Kapitel 23)

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Victor verließ das Haus früh. Heute war Samstag, und Lake kam nicht darum herum, mit ihm zu trainieren. So weit ich wusste, hatte das Training angefangen, als William sie zu einem Wettkampf herausgefordert hatte, weil sie Zed scheinbar problemlos besiegt hatte, doch auch nachdem der Kampf beendet war – das Ergebnis wurde tunlichst geheimgehalten – trainierten sie weiter. 

Mit einem Bustransport, den ich von dem Geld, das mir Larsa gegeben hatte, bezahlte, kam ich von Denver nach Colorado Springs. Der Fußweg war scheinbar meilenlang, doch die Bewegung würde mir gut tun, um meinen Körper für eine Flucht fertig zu machen. Mir war bewusst, dass ich, sobald ich wieder mehr Gewicht hatte, mit dem Training anfangen musste. Selbst wenn alles glatt verlief, eine Flucht war stressig. Sobald Victor Benedict das Leben verloren hatte, meine Kraftzufuhr gestoppt war und ich wieder auf mich alleine gestellt war, würde ich unter dem Stress nachgeben. Ich musste üben. Und das schnell.

Sergio und Larsa zu erkennen war nicht schwer. Selbst hier in den Vereinigten Staaten hielten sie ihren eintönig schwarzen SUVs die Treue. Sie waren vom Highway abgebogen und der Wagen stand im Unterholz, unscheinbar und mit einem guten Überblick auf den Weg.
Sergio zog die Tür hinten auf und ließ mich in den Wagen schlüpfen. Sobald ich drinnen war, knallte sie laut zu. 
„Was hast du für uns?", fragte Sergio. Persisch klang seltsam scharf im Gegensatz zum Englischen.

Ich schwieg, bis er sich weiter erklärte.
„Glaubt er dir? Wie reagiert er auf dich?"

Fortschritte. Sie wollten Fortschritte von mir hören und ich konnte ihnen von welchen berichten. Denn ich machte sie. Nicht so schnell, wie es für Rahel von Vorteil wäre, aber ich machte Fortschritte und ich würde weiterhin welche machen.

„Er glaubt mir." Ich stellte mich ohne Probleme wieder auf meine Landessprache um. „Er verfällt mir."

Sergio stieß ein bitteres Lachen aus. „Ist für deine Schwester auch besser."

Larsa beobachtete mich. Ich konnte sie unter ihrer Burka kaum sehen, ihre Augen waren durch das Stoffgitter nur durch das Glitzern erkennbar, das das angeschaltete Licht im inneren des SUVs verursachte, doch ich war mir ziemlich sicher, dass sie meine Reaktion auf die Anspielung über Rahel verfolgte. 

Ich wartete ausdruckslos ab. Sie hatten mich nicht nach Colorado Springs kommen lassen, damit ich ihnen sagen konnte, dass Victor Benedict angesprungen war. Sie hatten meine Nummer. Das hätten sie mir auch schreiben können.

Es sei denn, sie hatten herausfinden wollen, ob ich ohne Victors Überwachung diesen Weg bewältigen konnte. Allerdings hätte ich dann versagt. Denn wenn ich Victor wirklich an mich gebunden hätte, wäre es mir nicht so kurz nach meinem Auftauchen gelungen, mich in eine solche Situation begeben, ohne dass er mich beschützen wollte. Ich kannte die Benedicts aus den Erzählungen von Gina, doch auch die Organisation war sich wohl bewusst, welche Ansichten die Brüder vertraten.

„Was weißt du schon über ihn?", forschte Larsa nach, als ich meine Aussagen nicht vertiefte.

Sie wollte nichts wissen, was ich von Gina hätte erfahren können. Sie wollte etwas wissen, das ich unmöglich aus der Ferne hätte erfahren können. Etwas, das er geheim hielt oder zumindest nicht über die Grenzen seiner Familie heraus bekannt war.

Ich wusste viel über ihn. Welchen Beruf er ausübte, wo er wohnte, ich kannte seine Telefonnummer, ich kannte die Leichtigkeit, mit der er mit neuen Situationen fertig wurde. Zum ersten Mal begegnet waren wir uns nur vor wenigen Wochen, und ich verstand große Teile seiner Handlungen.

Doch da war nichts, was ich ihnen sagen konnte. Kein Geheimnis, das Victor mir anvertraut hatte. Keine dunkle Vergangenheit, keine Schwächen. Ich arbeitete auf meine Art und Weise, und diese beinhaltete nicht direkt am Anfang, dass er mir seine Schwächen anvertraute.

Sergio grinste boshaft. Er klappte einen Laptop auf, der an Kabel angeschlossen war, die den gesamten SUV vernetzten. Das Startfeld ging an. Der Finder startete.

Die Videokamera ging an. Ein grünes Licht leuchtete an der Oberseite des Laptops. Ein schwarzes Feld erschien, das flimmerte, und dann ließ sich langsam ein Bild erkennen. Die Auflösung brauchte einige Zeit, bis sich erkennen ließ, was auf dem Bild zu sehen war.

Rahel saß auf einem Stuhl. Das Bild zuckelte, als sie sich bewegte und verzweifelt versuchte, den Fesseln zu entkommen, die sie an den Stuhl banden. Pjedro erschien. Er hielt ein Messer in der Hand, dessen Schneide er mit dem Daumen streichelte.

Langsam drangen auch Geräusche durch. Rahel schrie etwas, aber es war nicht möglich, den genauen Wortlaut zu erahnen. Pjedro verschwand wieder, Rahel aber schrie weiter. 
Sie würden meiner kleinen Schwester wehtun, weil ich ihnen nichts über Victor Benedict liefern konnte. Ich tat alles, um Rahel zu schützen, aber jetzt würde sie trotzdem dran glauben müssen, weil ich nicht fähig war, sie vernünftig zu schützen.

Rahels Mann wurde unsanft vor die Kamera geschubst. Er keuchte, lief auf Rahel zu, wollte sie in den Arm nehmen. Pjedro ließ es nicht zu. Meine kleine Schwester wand sich auf dem Stuhl, zerrte an den Seilen, die fest um ihren Körper gebunden waren, versuchte, die Arme freizubekommen.

Sie scheiterte.

Pjedro trat Ben die Beine unter dem Körper weg. Er ging zu Boden. Kniete auf dem Boden vor Rahel, starrte nur sie an. Ich wusste, dass er sich schuldig fühlte. Meine kleine Schwester schrie und wand sich und strampelte. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte.

Pjedro stellte sich neben Ben, packte dessen blonden Haarschopf und riss seinen Kopf in den Nacken, sodass die Kehle entblößt dalag. Vereinzelte Geräusche waren zu hören. Rahel kreischte meinen Namen. Flehte um Hilfe. Dann stockte die Verbindung. Das Bild blieb stehen. Es rauschte.

Als sich die Verbindung wieder hergestellt hatte, lag meine Schwester mit ihrem Stuhl auf dem Boden, robbte sich auf die Leiche ihres Mannes zu. Blut rann aus seinem Hals, wie Tränen aus ihren Augen. Pjedro wischte das Blut von der Klinge an Rahels T-Shirt ab, ließ es einschnappen und steckte es in eine Schlaufe an seinem Stiefel.

Während meine Schwester vor Trauer und Schmerz brüllend neben dem toten Ben lag, ging Pjedro vor dem Laptop auf seiner Seite in die Hocke.

Wieder konnte ich nicht verstehen, was er sagte, weil die Stimme zu sehr verzerrt wurde, doch ich konnte an den Bewegungen seiner Lippen ablesen, was er mir mitteilen wollte. Und außerdem war es offensichtlich.

Wenn ich Victor nicht bald brach, würde meine kleine Schwester ihrem Ehemann in den Tod folgen.

Ich sah Pjedro nicht an, sondern starrte hinter ihn. Zu meiner Schwester. Ich konnte die Tränen nicht erkennen, doch ihr Gesicht glitzerte vor Nässe in einem Licht, dessen Ursprung ich nicht kannte. Ihre zitternden Hände hatte sie in Bens Haaren vergraben und sie wiegte sich mit ihm auf dem Schoß hin und her. Ihre Schultern wurden von Schluchzern geschüttelt.

Ich sah meiner trauernden Schwester zu, wie sie ihren Mann verabschiedete, der gestorben war, weil ich nicht schnell genug war, nicht effizient genug. 
Rahels Leben, Rahels Glück, hatte bei mir oberste Priorität. Doch ich sah sie an, ohne dass sie davon wusste, und ich war nicht einmal fähig mir zu wünschen, ich könnte etwas verspüren.

Ich liebte Rahel. Mehr als alles andere. Davon war ich überzeugt. Doch es gab da keinen Schmerz, keine Schuld in mir. In Büchern hatte ich gelesen, dass einem vor Schuld schlecht wurde. Dass Schmerz brannte. Selbst Leere wurde beschrieben, unerträglicher als alles andere. Menschen, die eine solche Leere fühlten, wünschten sich den Schmerz zurück.

Aber ich liebte Rahel und ich fühlte nichts bei ihrem bahnbrechenden Verlust.


Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now