Kapitel 33)

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"Habt ihr euch entschieden?", fragte Hall, sobald Mustaf Victor und mich in das Zimmer mit dem langen Tisch brachte.
"Das haben wir."
Victor beobachtete Hall genau, während dieser auf seine endgültige Entscheidung wartete. Ob es eher ein Aggressions- oder ein Geduldstest war, konnte ich nicht sagen, doch zumindest wusste ich, dass er versuchte, Hall eine Reaktion zu entlocken.
"Also?" Hall lächelte neugierig, vorfreudig. Fast schon wie ein kleines Kind, das seine Eltern nach den Geburtstagsgeschenken fragt.
"Wir werden helfen. Aber wir haben Bedingungen."
Hall verzog das Gesicht. "Bedingungen? Wir tun das für euch, Victor. Für Allah. Da gibt es keine Bedingungen."
Victor stellte sich dicht neben mich, schob seine Schultern hinter mich. Ich nahm seine Hand. "Wir stellen Bedingungen. Dafür, dass wir unsere Freunde und alles, an das wir glauben, verraten. Dafür, dass Bohrak Leddison Reva vergewaltigt hat, sie geschlagen, getreten, versklavt und gefangengehalten hat. Dafür, dass Reva ein Jahr lang wegen Ihnen im Gefängnis saß, dafür, dass Revas Schwester von Ihnen gefangen genommen wurde, dafür, dass Sie Rahels Mann umgebracht haben."
Victor Gesicht blieb ausdruckslos. Seine Stimme jedoch wurde mit jeder Aufzählung der Dinge, mit denen die Organisation sich an mir vergangen hatte, tiefer, ruppiger, wütender. Hall blieb stocksteif stehen und ließ das Gesagte auf sich wirken. Zwar hatte Victor gestern schon zum Ausdruck gebracht, dass die Organisation für das, was sie mir angetan hatten, in unserer Schuld standen, doch die Art und Weise, auf die Victor es gesagt hatte, warf ein anderes Licht darauf.
Außerdem machte es deutlich, dass wir uns, obwohl ich ihn doch verraten hatte, sehr nahe standen.
"Was sind die Bedingungen?", fragte Hall schließlich zögerlich.
"Sie werden nicht versuchen, Tiger und mich zu trennen. Weder Sie noch einer Ihrer Mithelfenden wird sich jemals wieder an Tiger vergehen. Rahel wird frei- und in Ruhe gelassen. Gewalt gehört nicht zum Plan A. Wir werden dieses Haus verlassen können, sobald Sie sich unserer Überzeugung sicher sind."
Halls Blick schoss kurz zu Mustaf und Sergio, die im hinteren Teil des Raumes standen. Sergio beobachtete uns gelassen, Mustaf wisperte in sein Ohr.
"Wir akzeptieren die Bedingungen."
>Werden sie ihr Versprechen halten?<
Victor sah mich nicht an. >Ich weiß nicht. Wir werden nicht solange warten. Sobald mein Team Rahel abgefangen und in Sicherheit gebracht hat, werden sie einen Weg finden, mit uns in Kontakt zu treten. Wir sind hier nicht länger als ein paar Tage drin.<
>Wenn ich die Murphys ausliefere, wird die Organisation eine Lösegeldforderung an den amerikanischen Botschafter schicken. Wenn Amerika eingeschaltet wird, haben wir ein Problem. Selbst wenn die Murphy-Brüder freikommen, ohne dass die Behörden herausfinden, dass wir irgendwie involviert sind, werden die beiden aussagen.<
"Reva, Pjedro wartet im Wagen. Er hat Liam und Joseph Murphey aufgetrieben - sie sind in der Bibliothek. Er wird dich zu ihnen fahren. Du wirst dich für morgen mit ihnen an Bohraks altem Haus treffen. Sag ihnen, sie sollen niemandem sagen, wo sie hinwollen, weil es eine Straftat sei."
Victor ließ meine Hand los und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. >Die Murphys werden nicht aussagen. Entweder, du überzeugst sie, oder ich werde sie zwingen. Wir werden das alles hinter uns lassen können, Tiger. Ich verspreche es.<
Mustaf musste nicht angewiesen werden, mir die Tür offenzuhalten. Ich folgte seiner stummen Aufforderung. >Bis später.<

Beide Murphy-Brüder hatten sich mit Büchern zugedeckt und saßen an einem Tisch. Ich schlenderte auf sie zu, die Hände in den Taschen vergraben, ein breites Lächeln auf dem Gesicht.
"Na, sieh mal einer an", flötete ich, sobald ich in Hörweite kam. "Bereitet sich da jemand auf das nächste Semester vor?"
Joseph riss den Kopf hoch. "Judith! Wir haben gestern auf dich gewartet!"
Liam sah mich abwartend an, mit dem ersten Anflug von Enttäuschung. Offenbar hatte er sich etwas Anderes unter mir vorgestellt. Ich seufzte, streifte mir eine Jacke ab, die mir gegeben worden war, und rückte das tief ausgeschnittene T-Shirt zurecht. Die Kleidung hatte Sergio mir ins Bad gelegt, bevor ich duschen gegangen war. Dazu gehörten noch eine schwarze, enge Jeans, dunkelgrüne Stiefeletten mit sechs Zentimetern Absatz und ein knallbuntes Tuch, das ich mir um den Kopf geschlungen hatte. Ob Sergio alleine entschieden hatte, was ich tragen sollte, oder ob er dabei Hilfe gehabt hatte, wusste ich nicht, doch es war eindeutig, was dieser Style bewirken sollte.
"Es tut mir so unendlich leid", brachte ich hervor und zog meine Augenbrauen schuldbewusst zusammen. "Mein Klient ist in eine Streitigkeit geraten und hat dann darauf bestanden, dass ich ihm aus dem Mist raushelfe. Ich hätte Bescheid gesagt, aber ich habe keine eurer Telefonnummern. Es tut mir wirklich, wirklich leid."
Ungefragt pflanzte ich mich auf einen der Stühle, beugte mich vor und warf einen Blick in das Buch, über das sich Liam gebeugt hatte. "Das sind mir zu viele Zahlen", bemerkte ich, rümpfte die Nase und lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Meine Hände lagen ordentlich gefaltet auf meinem Bauch und ich sah verschwörerisch zwischen den Männern hin und her. "Na? Habt ihr mich vermisst?"
Liam seufzte, doch ich konnte sehen, wie ich durch seine neuaufgebaute Kruste brach. Josephs Blick blieb an meinem Ausschnitt hängen. "Ohne dich war es deutlich langweiliger", behauptete er. Offenbar war er darüber hinweggekommen, dass ich fast acht Jahre älter war als er.
"Seid ihr auch ohne mich wandern gegangen?", fragte ich und schob meine Unterlippe schmollend vor.
Liam stützte die Unterarme auf den Tisch. "Natürlich."
Ich grinste selbstironisch. "Kluger Mann." Abwesend trommelte ich mit meinen Händen auf den Oberschenkeln. Plötzlich wurde mein Trommeln schneller, als hätte ich eine Idee gehabt, und ich ließ meine Augen aufleuchten. "Wisst ihr was? Ich weiß, wie ich es wieder gutmachen kann."
"Woher weißt du, ob wir es wieder gutgemacht haben wollen?", fragte Liam lockend.
Joseph schlug seinem älteren Bruder fest auf den Oberarm. "Natürlich wollen wir es gutgemacht haben! Na, sag schon, was hast du im Kopf?"
Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Stuhl und pustete mir eine Haarsträhne aus den Augen. "Habt ihr schon mal vom Totenhaus gehört?"
Liam zog schnaubend die Augenbrauen hoch, doch Joseph sprang sofort an. "Was ist das?"
Ich sah Liam an, bis dieser nickte und mir damit verdeutlichte, dass er die Geschichte ebenfalls hören wollte. "Es ist nicht weit weg von hier. Sie haben allen verboten, es zu betreten. In dem Haus sind vor etwa zehn Jahren mehr als zwanzig Menschen gestorben. Niemand weiß, was sie dort getan haben oder wie sie gestorben sind, aber eine Nachbarin hat die Leichen gerochen und das Militär eingeschaltet. Die Toten lagen im Keller, in einem Raum, dessen gesamten Wände mit Runen bedeckt sind. Ich wollte schon immer einmal darunter, aber ich habe mich alleine nie getraut."
Jopseh interessierte sich wohl weniger für die Toten als dafür, dass er als mutiger Beschützer auftreten konnte. Er nickte begeistert. "Das klingt wahnsinnig!"
Liam verzog den Mund. "Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?"
Neckisch kitzelte Joseph seinen Bruder. "Hast du etwa Angst?"
Ärgerlich wehrte Liam Joseph ab. "Nein. Wer hat den vorgestern den Schwanz eingekniffen, als Judiths Bruder aufgetaucht ist?"
Ich lachte und lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf mich. "Ich schätze deine Besorgnis, aber das wird schon okay sein. Bitte! Ich bin noch zu jung, um mich nur noch in Arbeit zu vergraben, ich brauche Abwechslung!"
Damit ließ Liam sich breitschlagen. "Meinetwegen. Aber wehe, du versetzt uns wieder."
Ich zwinkerte ihm zu. "Für euch versetze ich sogar meinen Klienten."
Trotz seiner erwachsenen Haltung, sah ich, wie die Aufregung Blut in Liams Wangen trieb. Joseph fiel das freilich nicht auf.
"Uh, da wäre noch was." Ich hob tadelnd den Zeigefinger und schaute beiden abwechselnd eindringlich in die Augen. "Ihr dürft niemandem sagen, wo ihr hingeht. Findet jemand heraus, dass ich mich auf verbotenem Staatsgelände bewege, kostet mich das meine Lizenz."
"Wir würden dich doch niemals verraten, Judith", flirtete Joseph.
Ich warf ihm einen spöttischen Blick zu, wandte mich aber an Liam. "Bitte, ich meine es ernst. Sagt niemandem irgendetwas. Am besten, ihr sagt, ihr würdet noch einmal in die Bibliothek oder so gehen. Ich kann es mir nicht leisten, dass mir die Ausübung meines Berufs untersagt wird."
Liam nickte gewichtig und grinste Joseph flüchtig an, um diesem unter die Nase zu reiben, dass ich mich an ihn wandte, als würde ich ihn für den vertrauenswürdigeren halten. "Wir sagen nichts, ich verspreche. Wir werden unserem Vater einfach erzählen, dass wir für Josephs Essays noch etwas nachgucken gehen müssen."
Ich lächelte dankbar. "Ihr seid eine echte Bereicherung, Leute."
Joseph grinste. "Wissen wir. Hast du nochmal mit deinem Bruder geredet? Habt ihr es geklärt?"
Ich verdrehte die Augen. "Der Typ hat einen Knall. Mein Gott, ich beneide euch beide. Er meint, nur weil ich Jura studiert hätte, würde ich unser Land verraten und so einen Mist. So ein Vaterlandsfanatiker. Ich meine, in mancher Hinsicht ist er toll - er würde alles für mich aufgeben. Aber das ist genau der Grund, warum ich abgehauen bin. Ich bin mir um ehrlich zu sein immer noch nicht sicher, ob ich ihm gesagt habe, wohin ich gehe, bevor ich nach Cambridge gezogen bin. Hat er verdient. So ein Arsch aber auch."
Liam prustete. "Du hast ihm nicht gesagt, dass du für viereinhalb Jahre verschwindest? Dann wäre ich auch sauer. Egoistin."
Ich warf lachend die Arme in die Luft. "Das hat mir neulich schonmal jemand vorgeworfen! Ich weiß gar nicht, was ihr alle habt."
"Wer denn?", fragte Joseph neugierig.
Ich atmete tief ein und zerfurchte die Stirn, drehte meine Augen nach oben und verzog den Mund. Rhytmisch klopfte ich mit den Schuhen auf den Boden. Jedes Mal ertönte ein Klacken, als die harte Ledersohle aufschlug. "Oh Gott, keine Ahnung", stöhnte ich auf und rieb mir die Stirn. "War wohl nicht wichtig."
Joseph lachte. "Ich will doch hoffen, du sagst nicht das gleiche über uns?"
Ich grinste ihn aufreibend an. "Wer weiß."
Sie zu triezen, war komplett anders als mit Victor. Jeder meiner Sätze basiert auf einer anderen Person. Ich spielte 100 Prozent der Frau, die ich derzeitig war. Ich log und spielte und manipulierte, weil ich das am besten konnte. Weil ich unter den Murphys nicht ich selbst sein konnte.
Die größte erzählte Lüge war wohl, dass Victor nicht wichtig war.
Auch wenn ich noch nicht herausgefunden hatte, was mich dazu trieb, mich mit ihm auf die Art und Weise zu unterhalten, auf die wir es taten, wurde mir bei unseren Unterhaltungen warm - bei den Murphys blieb mein ganzes Inneres steinhart und eiskalt.
Joseph kassierte das als Nein. "Glaub mir, wir haben auch kein Glück gehabt. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich Liam sofort und ohne zu zögern eintauschen."
Liam warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Ohne mich würdest du keine drei Tage überleben, Kleiner."
Joseph zog den Mund kraus und sah mich belustigt an. "Ich schätze, da hat er recht."
Liam fing an, heftig zu lachen. "Du schätzt? Ich weiß das, Brüderchen. Du hast es immer noch nicht geschafft, über deinen Tellerrand hinauszugucken."
Joseph wedelte mit der Hand vor seinem Bruder herum. "So würde ich das jetzt nicht ausdrücken, aber-" Ich unterbrach ihn keck. "Aber letztendlich kommt es aufs Gleiche raus?"
Joseph sah zwischen mir und Liam hin und her und fluchte leise. "Warum habt ihr euch gegen mich verbündet?"
"Lass die Erwachsenen das mal unter sich klären", hänselte Liam. Johlend stürzte Joseph sich auf ihn und beide gingen unter dem Tisch unter. Schneller, als dass irgendjemand es hätte mitbekommen können, schoss meine Hand über den Tisch, fischte unter Liams Buch herum und schnappte sich sein Handy.
Es war ein veraltetes Modell, doch der Bildschirm ließ sich ohne Probleme entsperren. Im Hintergrund leuchtete ein Foto von ihm und seinem Bruder auf. Während ich mit halbem Ohr auf die Geräusche der sich zankenden und rangelnden Brüder hörte, konzentrierte ich mich auf das Handy.
Liam hatte keine Nachrichtendienste installiert, aber seine SMS-Konversationen reichten mehr als ein Jahr lang zurück. Meist waren es knappe Kurzschlüsse, Fragen nach dem Treffpunkt oder dem Gesundheitszustand. Sein Vater war nur unter V. eingespeichert, doch der Nachrichtenverlauf war deutlich länger als die anderen. Ich überflog die ersten hundert Nachrichten, doch es gab keine Andeutungen für Geldüberweisungen, Gehalt oder sonst etwas.
Bevor Liam mich an seinem Handy erwischte, ließ ich es über den Tisch schlittern. Gerade noch rechtzeitig - beide Brüder tauchten nur wenige Sekunden später wieder auf.
"Gekärt?", fragte ich gehässig.
Joseph raufte sich das Haar. "Mein Bruder ist eine echte Plage."
Liam schüttelte den Kopf. "Und du bist ein unfassbar verblendeter Selbstdarsteller."
Ich streckte die Beine aus und recktem eine Arme gähnend in die Luft. "Können wir uns darauf einigen, dass ihr beide eure Fehler habt?"
Joseph schürzte die Lippen. "Und du kommst tadellos davon?"
Ich reckte zwei Finger in die Luft. "Erstens hat deine Plage von Bruder gerade beschlossen, dass ich eine Egoistin bin." Ich klappte den Mittelfinger weg. "Und zweitens bin ich tadellos."
"Hat dir das dein Bruder gesagt?", foppte Joseph.
Liam vergrub das Gesicht in den Händen. "Joseph, du bist wahnsinnig taktlos."
"Siehst du, deine Fehler vermehren sich", moserte ich. "Und nein, hat er nicht. Ich bin nach einer umfassenden Durchleuchtung meiner Selbst zu dem Schluss gekommen, dass ich ein freundlicher, aufgeschlossener Mensch bin, mit dem ich äußerst zufrieden bin."
Gina hatte so etwas Ähnliches jedes Mal von sich gegeben, wenn jemand sie auf ihr übermäßiges Selbstvertrauen hingewiesen hatte. Meine beste Freundin hatte einen Hang zur Selbstverherrlichung gehabt.
"Freundlich?" Joseph riss die Augen auf. "Du tust so, als wärst du freundlich, ja. Und dann stellt sich heraus, dass du in Wahrheit nur darauf wartest, andere fertigzumachen."
Ich legte den Kopf schräg und tat so, als müsste ich ein Grinsen zurückhalten. "So schlimm bin ich auch nicht. Das sagst du nur, weil du angesichts meiner Tadellosigkeit Selbstzweifel bekommst."
"Ich bekomme angesichts deiner grenzenlosen Selbstliebe Zweifel daran, ob ich nicht doch Komplexe habe", bemerkte Liam. Wir blieben für etwa zehn Sekunden alle still. Joseph war der erste, der losprustete. Ich beeilte mich, ebenfalls mit dem Lachen anzufangen, dicht gefolgt von Liam.
"Du", keuchte Joseph immer noch lachend, "bist der Teufel!"
Ich verbeugte mich spöttisch. "Ich bin Lucifers Frau."
Die Organisation behauptete, sie würde im Namen Allahs Handeln. Sie rechtfertigen alles, was sie mir angetan hatten, damit, dass sie es für ein höheres Wohl getan hatten.
Wenn es Allah gab, dann war dies nicht sein Wille.
Ich hatte mich nicht mehr mit Religion beschäftigt, seit ich aus meiner Heimat fortgelaufen war. Ich war ein gläubiger Mensch gewesen, denn ich war so erzogen worden. Doch als ich floh, hatte ich ihm abgeschworen. Wenn es einen Gott gab, hätte er mir helfen müssen. Selbst wenn es ihn gab, was auch immer sein Name war, selbst wenn es ein höheres Wesen gab, würde ich niemals wieder beten gehen. Ich hatte gebetet und es hatte mir nichts gebracht. Ich war damit durch. Es interessierte mich nicht mehr.
Doch die Art der Misshandlung, die ich durchlitten hatte, mit dem Namen eines Gottes zu rechtfertigen, konnte ich nicht gutheißen. Ich war kein gläubiger Mensch mehr, doch obwohl mich so weniges interessierte, ging mir ausgerechnet das unter die Haut.
Und ich wusste, dass es an Victor lag.
Meine Gefühlslosigkeit war nicht nur von dem Leben gekommen, das ich gehabt hatte - sie war auch mit der langen Abwesenheit meines Seelenpartners verbunden. Seit Wochen kannten wir uns jetzt. Ich glaubte nicht daran, dass ich jemals wieder wirklich von Emotionen gesteuert sein konnte, schlicht weg deshalb, weil mein auf rationales Denken trainiertes Gehirn jahrelang Zeit gehabt hatte, um zu erkennen, dass Emotionen nicht wirklich existierten. Das Gehirn gaukelte sie einem vor, doch man brauchte sie nicht. Ich brauchte sie nicht.
Doch auch wenn ich vielleicht nie wieder Liebe oder etwas Derartiges fühlen können würde, nie wieder danach handeln konnte, merkte ich schon jetzt, dass ich im Inneren wieder auftaute.
Gefühle waren ein Privileg der reichen Menschen. Der Menschen, die es sich leisten konnten, welche zu haben. Dass sie zurückkehrten, bedeutete, dass ich es mir vielleicht wieder leisten konnte, etwas zu fühlen.
"Das ist Blasphemie", sagte Liam todernst. Ich stockte kurz, sah ihn an und wartete darauf, dass er noch etwas hinzufügte, etwas, dass mir sagte, ob er nur scherzte oder es ernst meinte.
Joseph sah mich an, doch er gab kein Zeichen von sich, was in seinem Bruder vorging.
Liam grinste und zeigte einen schiefen, spitzen Eckzahn. "Dein Gesicht war episch."
Ich stieß die Luft zischend durch die Zähne aus. "Spiel nicht mit meinen Nerven!", beschwerte ich mich.
"Bitte verlassen Sie die Bibliothek", bat ein alter Mann uns. "Sie lenken uns ab."
Ich wechselte einen Blick mit den Brüdern, dann standen wir auf, schnappten uns unsere Jacken und Unterlagen und ließen den Tisch in vollkommener Unordnung zurück. Sobald wir durch die großen Türen aus dem Gebäude draußen waren, fing ich an zu kichern.
Joseph wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. "Ich habe Bauchschmerzen", maulte er.
"Du trainierst eben zu wenig", erwiderte Liam mit einem Schulterzucken und klopfte seinem Bruder auf den Bauch. "Wenn du nicht nur auf der Couch gammeln würdest, würde dir Lachen auch nicht wehtun."
"Wir treffen uns morgen hier?", fragte ich grinsend.
Liam und Joseph sahen sich an und nickten. "Sieht so aus. Falls du uns nicht wieder versetzt."
"Oh, glaub mir, werde ich nicht. Ich würde alles dafür geben, noch einmal mitansehen zu dürfen, wie Joseph schmollt."
Lachend wich ich Josephs Schubsen aus.
"Vielleicht tauche ich morgen nicht auf", sagte der jüngere Bruder.
Ich stemmte die Hände in die Hüften. "Du würdest mich sitzen lassen?"
Liam sah seinen Bruder schelmisch an. "Niemals, nicht wahr, Josie?"
Joseph nahm seinen Bruder in den Schwitzkasten, der es gutmütig über sich ergehen ließ. "Du kannst es nur herausfinden, wenn du kommst", meinte er an mich gewandt.
Ich winkte zum Abschied und drehte mich schwungvoll auf meinen hohen Hacken um. Über die Schulter rief ich ihm zu: "Ich habe dein schmollendes Gesicht zum Ansporn."























Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now