Kapitel 13)

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Das Mädchen, das gerufen hatte, stolperte gleich darauf über eine auf dem Boden liegende Tasche, wurde allerdings von einem Jungen aufgefangen, der sie begleitete. Sie war nicht besonders groß, kurvig, hatte unzähmbare rote Locken und machte einen zwar süßen, aber äußerst tollpatschigen Eindruck, während ihr Begleiter, der dunkelbraune Haare und prägende Augenbrauen besaß, recht sicher auf seinen Füßen wirkte. Das war wohl Misty, wenn ich mich nicht irrte, eine der Cousinen von Crystal Benedict. Gina war ihr größter Fan gewesen, sie hatte das Mädchen vergöttert - ebenfalls, ohne es je kennengelernt zu haben. Meine beste Freundin hatte die fragwürdige Angewohnheit, sich ein genaues Bild über ihr fremde Menschen zu machen und sie zu beurteilen. So hatte sie einst behauptet, Misty wäre ihre beste Freundin, sollten sie sich kennen. Mich hatte sie dabei in bester Manier fallen lassen. Allerdings war sie auch steif und fest davon überzeugt, das Uriel Benedict eigentlich nur auf sie wartete, und davon hatte sie auch seine Beziehung zu seinem Seelenspiegel, Tarryn, nicht abbringen können.
"Misty", begrüßte Lake sie etwas trocken. Der junge Tollpatsch sah sie an, ihre Lippen pressten sich aufeinander und sie gab ein gemurmeltes: "Du schon wieder", von sich, das sie sich aufgrund ihrer Gabe vermutlich nicht hatte verkneifen können.
Sie begrüßte Xavier, der sie schon wesentlich freundlicher an sich drückte als Lakes Begrüßung ausgefallen war, tauschte einige freundschaftliche Worte mit Trace aus und wandte sich letzten Endes an Victor und mich. Sie sah ihn an, respektvoll, bevor ihr Blick zu mir huschte und ihre Augen sich weiteten.
"Scheiße, wer bist du?", fragte sie und versuchte kurz darauf, ihre Worte unter einem Hustenanfall verschwinden zu lassen. Gina hatte mir einreden wollen, dass ich dieses Mädchen eigentlich nur mögen konnte, denn sie könnte mich niemals betrügen; sie war gänzlich unfähig, eine Lüge zu erzählen oder mir auch nur etwas zu verheimlichen.
"Der neuste Familienzuwachs, schätze ich", gab Lake kühl zurück.
"Wow", stieß Misty hervor. "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der schöner war. Ist, meine ich. Ist."
Sie lief rot an, und ihr Freund eilte zu ihr und ließ seine mit ihrer kooperierende Gabe wirken, um den Worten ihre peinliche Wirkung zu nehmen. Seine Versuche, den Schaden einzugrenzen, prallten an den Schutzmauern von Victors und Lakes Geisten ab und irrten umher, fanden meinen aber nicht. Ich war zu schwach, zu unscheinbar, als dass seine Beruhigung mich finden könnte.
Lake schnalzte mit ihrer Zunge. "Wir schlafen bei dir, um Tiger nicht ständig von einer neuen Umgebung in die nächste zu zerren, nicht wahr? Aber ich warne dich, wenn ich dich morgen früh bei ihr im Bett finde, dann setzt's was. Die einzige, mit der diese Frau Victor betrügen darf, bin ich."
Misty rang sich ein schwaches Lächeln ab, Trace verdrehte die Augen und Xavier grinste, während die Worte mich nicht im Geringsten berührten. Ich hatte es trotz meiner Erfahrungen geschafft, mit Marek zu knutschen, um Rahel zu retten, solche Bemerkungen würden mich nicht abschrecken. Das durften sie nicht, denn neben mir stand mein Seelenspiegel und erwartete von mir, dass ich ihm irgendwann näher kommen würde.
"Habe ich da noch was mitzureden?", fragte Victor kühl.
Lake legte den Kopf schief. "Das kommt ganz auf Tigers Verhalten an, mein Lieber."
"Wie wär's, wenn du Will mit in deine Überlegungen einbeziehst?", wollte Mistys Freund, dessen Namen mir Gina nicht genannt hatte, amüsiert wissen. Lake war also nicht nur Victors beste Freundin, sondern auch feste Freundin von William Benedict, dem vierten der Bande.
"Will... äh... nein. Der darf nicht mitreden", entschloss sich die Frau mit perfide funkelnden Augen. "Jedenfalls nicht, bis ich ihn wiedersehe, und ich bin mir fast sicher, dass ich noch vor unserer Rückkehr nach Denver herausfinden werde, ob ich Tigers Verhalten mag oder nicht. Wenn nicht, dann wird Victor es mir ja sowieso ausreden. Wenn es mir gefällt, könnte keiner von beiden mich abhalten." Sie grinste.
"Du bist gestört", murmelte Trace.
"Du hältst dich auch schon seit drei Monaten in meiner Nähe auf!", konterte Lake und stemmte die Hände in die Hüften. "Kein Wunder, dass ich psychisch nicht mehr ganz auf meiner Höhe bin!"
"Warst du das je?", hakte Xavier nach, der auch endlich mitmischen wollte.
"Ja, aber ihre Höhe ist nunmal nicht als solche zu bewerten", platzte Misty wieder heraus und machte sich damit zum Star der Diskussion. Wenn Gina noch leben würde, hätte sie alles dafür gegeben, einem solchen Disput beizuwohnen. Sie hatte es geliebt, sich jeglichem Menschen anzulegen, den sie auf ihren gefährlichen Streifzügen durch verbotene Areale von Kabul und Umgebung sah.
Die Wahrscheinlichkeit, dass wir heute hier noch wegkommen würde, sah ich mit jeder Sekunde weiter schrumpfen. Trace, Lake, Misty und Xavier verfingen sich in einen umfangreichen Streit, währenddessen sie sich immer weiter vom Ursprungsthema entfernten. Xavier und Misty arbeiteten gnadenlos zusammen, sodass Trace und Lake nach einiger Zeit aufgaben, miteinander zu streiten und sich ebenfalls zusammenschlossen. Lake war von ihnen allen mit deutlichem Abstand am Besten im Kontern, doch Mistys Wahrheitsgabe war keinesfalls zu unterschätzen, und ich meinte zu spüren, wie ihr Freund sie passiv unterstützte. Außerdem war Xavier der Scherzknabe der Familie und um kein Wort verlegen, während Trace offenbar längere Zeit mit Lake unter einem Dach gewohnt hatte und dazugelernt hatte.
"Wie lange geht das noch?", fragte ich Victor nach einiger Zeit, der dem Streit ebenso desinteressiert zusah wie ich. Lake behauptete inzwischen, dass Xavier irgendetwas namens Pete vorsätzlich zerstören würde.
"Eine halbe Stunde, vielleicht eine ganze", schätze Victor sachlich. Ich ließ meinen Blick über die Menschen wandern, die an uns vorbeirauschten. Ein paar warfen uns neugierige Blicke zu, andere gafften offensichtlich, und einige liefen einfach weiter, unbekümmert, hektisch.
Xavier und Lake fingen an zu lachen, während sie sich Beleidigungen an den Kopf warfen, Misty widersprach heftig gegen etwas, das Trace gesagt hatte und selbiger beschwerte sich darüber, dass Misty und ihr Freund ihre Gaben einsetzten, denn der Streit sei nun unfair.
Victor zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als er leicht an mir vorbeistrich und sich in Richtung eines Starbucks begab, der am Rand der großen Ankunftshalle war. Ich folgte ihm, ohne etwas zu sagen, und setzte mich an einen Tisch ihm gegenüber.
"Wie bist du zu dem Mann gekommen, den du umgebracht hast?", fragte Victor schließlich, als das Schweigen zwischen uns unbehaglich wurde. Ich sah ihn nicht direkt an, sondern las die Anzeige über seinem Kopf, aber ich vernahm seine Worte und registrierte jede Bewegung in meiner näheren Umgebung.
"Er war ein Freund meines Vaters", log ich. Ich wollte nicht erklären müssen, was mit meiner Familie war, wieso ich vor ihnen geflohen war, wie es dazu kam, dass ich mich bei einem fremden Mann einnistete und ihn für jemanden hielt, der mir helfen wollte. Je mehr sie über meine Lebensumstände erfuhren, desto mehr würden die Benedicts mir meine Tat verzeihen, das wusste ich, doch irgendwann würde ich mich in meiner Geschichte verstricken und sie würden von der Organisation erfahren, und dann wäre Rahel vollkommen verloren.
"Wusste dein Vater davon?", hakte der Mann mir gegenüber nach.
Stumm schüttelte ich den Kopf. Selbst wenn mein Vater Bohrak gekannt hätte, hätte er gewusst, was dieser Mann mir antun würde, hätte er mich um jeden Preis geschützt. Seine Verachtung galt meiner Gabe, meinem Charakter, aber ich war dennoch seine Tochter, und diese hatte er zu schützen.
"Wie lange warst du bei ihm?" Langsam blickte ich dem Benedict in seine stahlgrauen Augen. Er versuchte, meine Tat zu rechtfertigen, er versuchte, mehr darüber herauszufinden, wie es zu dem Mord gekommen war. Vielleicht, um mich zu entlasten, vielleicht, weil es ihn interessierte, vielleicht, weil er der Benedict-Agent war und sein Seelenspiegel, sein perfektes Gegenstück, sich als eine kaltblütige Mörderin herausgestellt hatte und er dies nicht auf sich sitzen lassen konnte.
"Lange", antwortete ich. Genaue Zeitangaben konnten für mich gefährlich werden, sie könnten sie überprüfen und meine Lügen herausfinden. Je weniger sie wussten, desto besser für Rahel.
Xavier Benedict hatte Lake inzwischen im Schwitzkasten und versuchte, ihre Ausbruchsversuche zu unterbinden, Misty liefen Lachtränen über die Wangen und Trace hatte einen Streit mit Mistys Freund angefangen.
Wie es sich wohl anfühlte? Zu lachen? Einen Streit zu genießen? Den vier, inzwischen schon fünf, Streitenden machte es sichtlich einen heiden Spaß, doch konnte ich das nicht nachvollziehen. Es war zu lange her, dass ich etwas wie Spaß gefühlt hatte. Und ich wollte es auch nicht spüren, es war mir egal. Spaß könnte trügen, könnte meine Sinne betäuben und mich naiv machen.
"Du sagtest, du hättest ihn umgebracht, weil er dir etwas antun wollte", griff Victor das Gespräch wieder auf, aber auch er beobachtete inzwischen seine sich prügelnden Begleiter. "Hat er es schon getan?"
Er sollte mich lieben, er musste mich lieben. Würde ich es ihm sagen? Würde ich die Gefahr eingehen, dass er Mitleid bekam, dass er wütend wurde oder dass er mich für schwach hielt? Oder war es mir egal? Wollte ich das Mitleid vielleicht? Victor Benedict sollte mich lieben, doch wusste ich nicht, wer ich war. Ob es ein mich gab.
"Ja." Ich wusste noch immer nicht, ob ich die Wahrheit gesagt hätte, doch dieses Ja war nützlicher, denn es entsprach der Wahrheit. Diese Wahrheit würde Rahel nicht gefährlich werden, eine Lüge hingegen, eine Lüge die entlarvt werden könnte, die konnte meine Schwester schubsen.
Lake hatte sich aus Xaviers Griff befreit und gestikulierte jetzt wild mit den Händen, während er sich schleunigst in Sicherheit brachte, außer Reichweite ihrer kommenden Rache. Trace hatte von Mistys Freund abgelassen und fiel Lake nun in den Rücken, indem er sie festhielt und Xavier die Möglichkeit gab, die Flucht zu ergreifen. Misty und ihr Freund taten den Rückzug an, während Trace sich mit der beleidigten Lake zu einer Lagebesprechung zurückzog.
Victors Gesicht war verschlossen, seine Augen glitzerten gefährlich. Allerdings schien er nicht davon überzeugt, was er jetzt tun sollte. Ich war sein Seelenspiegel, ich war für ihn der wichtigste Mensch, jedenfalls sollte das so sein, doch er kannte mich noch nicht lange. Der überlegene Agent musste nun entscheiden, wie er sich verhalten sollte.
Gina und Rahel hatten Grund verschiedene Meinungen zu meinem Seelenspiegel gehabt. Es war ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen, über ihn zu disktutieren, wenn sie nicht gerade ihren eigentlichen Hobbys nachgehen konnten. Gina war der Überzeugung gewesen, er sei ein reicher Schulversager, der mit seinem Leben nichts anfangen konnte, obwohl ihm eigentlich alles gegeben worden war, weil das genau mein Gegenteil wäre. Rahel hingegen, ganz die loyale Schwester, meinte, dass ich mit so jemandem nichts anzufangen wisse und hatte auf einen Oberschichtrebellen getippt; einen Jungen, dem zwar auch alles gegeben war, klug und vorwitzig, der sich aber keineswegs für etwas Besseres hielt.
Nun war es anders gekommen. Er war aus der Oberschicht, hatte genug Geld, eine ihn unterstützende Familie, und klug war er ganz sicher, doch er war kein Rebelle. Er hatte seinen Platz gefunden - einen Platz in einer amerkanischen Behörde. Allerdings musste man dazu sagen, dass auch er seine Zeit gebraucht hatte, um die rebellische Phase zu überwinden. Auch eines der Lieblingsgespräche meiner besten Freundin und meiner Schwester. Gina war zwar versesssen auf die Benedicts, doch Rahel hatte Protest irgendwann aufgegeben und sich dem wilden Gerätsel meiner besten Freundin angeschlossen. Dabei hatten die Badboy-Phasen des ältesten Bruders, Trace, des dritten, Victor, und des letzten, Zed, ganz neue Ausmaße angenommen. Stundenlang hatten sie mich vom Schlafen abgehalten, während sie sich über das neuste erzählten, was sie von den Dreien gehört hatte.
Woher sie diese Informationen gehabt hatten, war mir nicht klar, immerhin agierten die Benedicts eher im Schatten. Ja, bei gewissen Festnahmen waren ihre Namen in der Zeitung aufgetaucht und auch über das Savant-Netzwerk hatte man viel über sie erfahren, in dem Gina ziemlich aktiv unterwegs gewesen war, der im Gegensatz zu uns beigebracht worden war, dass Seelenspiegel etwas Erstrebenswertes waren, doch diese privaten Details hatten sie ganz sicher nicht daher. Nachgefragt hatte ich allerdings nie, meist hatte ich nur stumm zugehört und es über mich ergehen lassen.
"Was hat er dir angetan?", fragte Victor, neutral, ruhig, doch die Tatsache, dass er nachhakte, sagte schon genug aus.
"Etwas, für das ich ihn umgebracht habe", antwortete ich. Ich hörte einen Gürtel durch die Luft zischen, spürte brennenden Schmerz auf meinem Rücken, auf meinen Waden, auf meinen Schenkeln. Ich wurde durch ein Zimmer geschleift, eine weiche Matratze unter meinem Rücken, Angst, die mich lähmte. Angst, größer als die Wut, die sich in mir aufbäumte, größer als der Überlebenswille. Ich spürte eine harte Hand auf meiner Wange, spürte, wie meine Augen tränten. Ich wurde angeschrieen, ich duckte mich unter Schlägen, ich spürte das kochendheiße Wasser, das meine Finger und meinen Arm verbrannte, fühlte, wie 20.000 Volt durch meinen Körper jagten.
Eine Hand legte sich auf meine. Kalte Finger, rau, schlank und langgliedrig. Ich blinzelte und vertrieb die Erinnerungen aus meinem Kopf, so gut es eben ging. Ich erinnerte mich an vieles, es gehörte zu meiner Gabe, ich musste mir alles schnell einprägen können, sodass es über Jahre hielt. Das hatte durchaus seine Nachteile. Mein Körper hatte ein Jahr Zeit gehabt, sich jeden Schmerz zu merken, der mir zugefügt wurde, an jede Beschimpfung, jede Bestrafung, jedes kleinste Übel.
"Du hast ihn umgebracht", sagte Victors Stimme, klar und fest. Ich sah ihm in die Augen, und versuchte, mich an dem Grau festzuhalten, kämpfte dagegen an, dass es zum boshaften Schwarz wurde, das ich ihn Bohraks Augen immer erblickte hatte. "Er ist nicht mehr hier, Tiger."
Mit einem erneuten Blinzeln vertrieb ich die Erinnerung vollends. Ja, es war vorbei. Ich hatte dem ein Ende gesetzt. Nach einem Jahr, in dem ich von ihm misshandelt worden war, hatte ich Bohrak umgebracht, hatte mein Leben gerettet und seines dafür genommen.
Ich zog meine Hand weg und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. Xavier konnte vor Lachen nicht mehr streiten, Misty hingegen schien wie in ihrem Element. Natürlich, Dank ihrer Wahrheitsgabe war es ihr unmöglich zu lügen, und somit konnten ihre Aussagen nur schwerlich abgewiesen werden. Allerdings sah ich, dass Lake auf jedes ihrer Worte eine schlagfertige Erwiderung hatte. Ihre Arme waren verschränkt, ein Grinsen hatte ihr Gesicht verzerrt und ihre Wangen waren rötlich, was ihre Augen nur noch mehr zum Glitzern brachte. Trace verspottete unentwegt seinen vor Lachen brüllenden Bruder, der blind durch die Gegend stolperte und versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Mistys Freund unterhielt sich mit jedem Vorbeigehenden und versprühte eine ordentliche Portion Charme.
Victors Augen waren nachdenklich, abwesend. Ich ließ mich nicht von seiner scheinbar lockeren Haltung täuschen, er war noch immer aufs Äußerste angespannt und wachsam, doch er vertraute mir genug, um mir gegenüber keinen Argwohn zu hegen.
"Hast du was zu zeichnen?", fragte ich plötzlich. Zeichnen half immer. BIlder von meinen Augen auf das Papier zu bannen, vertrieb sie aus meinem Kopf, machte sie plastisch und ungefährlicher. Victor sah mich an, hörte mich, und doch hatte ich das Gefühl, er sehe durch mich hindurch. Dennoch war er geistesgegenwärtig genug, um mir einen Block und einen Stift zu geben. Er beobachtete mich, dann die Umgebung, prüfend, aber immer noch abwesend, während ich die Notizen überflog, die er sich gemacht hatte. Größtenteils waren es Aussagen zu Fällen, Stichwörter, wichtige Aspekte. Es dauerte nicht lange, da fiel mir auf, dass es sich bei diesem Fall um meinen handelte. Die Aussagen bezogen sich auf meine Person, die Stichwörter waren mögliche Gefängnisse, möglicher Tatbestand und Kontakte meiner Selbst, Aspekte zu den Begebenheiten, die zu meiner Festnahme und dann zu meiner Flucht geführt haben konnten.
Ich ließ den Kugelschreiber ausschnappen und beugte mich über eine noch leere Seite des Blockes. Er war liniert, doch das störte mich nicht. Mir schnellen, sicheren Strichen arbeitete ich mich voran, blickte auf das Blatt und doch sah ich es nicht, ich sah nur Bohrak, wie er sich über mich beugte, grausam und wütend. Die dunklen Haare, das breite Gesicht, die flache Nase, die tiefgelegenen Augen. Charakteristische Augenbrauen, dunkel und buschig, eine hohe Stirn. Grobe Hände, heiß und vernarbt. Ich erinnerte mich an das Funkeln in seinem Blick, doch es war anders als das Funkeln in Lakes Augen oder gar denen von Victor. Meine Hand bewegte sich hektischer, zielsicherer, die harten Striche zerrten an dem Block, doch das Papier riss nicht. Ich zeichnete Schatten und Falten, Gesichtszüge und Details, an die ich mich nur Dank meiner Gabe noch erinnern konnte. Der abgebrochene rechte Eckenzahn. Die Einkerbung an seiner linken Schläfe. Dass das linke Ohr höhergelegen war. Die Fransen seiner Haare vorne.
Ich blätterte um, hörte nur für wenige Millisekunden auf zu zeichnen, bevor mein Kugelschreiber sich wieder auf das Papier senkte und ich von neuem begann, ein neues Bild. Die Luft flimmerte, als ein Gürtel auf mich zusauste, und dementsprechend verschwommen-schwärzlich wurde meine Zeichnung. Ich sah eine schemenhafte Gestalt, die sich über mich beugte, und bannte das Bild auf das Papier, ohne darüber nachzudenken, ohne darauf zu achten, was ich tat. Mein Atem ging flach, schneller, ich spürte abermals die grauenhaften Schmerzen, roch das metallische Blut, das Bohrak immer verfolgt hatte, hörte seine Worte, die wie durch einen Schleier zu mir drangen. Tu, was ich dir sage. Du weißt doch, dass ich dich nicht bestafen will. Mäßige dich. Gib dir Mühe. Werde besser.
Meine Hand verkrampfte sich um den Kugelschreiber, meine Unterarme brannten, aber ich zeichnete immer schneller. Die Szene vor meinen Augen wechselte, und ich weihte ein neues Blatt mit meinen Zeichenkünsten ein. Gina rannte ein paar Meter vor mir, lachend, ihre Haare flatterten frei hinter ihr her. Unter uns befanden sich die Häuserdächer, ein paar Meter zu beiden Seiten ging es steil tief hinab, und über uns erstrahlte die Pracht des afghanischen Himmelszeltes. Meine beste Freundin sprang von einem Hausdach zum anderen, und ich folgte ihr, wie ich es immer getan hatte. Ich sah eine Bombe vor meinen inneren Augen explodieren, sah, wie Ginas Körper auseinandergerissen wurde, und neues Papier erfuhr durch grobe Kugelschreiberstriche einen anderen Teil meiner Leidensgeschichte. Von Bild zu Bild wurde es düsterer, von Bild zu Bild wurden die Schatten ausgeprägter, denn von Bild zu Bild wurde mein Leid größer.
Meine Hand zitterte und brannte, als ich die letzte Seite des Blockes aufschlug und langsam anfing, das Ende zu zeichnen. Jegliche Hektik, jegliche Schnelligkeit war aus meinen Bewegungen verschwunden. Die Präzision, mit der dies angefertigt wurde, musste genau stimmen. Meine Arme waren entspannt, meine Handgelenke locker, so wie es sein musste, damit ich gut zeichnen konnte, doch meine Beinmuskeln waren zum Zerreißen angespannt. Meine Handfläche juckte, als ich mich daran erinnerte, wie die Konturen der Messerschneide über sie glitten, tief in sie hineinschnitten. Meine Nase brannten, als ich mich daran erinnert hatte, wie der Blutgeruch zu mir hinauf stieg, als sich die Lache über den geputzten Küchenboden ausbreitete. Meine Armmuskeln erinnerten sich an die Kraft, mit der ich ihm die Spitze in den Hals gerammt hatte. Meine Augen wurden stumpf und mein Herzschlag, der gerast hatte, wurde langsamer, gleichmäßig, als ich mein Bild vollendete.
Auf dem Blatt vor mir lag Bohraks Leiche, das dunkle Blut breitete sich langsam um ihn herum aus und mein Körper mit dem Messer in der Hand, der von einer Küchenlampe hinter mir beleuchtet wurde, warf einen langen Schatten über meinen Toten, einen Schatten, der sich in den entsetzt aufgerissenen Augen Bohraks widerspiegelte.
Ich legte den Kugelschreiber beiseite und hob den Blick. Victor hatte die Blätter in der Hand, von denen ich nicht einmal registriert hatte, dass ich sie abgerissen hatte. Wie viel Zeit verronnen war, wusste ich nicht, doch es waren acht Zeichnungen, jede davon ein Teil meines Leides. Eine stellte meinen Vater da, wie er mich anschrie, neben ihm meine Brüder, die lachten, und Rahel, die sich in eine Ecke kauerte. Nanny, die in ihrem Bett starb, mit einer einsamen Träne im Augenwinkel. Gina, als die Bombe hochging und sie mit sich in ihr Ende riss. Rahel, als sie von mir fortgenommen wurde, verheiratet. Das Elternhaus, das hinter mir in der Nacht verschwand, als ich die Flucht ergriff, ohne dass irgendjemand es registrierte, weil niemand da war, den es kümmerte. Menschen, Freunde, die mir die Tür vor der Nase zuschlugen, mir den Zugang zu ihren Wohnungen verwehrten und mich im Stich ließen. Bohrak, als er mich zum ersten Mal schlug, weil ich im Haushalt versagt hatte. Und der Tag, an dem ich mich selbst verlor, als ich meine Unschuld, an der ich immer festgehalten hatte, aufgab und einen Mann ermordete.
Victor studierte das letzte Bild, ein Schatten lag über seinen Augen. Dann legte er die Zettel auf den Tisch, auf einen Stapel. Das oberste Bild zeigte den am Boden liegenden Bohrak, mit herausquellenden Augen und von einer Blutlache umgeben.
Ich hätte nicht in seiner Gegenwart zeichnen sollen, denn diese Bilder waren viel zu intim. Niemand hatte je davon gewusst, dass ich zeichnen konnte, niemanden hatte ich meine Geschichten zu lesen gegeben oder meine Bilder gezeigt. Dies ging niemanden etwas an, nur mich. Doch ich hatte die Bilder aus meinem Kopf kriegen müssen, und er war nunmal hier.
Victor Benedict sah mich fest an und ich erblickte in seinen Augen die Gewissheit, dass er zu einem Schluss gekommen war. Keine Wut war da, aber eine feurige Kälte, die nicht mir galt, sondern einem verstorbenen Mann. Seine Stimme war bitterkalt, als er entschlossen sagte: "Wer auch immer er ist, er hatte verdient, was du getan hast."



Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now