhaltung aufrecht erhalten, denn sie spendete mir Kraft. Körperlich hatte ich aufgebaut, weil ich seit Wochen gut aß, mehr oder weniger regelmäßig schlief und nicht unter ständigem Stress stand, doch meine mentalen Fähigkeiten bauten noch immer mehr ab als auf.
"Warum rufst du an?"
Ich wusste nicht, wie lange ich noch hatte. Wie lange Sergio hier stehen würde, halb schlafend, nur um mich mit meinem Freund telefonieren zu lassen. Diese Frage wäre selbst dann realistisch, wenn es zwischen uns beiden eine ernsthafte Beziehung gäbe.
"Ich wollte wissen, wie es dir geht. Nachdem ich die Botschaft erhalten habe. Ich komme, Tiger. Ich hole dich da raus. Wir tauschen. Misty tun übrigens die Zähne weh."
Diese Organisation war nicht erfahren. Sie würden sich nicht über die Cousine der Benedicts erkundigt haben. Sie würden nicht wissen, dass Misty die Zähne immer dann wehtaten, wenn jemand log.
Also hatte er allen Ernstes einen Grund, mich mitten in der Nacht anzurufen. Welcher dieser war, wusste ich nicht. Er konnte es mir nicht sagen, weil wir abgehört wurden. Weil ich nicht alleine war. Doch das stand zumindest dafür, dass er immer noch daran feilte, mich zu retten. Auf eine Art und Weise, die mich danach nicht gefährden würde.
Ich hatte schon Menschen verkörpert, die ein Faible für Szenen und Dramen hatten. Ich könnte das Ganze hier perfekt aufziehen, von wegen ich wolle nicht, dass er sich für mich in Gefahr begebe, dass er auf sich aufpassen solle, dass ich mir Sorgen um ihn machen würde. Vielleicht wäre ein Teil davon nicht einmal gelogen.
Doch ich tat es nicht.
"Tiger, sag was."
Ich konzentrierte mich auf seine Stimme. Auch wenn es nicht seine Worte waren, die aus den USA zu mir dran, es war seine Stimme. Es war die Aufgabe dieser Stimme, mir so viel Kraft wie möglich zu schenken.
"Ich vermisse euch. Wie geht es Mistys Zähnen?"
Sergio runzelte die Stirn. Trotzdem sagte mir niemand, dass ich das Gespräch abzubrechen hatte.
"Hoffentlich bald besser."
Selbst beim Vorspielen hatten wir nichts, worüber wir reden konnten.
"Wir vermissen dich auch."
Ich dachte zwanghaft über etwas nach, das ich sagen könnte. Zum ersten Mal in unserer Bekanntschaft gab es wirklich etwas, über das wir reden könnten, das das Reden lohnenswert machen würde, doch wir konnten nicht, denn niemand durfte es hören.
"Phoenix sagt, sie hatte sich gefreut, dass du ab jetzt mit ihr in der Bibliothek arbeitest."
Er brach das Gespräch immer noch nicht ab. Was auch immer sie in Übersee taten, es brauchte noch Zeit. Wir mussten das Gespräch aufrecht erhalten.
"Wir werden auch zusammen in der Bibliothek arbeiten." Ich zwang meine Stimme, mit jedem Wort leiser zu werden. "Und du wirst uns besuchen."
Vielleicht konnte ich das mit dem Drama doch ganz gut spielen.
"Misty sagt, sie tun nicht weh."
"Ich weiß."
Sergio trat von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht hatten sie mir das Handy gegeben, in der Hoffnung, einer von uns sei so unvorsichtig und würde etwas verlauten lassen, dass uns auffliegen lassen könnte. Doch wir taten nichts dergleichen.
"Genug jetzt." Doug klang bestimmt. Hier, im Licht, konnte ich auch bei ihm die Spuren der Müdigkeit sehen.
"Ich muss auflegen."
Ein kurzes Schweigen. "Ist gut."
Er hatte es geschafft. Was auch immer sie getan hatten, sie waren fertig geworden. Ich warf einen kurzen Blick zu Sergio, der mit ausgestreckter Hand auf mich wartete. Doch er nahm es mir noch nicht weg. Er erwartete noch etwas von mir.
"Ich liebe dich." Die Worte kamen mir leicht über die Lippen. Lügen waren immer leicht zu erzählen.
"Ich dich auch." Genauso leicht. Auch ihm fielen Lügen leicht. Ich hatte meine Aufgabe nicht vollbracht. Er hatte sich nicht in mich verliebt. Doch er würde trotzdem kommen und mir helfen, und das war vielleicht auch schon genug.
Ich legte auf und gab Sergio das Telefon zurück. Als Doug mich schweigend zurück in mein Zimmer begleitete, fühlte ich mich, als hätte ich zehn Stunden geschlafen und viel gegessen.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now