Kapitel 6)

371 18 4
                                    


Mein nächster Auftrag war schon der erste, dessen Schuld Rahel nicht tragen müssen sollte. Es ging darum, die Tochter eines weiteren reichen Geschäftsmannes zu kidnappen, ein Mädchen von vielleicht 14 Jahren. Das Mädchen war gut bewacht, doch seine beste Freundin nicht, und diese war von der Organisation schon Tage zuvor entführt worden. Sie wurde am Nachmittag nach meiner ersten Schmugglung in mein Zimmer gebracht, und wir wurden zusammen eingeschlossen.
Ich wusste, dass sie Tjara Sawbi hieß und mit meinem eigentlichen Opfer, Mara Andelier, in eine Klasse ging. Dort hatten die beiden sich kennengelernt, und obwohl Mara wegen ihres Vaters von den meisten Schülern eher gemieden oder umschmeichelt wurde, mochte Tjara sie wirklich. Sie freundeten sich an, obwohl Tjaras Mutter sie warnte, dass reiche Leute Menschen wie sie immer nur ausnutzten. Ihr Vater war gestorben, als sie ein kleines Kind war, Geschwister hatte sie keine und ihre Mutter und sie lebten alleine in einem Haus. An Geld mangelte es ihnen nicht, da ihre Mutter als angesehene Köchin arbeitete, doch Tjara war häufig alleine, wenn sie von der Schule nach Hause kam, fing die Schicht ihrer Mutter an und hörte erst auf, wenn das Mädchen schon tief und fest schlief.
Mara Andelier war ebenfalls Einzelkind, und auch für sie hatten ihre Eltern wenig Zeit, was dazu geführt hatte, dass die Mädchen sich beistehen konnten, ohne viel darüber sagen zu müssen, und so freundeten sie sich an, verbrachten die einsamen Stunden zusammen und unterstützten einander.
"Was mache ich hier?", fragte Tjara mich mit wütender Stimme, als die Tür hinter uns zugezogen wurde. In ihrem Gesicht stand mehr Zorn als Angst, ihre Haltung war aufrecht und ihre dunklen Augen funkelten. Sie trug kein Kopftuch, ihre Haare waren kurzgeschoren, was mir recht sympathisch erschien, auch wenn die leuchtenden Farben ihrer Kleidung eine Qual für meine Augen war.
Ich antwortete nicht, maß ihren Körper mit schnellen Blicken ab, machte mir ein Bild ihres Aussehens, ihres Charakters, ihres Temperaments. Zwar würde ich für andere Menschen immer noch wie sie wirken, auch wenn ich sie vollkommen falsch spielte, weil es sich für sie verdrehen würde, doch es war für mich leichter, wenn ich dem Orginal so nahe wie möglich kam.
"Kannst du reden?", fragte sie mit spöttischer Neugierde. Tjara schien mir nicht nach jemandem, der sich einschüchtern ließ, sie war nicht die, die den Mund hielt, sie war jemand, der immer etwas zu sagen hatte und seine Meinung laut und schamlos kundtat.
Das Mädchen verschränkte seine Arme vor der Brust, wippte auf den Fußballen auf und ab udn biss sich auf die Unterlippe. "Egal, wie ihr ihr droht, Mara wird euch nichts geben, und selbst wenn sie es wollte, ihr Vater würde es nicht zulassen", stellte sie klar. Sie war nicht dumm, sie wusste, dass sie nicht gefangen genommen worden war, weil man etwas von ihrer Mutter wollte. Es war ihre Freundin, der der Angriffspunkt war. Ebenso wenig gab sie sich der Illusion hin, dass ein derartig reicher Mann wie Lukas Andelier Geld für ein Mädchen aus der Mittelschicht hinblättern würde, selbst wenn es die beste Freundin seiner Tochter war.
"Was ist dein Lieblingsfach?", fragte ich, ignorierte ihre vorherigen Bemerkungen geflissentlich. Ich wusste, ich musste sie in ein Gespräch verwickeln, so viel wie möglich über sie herausfinden, was es mir leichter machen würde, sie zu kopieren.
Tjara sah mich mit schmalen, misstrauischen Augen an, leckte sich über die vollen Lippen und biss abermals auf die Unterlippe, eine Angewohnheit von ihr. Derweil zupften ihre Finger geschäftig an ihren Ärmeln herum, sie wippte auf den Fußballen auf und ab und sie reckte ihr Kind noch ein wenig, als müsse sie darüber hinwegtäuschen, dass sie hier die Gefangene war.
"Physik", antwortete sie schlussendlich. Ob es die Wahrheit war, konnte ich nicht sagen, dafür bräuchte ich Rahel, doch keinesfalls würde ich sie hier mit rein ziehen, wenn es sich irgends vermeiden ließe. Sie steckte als Geisel schon tief genug in der Sache. Meine eigene Chance bestand darin, dem Mädchen zu vertrauen, dass es mir die Wahrheit sagte.
"Lieblingsfarbe?"
"Wieso stellst du mir solche Fragen?", fragte sie aggressiv. "Du wirst Mara nicht mit meiner Lieblingsfarbe erpressen können!" Nein, das nicht. Aber die Kenntnisse über Tjara würden mir trotzdem helfen, Mara zu erpressen, und somit, meine Schwester vor dem Tod bewahren.
"Lieblingsfarbe?", fragte ich abermals, schärfer diesmal. Tjara rümpfte die Nase, stampfte mit dem Fuß auf wie ein trotziges kleines Kind und wandte das Gesicht zur Seite, aber sie war zu klug um zu glauben, dass sie nicht bestraft werden würde, sollte sie sich meinem Willen widersetzen.
"Rot", antwortete sie schließlich. Das war schlecht, das war sehr schlecht. Rot war eine grauenhaft helle Farbe, so beißend. Damit ich mich nicht auch noch auf die Kleidung konzentrieren musste, würde ich ihrem Modegeschmack nachkommen, das bedeutete, ich würde wohl oder übel das Schwarz ablegen müssen.
"Hobbys?", fragte ich weiter nach.
Tjara verkniff sich mühsam einen Kommentar und führte nur aus, was sie gerne tat. Offenbar mochte sie das Kochen, sie rannte gerne mit Mara durch die Straßen und legte sich mit anderen Menschen an, doch sie war eine aufmerksame Schülerin, wenn auch ein bisschen vorlaut, denn sie wusste, dass sie, wenn ihr die Schulbildung schon ermöglicht worden war, etwas draus machen musste. Später wollte sie wegziehen, nach Schottland, England oder Schweden, ganz weit hoch in den Norden, nach Europa, und dort studieren. Mara und sie sprachen häufig darüber, die Oxford-Universität gemeinsam zu besuchen, sich eine Wohnung zu teilen und danach arbeiten zu gehen. Während Tjara über ihre träumerische Zukunft redete, fiel die abneigende Haltung und ihre Wut merklich von ihr ab, und ich merkte, wie wichtig ihr dies war. Die beiden Mädchen träumten davon, ihre Familien hinter sich zu lassen, frei zu werden.
Ich ließ Tjara reden, und auch als das Essen kam, erzählte sie noch. Manchmal stockte sie, als fiele sie wieder ein, dass ich nicht ihre Freundin war, sondern eine derer, die sie gefangen genommen hatten, doch ich war eine gute Zuhörerin, und wenn ich schwieg und sie stumm ansah, dann redete sie weiter.
"Maras Bruder will uns mitnehmen", erzählte sie irgendwann. "Er hat mir versprochen, er würde mich hier rausholen. Er will arbeiten gehen, sobald er mit der Schule fertig ist und uns die Ausreise finanzieren. Er sagt, er würde bei seinem Vater angestellt werden und viel verdienen, damit wir genug Geld zusammen haben, sobald Mara und ich alt genug sind. Und dann fliegen wir weg, und Marek arbeitet, während wir studieren, und dannach kann er studieren und wir arbeiten."
Das, was ich bis jetzt gehört hatte, ließ darauf schließen, dass die Beziehung zwischen Tjara und Maras Bruder Marek recht komplex war. Es war wohl nicht ganz klar, ob sie zusammen waren, doch ich vermutete, dass da mehr lief, als Mara vielleicht wusste. Nanny hatte mir beigebracht, dass solche Geheimnisse der wunde Punkt bei Menschen waren, dass man so etwas gegen andere verwenden konnte. Gina behauptete, meine Großmutter hätte es faustdick hinter den Ohren, während Rahel meinte, sie sei einfach nur ein manipulativer und argwöhnischer Mensch, ein schlechter Mensch. Das alles mochte stimmen, doch Nanny war nicht von Geburt an so gewesen, das Leben hatte sie zu dem gemacht, und sie hatte es an mich weitergegeben, damit ich es als Schutzschild trug und niemals den Schmerz erleiden musste, den sie durchgemacht hatte.
"Du und Marek?", fragte ich und knabberte an einem Stück Pita. Tjara redete frei heraus, die Worte kamen ihr schnell über die Lippen, doch ich wusste, sobald ich sie drängte, würde sie augenblicklich dicht machen. Den Anreiz hatte ihr die Tatsache gegeben, dass sie auch mit anderen Mitteln zum Reden gebracht werden könnte, weiterreden ließ sie vielleicht die innere Verzweiflung, vielleicht der Wunsch, Mitleid in mir zu erwecken, jedenfalls durfte sie nicht aufhören.
"Es war, kurz nachdem ich 14 geworden bin", beichtete Tjara mit verschwörerischem Unterton. "Ich habe mich mit diesem Jungen gestritten, der Mara immer wegen ihres Vaters ärgert, und er hat mich unterstützt. Mara war an diesem Tag nicht in der Schule, und Marek hat mich nach Hause gebracht, weil der Junge mich mit seinen Freunden verfolgt hat. Und dann hat er mich geküsst, als wir angekommen sind, bevor er abgehauen ist."
Eine leichte Röte kroch in die Wangen des verliebten Mädchen. "Ich wollte es Mara sagen, wollte ich wirklich, aber Marek hat mich abgefangen und mich schwören lassen, dass ich es ihr verschweige, und dann hat er mich nochmal geküsst, und er hat gesagt, es sei ein Versprechen. Mara weiß es immer noch nicht, aber Marek sagt, dass er es ihr verrät, sobald er sie von ihrem Vater weggebracht hat. Und er hat ihr schon erzählt, dass er mich mag, nur noch nicht, dass ich manchmal bei ihm bin, wenn sie keine Zeit hat, und sie hat ihn gewarnt, dass er sich bloß von mir fernhalten soll, aber Marek hört nicht auf sie."
Tjara schlug die Augen nieder. "Mara vertraut mir, und ich nutze ihr Vertrauen aus."
"Was würde Mara machen, wenn sie es erfahren würde?", hakte ich unbarmherzig nach. Tjara sah wieder auf, schlang ihre Finger ineinander und da war keine Wut mehr in ihren Augen, nur noch Angst um ihr Leben und Sehnsucht, Sehnsucht nach ihrem Zuhause, nach ihrer Mutter, nach Mara, vielleicht aber auch einfach nur nach Marek, in den sie offensichtlich von Kopf bis Fuß verliebt war.
"Mara würde weglaufen, sie würde es mir nie verzeihen", flüsterte Tjara. Und Nanny sollte Recht behalten. Liebe machte Menschen dumm und leichtsinnig und schwach. Wenn Tjara die Wahrheit sprach, war dies mein Angriffspunkt, so könnte ich Mara von ihren Wachen weglocken. "Bitte, tu nichts, bitte, sag es ihr nicht", flehte Tjara, ganz ohne die vorherige Wut und Abneigung, jetzt ganz das gefangene Wrack. "Bitte, tu mir das nicht an, tu ihr das nicht an!"
Ja, sie appellierte ganz sicher an mein Mitleid. Kurz horschte ich in mich hinein, wartete darauf, dass sich irgendwas meldete, Mitgefühl, Zuneigung, schlechtes Gewissen, doch da war nichts. Mir waren das flehende Mädchen zu meinen Füßen, seine reiche Freundin und deren hinterhältiger Bruder gleich, alles, was zählte, war Rahel. Doch Rahel würde sich Schuldgefühle machen, wenn sie erfuhr, was ich für sie getan hatte.
Tjaras Liebesbeziehung konnte ich nicht retten, das würde ich zerstören, um meine Schwester zu schützen, aber vielleicht konnte ich dafür sorgen, dass Mara nicht in die Arme der Organisation lief, sondern in andere, in Arme, die in einem schwarzen Anzug steckten und zu grauen Augen gehörten.
Ich stand auf, ging zu der Tür und pochte wieder dagegen, diesmal achtete ich nicht einmal mehr darauf, ob meine Hände geschützt waren. Es dauerte nicht lange, da ging die Tür auf und Doug und Mustaf sahen mir entgegen, beide wieder schwer bewaffnet.
"Fertig?", knurrte Mustaf, der ständig schlechte Laune zu haben schien.
Ich nickte. "Rote Kleidung. So wie ihre. Physikbücher. Kochbücher. Kein Kopftuch. Spiegel."
Doug nickte, drehte sich um und ging den Gang entlang zur anderen Tür, um mir das Gewünschte zu beschaffen. Zwar war ich hier nicht ganz freiwillig, doch der alte Mann hatte angeorndet, mir alles zur Verfügung zu stellen, was ich brauchte, um Tjara zu kopieren. Mustaf starrte mich einen Moment lang wütend an, dann packte er Tjara beim Arm und zerrte sie aus dem Raum.
"Hast du sie dir eingeprägt?", fragte er barsch.
Ich nickte. Das fiel mir leicht, ich konnte mir Gesichter gut merken, es war Teil meiner Gabe. Identitätswandler mussten immer wissen, wie die Personen, die sie spielten, aussahen, wie sie sich verhielten, zu jeder Zeit. Das jedenfalls hatte mir Nanny eingebläut, und mit der Zeit war es auf mich übergegangen, ich konnte Menschen nur kurz ansehen und merkte mir die wichtigsten Merkmale. Tattoos, Piercings, auffällige Augenfarben, bestimmte Gesichtszüge, Haltung, Sprechweise, zur Schau gestellte Fertigkeiten.
"Nein!", protestierte Tjara, als sie von Mustaf unsanft weiter in den Gang geschoben wurde. "Tu Marek nicht, lass Mara in Ruhe, ich flehe dich an, tu ihnen nichts!"
Das Mädchen flehte und bettelte, doch mein Herz ließ sich nicht erwärmen. Es ging um Rahels Sicherheit, die gewährleistet werden musste, die von mir gewährleistet werden musste, komme was wolle, so wie ich es geschworen hatte. Selbst wenn es bedeutete, nach meinen grausigen Erfahrungen bei dem Mann wieder etwas anzufangen, selbst wenn es bedeutete, dass ich diesen Marek an mich ran lassen musste, um von Mara mit ihm auf frischer Tat ertappt zu werden.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt