Kapitel 19)

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Lake kam eine halbe Stunde zu spät – was laut Victor für ihre Verhältnisse noch eine geringe Verspätung war. Allerdings brachte sie Energie mit, was wohl besser war als Müdigkeit und eine halbe Stunde früher.
Victor wimmelte Lake mit der Ausrede ab, sie müsse mir als Frau erst einmal beistehen, was er ihr zwar nicht abnahm, aber er beließ es dabei. Am Nachmittag würden wir uns mit ihm, William, Diamond, Trace, Sky, Zed und Xavier irgendwo in der Stadt treffen. Angeblich brauchte ich mehr Sachen, ich käme nicht mit zwei T-Shirts und einer Hose aus. Wer genau das für mich beschlossen hatte, wurde nicht erwähnt, aber laut Lakes Erzählungen war die Abstimmung einstimmig ausgefallen.
Sie bot mir an, auf mich zu warten, während ich mir ein Kopftuch holte, doch ich lehnte ab. Ein Kopftuch würde mir nicht nützen, wenn überhaupt, dann brauchte ich eine Vollverschleierung, eine Burka, doch ich hatte weder eine dabei noch hielt ich es für sinnvoll, hier eine zu tragen.
Mich band nichts an die Traditionen meines Heimatlandes. Ich hatte keine Familie, der ich treu bleiben wollte, ich hatte keine Religion, die es mir befahl, und hier war es nicht üblich, eines zutragen.
„Kannst du klettern?", wollte Lake von mir wissen, als wir den Rand des Kaffs erreichten, das laut Gina Wrickenridgehieß. Hier wohnten die Benedict-Eltern auf einem Berg, hier ging Zednoch zur Schule und hier waren sie alle aufgewachsen.
„Natürlich",erwiderte ich. „Warum?"
Lake grinste und Schalk blitzte inihren Augen auf. „Weil wir in die Schule einbrechen, und um auf dasSchulgelände zu kommen, müssen wir über das Tor klettern. Vickihat sich bis jetzt noch geweigert, mich seine Schlüssel nachmachenzu lassen."
Dieses Mädchen war Gina nicht besonders ähnlich,meine tote beste Freundin war auf eine freundliche Art lustiggewesen, doch wie Gina tat Lake auch gerne verbotene Dinge, auch wenndas in Afghanistan weit drastischere Folgen mit sich tragenkönnte.
Beide redeten in einer unendlichen, zusammenhangslosenAbfolge von Themen mit ewig langen, aneinandergereihten Sätzen ohnePunkt und Komma, beide störte es nicht im geringsten, dass meineReaktionen auf ihre Erzählungen nur kläglich ausfielen und beidehatten das Glühen von Spott in den Augen, das nie verschwindenwollte.
Aber Gina hatte sich selbst nicht so sehr versteckt. Esgab einzelne Momente, an denen es mir auffiel, an denen Lake mittenim Satz abbrach und dann hastig weiterredete, als hätte sie einenPunkt erreicht, an dem sie beschloss, dass das Folgende mich nichtsmehr anging. Lake war es wohl weitgehend egal, was ihre Mitmenschenvon ihr dachten, doch es war ihr nicht egal, was sie selbst von sichdachte, und sie selbst schien sich manchmal verleugnen zuwollen.
„Wie gefällt es dir bei Victor?", fragte sieplötzlich. In ihrer Stimmung schwang ordentlich Hohn mit, als ob sieSchadenfreude hätte. Als ob sie dachte, dass ich Schwierigkeiten mitihm hätte.
„Wie soll es mir gefallen?", entgegnete ichargwöhnisch.
„Weißt du, die meisten Menschen ertragen seineNähe nicht freiwillig. Jedenfalls nicht sehr lange. Ich meine, ichbitte dich, hat der Typ Humor?"
Ich zuckte dieAchseln und widmete meine Aufmerksamkeit wieder unserer Umgebung.Humor. Ihr kam es also auf Humor an. Damit passte sie gut zu WilliamBenedict; der vierte Bruder, Witzbold, Bodyguard.
Für Gina war erzu sehr auf Sport fixiert, Rahel behauptete, dass ein Bodyguard ihrzu viel Action gäbe. Sie hatte sich nicht so auf einen der Brüderfestgelegt wie Gina, doch wir alle hatten gewusst, müsste siewählen, würde sie Yves nehmen.
„Hast du Humor?", fragte Lakeplötzlich und kniff die Augen zusammen. Schamlos studierte sie meinGesicht, meine Haltung, inspizierte meine Reaktion, mein Verhalten.
Als die Schule in Sicht kam, gab sie es auf und wandte sich ab.
Das Tor ragte weit in den Himmel hinauf, mit Spitzen am oberen Ende. Lake starrte sie an und rümpfte die Nase. "Die sind neu. Ich glaube, sie wurden angebracht, nachdem ich letztes Mal eingebrochen bin. Na ja. Tut jetzt nichts zur Sache. Ich klettere vor und zeige dir den Weg, ja?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie ihren Turnschuh auf die untere Angel, packte einen Stab des Torgestells und zog sich hoch. Geübt, als hätte sie es schon unzählige Male getan, bewegte sie sich von einer Stange zur anderen, setzte ihre Füße treffsicher und ohne einen Blick auf den Platz zu verschwenden. Ihre Arme zogen sie mit Rucken hoch, den Körper schleifte sie hinter sich hoch. Innerhalb von wenigen Sekunden erreichte sie das Ende des Tores, wo sie sich auf einen steinernen Pfeiler schwang und darauf hocken blieb.
Mit den Bildern der kletternden Lake vor Augen, stellte ich auch meine Füße auf die Stangen. Von den abgewetzten Leinenschuhe, die ich in Afghanistan von einer Terrasse geklaut hatte, löste sich die Sohle. Ich setzte meine Füße und Hände genauso, wie Lake kurz vor mir. Da ich weniger Kraft in den Armen besaß, brauchte ich länger, um mich hochzuziehen, aber das fehlende Körpergewicht und die Übung meiner langen Klettertouren mit Gina machten diesen Nachteil fast wett.
Kurz bevor ich auf dem Pfeiler ankam, ließ Lake sich auf die andere Seite fallen, damit ich genug Platz hatte. Der Stein fühlte sich rau und warm an unter meinen Fingern, von der Sommer erwärmt. Der rechte Schuh gab endgültig auf und löste sich von meinem Fuß.
Ich kam auf beiden Füßen auf, und am rechten Bein fuhr der Stoß mangels Gummisohle heftig durch meine Knochen. Trotzdem richtete ich mich sofort wieder auf, zog auch den anderen, halb zerfallenen Schuh von meinen Füßen, damit beide Beine gleichlang waren, und folge Lake, die nur einen kritischen Blick für meine Füße übrig hatte.
Schülerscharen drängelten sich auf dem Hof zusammen, quatschten, tuschelten, lachten und spielten. Ein paar jüngere Schüler kickten sich einen Lederball zu, einige andere dribbelten mit einem eingedöllten Basketball über eine abgetrennte Zone. Andere saßen auf den Bänken, die über das Gelände verteilt waren, auf Treppenstufen oder auf Baumstümpfen und aßen ihr Mittagessen. Eine Gruppe Jungs in Lederjacken gammelten in der Ecke herum, lehnten sich an ihre Motorräder und unterhielten sich.
Lake schritt hocherhobenen Hauptes über den Vorplatz, direkt auf die Jungs mit den Motorrädern zu. An der Geschwindigkeit, die die Schüler zum Vorschein brachten, als sie ihr auswichen, machte es sich unübersehbar, dass sie hier Eindruck hinterlassen hatte - wohl eher nicht mit einer guten Tat.
Einer von ihnen löste sich von den anderen und kam ein paar Schritte auf Lake zu. Er umarmte sie kurz und fest, wechselte ein paar knappe Worte mit ihr. Als ich näher kam, blickte er über ihren Kopf zu mir. "Tiger Lorenson?"
Ich nickte. Zed Benedict. Letzter Benedict, der noch auf die Schule ging. Badboy. Attraktiv, sportlich, weicher Kern. Passte ideal zur zierlichen, musikorientierten und verwaisten Sky Bright. Sie passten zusammen wie Yin und Yang. So sollte es sein. So passten auch Crystal und Xavier, Yves und Phoenix, Trace und Diamond zusammen. Lake und William schienen es ebenso zu halten. Über Uriel und Tarryn wusste ich nur wenig. Victor Benedict und ich passten perfekt zusammen, wenn es bei ihm genauso lag wie beim Rest seiner Familie. Es konnte mir gar nicht schwer fallen, ihn zu verführen.
"Keine Sorge, sie ist immer so wortkarg, es liegt nicht an dir", beschwichtigte Lake ihn mit einem spöttischen Unterton. Sie warf mir einen frechen Seitenblick zu, der ihren Worten das Gift nahm.
Zed schnaubte. "Ne, aber vielleicht an dir. In deiner Gesellschaft wollen die wenigsten Leute plaudern, Lake."
"Urschade", säuselte sie. "In deiner Gegenwart wollen die wenigsten Leute sein, Zeddie."
Zed hob eine Augenbraue. Sein Mund kräuselte sich zu einem Grinsen. "Du solltest nicht mit dem Feuer spielen. Sonst übernehme ich Victors mieseste Angewohnheit und du verbrennst dich."
Lake lachte. "Du meinst den Spitznamen, nicht wahr? Das ist grausam, es dient zu Trainingszwecken und, ich muss dich enttäuschen, das ist lange nicht seine mieseste Angewohnheit."
Plötzlich schien Zed einzufallen, dass ich eine besondere Verbindung zu Victor pflegte. Sein Grinsen erlosch. Lake warf mir einen weiteren Blick zu und sagte dann mit geschürzten Lippen: "Ja, mir fällt's auch gerade ein. Wir haben einen Maulwurf in unseren Reihen. Jetzt müssen wir aufpassen, in wessen Anwesenheit wir lästern."
Zed schüttelte den Kopf. "Lake, du gehst zu weit."
Sie versuchte einmal mehr, ihr Grinsen zu unterdrücken, aber sie schaffte es nicht. "Sorry, Tiger. Dein Seelenspiegel ist ein Sadist. So, jetzt, wo es raus ist, kommen wir zum eigentlichen Grund unserer Anwesenheit."
"Wie, ich dachte, das sei meine Anwesenheit?", mischte sich einer der anderen Jungs ein, der dazugekommen war. Er gab vor zu schmollen, was Lake dazu bewegte, die Augen zu verdrehen und zu erwidern: "Nein, deine Anwesenheit hätte mich fast dazu gebracht, mein Vorhaben aufzuschieben, um dir nicht zu begegnen, aber dann ist mir eingefallen, dass dein minderwertiges Selbst mich nicht von meinen großen Plänen abbringen sollte."
Zed schien sich für einen Moment nicht sicher, warum er mit Lake befreundet war, bevor er mir mit einem Kopfschütteln andeutete, nichts von dem, was Lake mir über Victor erzählte, zu glauben. "Und wenn es nicht Seans Anwesenheit ist, wieso seid ihr dann hier?"
"Wir suchen Sheena", erklärte Lake kurz entschlossen und sah sich demonstrativ um. "Wo ist sie?"
Sean zog neckisch eine Augenbraue hoch. "Sheena? Seit wann suchst du nach ihr? Weiß Will davon?"
Lake schien hin- und hergerissen, ob sie Sean nervig und kindisch finden sollte, oder ob sie seine Sticheleien lustig fand. Sie entschied sich, sich nicht zu entscheiden und ignorierte ihn. Ein weiterer Junge schloss sich uns an, er hatte offenbar schon zugehört, denn er gab direkt die Antwort. Sheena befand sich wohl innerhalb des Gebäudes beim Cheerleading.
"Oh Gott, nein", stöhnte Lake auf. "Wenn es eines gibt, das ich jetzt nicht möchte, dann ist es, irgendwelchen Highschool-Mädels beim Pompom-Werfen zuzugucken."
"Wer bist du?", fragte Sean mich und strafte Lake für ihre Ignoranz ihm gegenüber mit denselben Mitteln. Er war recht groß, stattlich und hatte blonde Haare. Zwar Muskeln, aber er sah nicht so aus, als ob er mir gefährlich werden könnte. Und mit Waffen war er ganz sicher nicht geübt. Ob er Verbindungen zu Behörden hatte? Vater, Mutter, Geschwister, die Beamte waren? War es ungefährlich, ihm meinen Namen zu nennen?
Als ich weiterhin zögerte, ihm eine Antwort zu geben, übernahm Zed diesen Part für mich. "Das ist Tiger." Er sah mich kurz an. "Eine Freundin von Lake."
Wenigstens diesen Teil meiner Privatsphäre berücksichtigten sie. Vielleicht konnte die Verbindung zu Victor Benedict mir irgendwann nützlich sein, aber vorerst barg sie nur unerwünschte Aufmerksamkeit. Von Gina und Rahel wusste ich, dass alles, was Special Agent Victor Benedict umgab, ein Mysterium hier war - und Schüler waren für solche Mysterien anfälliger als jeder andere. Es wäre für meine Nachforschungen vermutlich nicht von Vorteil, wenn alle wussten, wer ich war, mit wem ich zu tun hatte und sich darüber informierten. Lake mochte es gefallen, im Mittelpunkt zu stehen und von allen gekannt zu werden, doch ich hielt es für hinderlich.
"Freundin?", fragte Sean belustigt. "Diamond Benedict war überraschend, aber dass es noch eine andere Irre gibt, die es in deiner Nähe, Lake, aushält, hätte ich nicht für möglich gehalten."
Lake zuckte die Schultern. "Das liegt daran, dass du solche Menschen nicht kennenlernen kannst, weil diese ein Hirn haben und Menschen mit Grips halten es in der Gegenwart von Menschen mit einem IQ, bei dessen Zählen sie in die Minuszahlen runtergehen müssten, meist nicht aus, was dich einschließt."
Sean kniff ein Auge zusammen und versuchte ganz offensichtlich, die Bestandteile des Satzes, den Lake soeben von sich gegeben hatte, zusammenzusetzen, während Zed, der es schon verstanden hatte, ein schnaubendes Lachen von sich gab.
Bevor Sean letztendlich doch noch zu einem Ergebnis kommen konnte, befand Lake, dass es an der Zeit wäre, Sheena aufzusuchen. "Man sieht sich", zwitscherte sie an Zed gewannt, in einem Tonfall, den dieser als ungut zu deuten schien, da das Knurren, das er zum Abschied von sich gab, weit weniger erfreut klang. Mich verabschiedete er mit einem knappen, wenn auch nicht unfreundlichen Nicken. Sean zwinkerte mir zu, und ich hob die Hand zaghaft, aber zu einer größeren Geste konnte ich mich nicht durchringen.
Lake führte mich vom Hof hinab in die Tiefen desSchulgebäudes rein, das sie dafür, dass sie nicht hier zur Schule ging und auch keine Stelle hatte – meines Wissens nach durchlief sie auf Bitte William Benedicts hin eine Ausbildung zur Personenschützerin statt ihres primären Wunsches, Soldatin zu werden, Folge zu leisten – viel zu gut zu kennen schien.
Der Weg, den wir zur Turnhalle dieser Highschool einschlugen, schien der schnellste zu sein, der uns zu gehen ermöglicht war, und unentwegt wurden wir von Schülern und Lehrern angestarrt. Die Menschen hielten auf dem Gang an, stoppten ihre Gespräche und ließen von ihren Spinden ab, nur um uns mit Blicken zu verfolgen.
Lake wurde der Großteil der Aufmerksamkeit gewidmet, aber auch an mir blieben Blicke haften. Zu viele Blicke. Ich wollte nichts von diesen Menschen, ich wollte keine Zeugen, ich wollte keine Bekannten und ich wollte keine Aufmerksamkeit. Die Sache musste schnell von der Bühne gehen, unauffällig.
Wenn Victor verschwand, würde seine Familie nicht mich verdächtigen. Ich war sein Seelenspiegel, wieso sollte ich ihn verraten? Vermutlich würden sie nachforschen, und irgendwann würden sie vielleicht auf einen Grund stoßen, auf ein Motiv, das zu mir zurückführte. Aber bis sie dieses Motiv gefunden hatten, war ich schon lange weg. Wenn es aber noch andere Menschen gab, die mich mit Victor in Verbindung brachten und eine Aussage machten, dann würde es für mich schwerer werden, wieder unterzutauchen.
Wie auch immer ich mein Leben nach meiner und Rahels Flucht weiterführen wollte, es sollte nicht von meiner Vergangenheit beschattet werden. Ich hatte nicht vor, ein Leben lang von Staatsbehörden, Benedicts und Publicity verfolgt zu werden. Wahrscheinlich würde ich mit meinen Erinnerungen schon genug zu tun haben.
Die Turnhalle war groß und gut ausgestattet, genauso, wie eine Turnhalle in einer amerikanischen Highschool zu sein hatte. Aus großen Boxen in den oberen Ecken an der linken Stirnseite plärrte ein Popsong in schlechter Qualität.
In der Mitte der Halle gaben zwölf Mädchenin den Teenagerjahren und blauen Miniröcken ihr Bestes bei dem Versuch, einen perfekten Übergang zwischen einer Pyramide und der Ausgangsposition einzustudieren, was ihnen aber nicht so recht gelang.
Lake deutete auf das honigblonde Mädchen an der Spitze der Pyramide, das bei jedem Versuch einen eleganten Abgang mittels eines Saltos hinlegte, der in einem makellosen Spagat am Boden endete.
„Das ist Sheena. Die beiden, die sie halten, nennt Sky ihre Vampirbräute. Lakaien. Ich kümmere mich um die, du nimmst Sheena."
Ich nickte nur. Mehr brauchte ich nicht zu tun. Lake hätte Protest sowieso nur in den Boden getreten, mit vorwitzigen Sprüchen, die sie innerhalb von wenigen Sekunden ohne Punkt und Komma auf mich hätte niederregnen lassen, wie sie es so häufig tat. Außerdem hatte ich nichts gegen ihre Arbeitsaufteilung. So hatte ich genügend Zeit, Sheena separat, ohne Überwachung meine privaten Fragen zu stellen, Fragen, bei denen Lake vielleicht misstrauisch werden könnte.
Voller Energie, die wahrscheinlich auf Vorfreude für das bevorstehende Ereignis gründete, sprang Lake die Stufen zum Eingang der Turnhalle hinab. Ich folge ihr langsamer, besonnener. Es gab keine Überwachungskameras, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Immerhin war dies hier eine Schule, und auch wenn Sergio mir eingetrichtert hatte, dass Amerika eine sehr strenge Überwachung pflegte, wären Kameras auf einem Schulgelände zu viel. Vor allem in der Sporthalle.
Rücksichtslos gegenüber der Instandhaltung des Gebäudes, riss Lake die Tür auf und donnerte sie gegen die Wand. Der Knall, der ertönte, bewog die ganze Anzahl des Cheerleadingteams, die Aufmerksamkeit auf uns zu richten.
„Miss Crey, wir trainieren", säuselte Sheena laut und stemmte ihre Hände mit den pink lackierten Nägeln in ihre Hüften. „Wir erbitten um keine Störung und Respekt der Leistung gegenüber, die bei den bevorstehenden K.O.-Runden unserer Mannschaft von uns verlangt wird!"
Lake winkte ab, ohne den erbetenen Respekt zu zollen. „Ich bitte dich, das Baseballteam dieser Schule wird von euren Hampelmännern nur bei ihren Leistungen beeinträchtigt. Aber deswegen sind wir auch nicht hier. Ich mache mir nicht den Weg, um dir zu sagen, dass ihr nur hinderlich seid, denn das werdet ihr bald merken, wenn euer Team auf dem Spielfeld versagt. Ich bin eigentlich hier, um dir meine Freundin vorzustellen, die ein paar Fragen an dich hat."
Sheena sah an Lake vorbei. Als sie mich erblickte, legte sie den Kopf schief und maß mich mit Blicken ab, als wolle sie herausfinden, ob ich eine Bedrohung war oder nicht.
„Was will deine Freundin von mir?", fragte sie lauernd und zupfte an einemHautstück, dass sich an ihrem Nagelbett löste.
Lake warf mireinen bedeutenden Blick zu und trat einen Schritt zur Seite. Ich blieb ein paar Meter hinter ihr stehen, allerdings ohne dabei schüchtern zu wirken. Drei Cheerleaderinnen hatten sich am Rand der Truppe versammelt und tuschelten. Zwei andere machten Dehnübungen und starrten dabei auf die Glasscheibe über uns, und ich musste nicht hinsehen um zu wissen, dass ihre Dehnübungen ohne gaffende Jungs weniger anzüglich ausfielen. Der Rest stand etwas verloren hinter Sheena und war nicht sicher, was sie nun tun sollten. Ihre Lakaien, wie Lake sie genannt hatte, rückten näher an sie heran wie die Nachhut, die dazu diente, die Überbleibsel das Gemetzels ausfindig zu machen und zu zerstören.
„Auf Donna betreffende Fragen eine Antwort erhalten", antwortete ich ruhig.
Sheena spitzte ihren dunkelrot angemalten Mund. „Wieso hast du Fragen über Donna? Wer bist du?"
Ich strich mir beiläufig eine Haarsträhneaus dem Gesicht, blinzelte langsam und stellte mich ähnlich in Pose wie Sheenas Freundinnen. „Donna hat mir meinen Freund ausgespannt. Das möchte ich ihr heimzahlen."
Sheena warf ihren Freundinnen einen alarmierenden Blick zu und schenkte mir ein strahlendes Lächeln, das das abgebrochene Ende eines Eckzahns entblößte. „Leute, wir machen Pause", flötete sie in Richtung ihres Teams.
Als Sheena mit schwingenden Hüften auf mich zukam, bewegte sich Lake an ihr vorbei und fing ihre Freundinnen ab, die sich langsam hinter ihr herbewegten.
„Donna hat dir deinen Freund ausgespannt?", fragte Sheena und rümpfte ihre kleine, gepuderte Nase. „Das ist typisch." Sie legte mir eine ihrer kleinen Hände auf den Arm. „Es tut mir leid, dass du unter meiner Schwester leiden musstest. Ich helfe, wo ich kann."
Ich wusste, dass Lake mich beobachtete, während sie ihre Kreativität an Sheenas Freundinnen auslebte. Ich wusste, dass es mich einen Teil meiner Intimität kosten würde, dass Lake mir Fragen zu der Art und Weise stellen würde, mit der ich herausgefunden hatte, dass Sheena in scharfer Konkurrenz mit ihrer Schwester stand – einer Konkurrenz, die es mir ermöglichte, mich bei Sheena als Feindin ihrer Schwester einzuschleusen.
„Louis und ich waren seit einem Jahr zusammen", ersann ich und ahmte den Ausdruck nach, den Lake im Gesicht zur Schau trug, wenn sie sich einen fiesen Plan ausdachte und sich selbst dafür Beifall klatschte. „Und Donna hat sich voll an ihn rangeschmissen."
Sheena nickte und zog ein wehleidig-hochmütiges Gesicht, das zwar Mitgefühl andeuten sollte, aber auch einen Deut von Arroganz verlauten ließ, denn sie stand über dem hier.
„Sie ist so eine Bitch", tröstete Sheena mich und legte mir einen nackten Arm um die Schulter. „Sie hat das auch früher schon immer gemacht. Selbst mir hat sie mal einen Freund ausgespannt, ihrer eigenen Schwester!"
Ich nickte und ließ ein bisschen Selbstachtung in meinen Gesichtsausdruck gleiten. Sheenas Freundinnen buckelten vor ihr, doch sie hätte sie sich nicht ausgesucht, wenn sie Lemminge wären. Die Gefahr, sich selbst mit ihnen runterziehen zu lassen, wäre der Cheerleaderkapitänin zu groß gewesen.
„Ich möchte alles wissen, was du mir über Donna sagen kannst, selbst die kleinsten Details", befand ich und sah ihr in die Augen. „Alles könnte wichtig sein."
Sheena tätschelte mir den Arm und drückte sich die Hände von hinten in die Hüften, bis sie knackten, dann schüttelte sie sich die Arme aus und warf einen diskreten Blick zu der Fensterscheibe, um zu überprüfen, ob die Jungs noch immer dort standen.
„Ich sage dir alles, was du für wichtig befindest. Es wird Zeit, dass Donna lernt, dass die Welt sich nicht um sie dreht, sondern um den Mond."
Lake, die gerade auf halbem Weg zu uns gewesen war, stoppte, starrte Sheena für einen Moment ungläubig an und fing dann an, so heftig zu lachen, dass auch die um Aufmerksamkeit heischenden, skurrile Dehnübungen testenden Mädchen ihre Arbeit unterbrachen und zu uns sahen.
Sheena beachtete Lake nicht – was gut für mich und Rahel war, denn Lake hätte sich einen Kommentar nicht verkneifen können und meinen Informationszufluss somit stark gefährdet.
„Also, wo soll ich anfangen?", fragte Sheena und blinzelte mich vertrauenserweckend an. „Oder willst du dich wann anders mit mir treffen?"
Ich brauchte Zeit. Doch die hatte ich nicht. Später würden wir uns mit Victor treffen, und bis dahin musste ich alles in Erfahrung gebracht haben, was ich kriegen konnte. Rahel stand an einer Klippe, und dort konnte ich sie nicht ewig stehen lassen, denn irgendwann würde eine Partei nachgeben und Rahel fallen. Dazu durfte es niemals kommen.
„Mein Flug geht schon heute Abend zurück", erklärte ich. „Ich brauchte die Informationen so schnell wie möglich. Fang bitte mit etwas Allgemeinem an. Was trinkt Donna gerne? Wie verhält sie sich? Wo liegen ihre Stärken?"
Sheena zog die Stirn Kraus und tat so, als würde sie überlegen. „Donna hat einen Faible für starken Cappuccino. Nur wenig Milch, cremig aufgeschäumten Milchschaum, mit starkem Geruch und Geschmack und nach Möglichkeiten non-fett-Milch. Wenn sie keinen Kaffee getrunken hat, wird sie wirklich biestig. Und das wiederholt sich dann auch ein paar Male am Tag. Sie ist wirklich unerträglich. Außerdem mag sie alles mögliche Alkoholische – aber nur in Maßen." Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus. „Sie verliert nie die Kontrolle. Niemals. Sie hat schon früh damit angefangen, sich auf ihr späteres Leben vorzubereiten, wusste schon als Teenagerin genau, wann sie ins Bett muss, um Dinge am nächsten Tag zu schaffen, die für ihre Karriere wichtig sind. Nie hat sie sich gehen lassen, und gelacht hat sie nur über das, was sie für intellektuell hielt. Kein Wunder, dass alle ihre Freunde so schnell Schluss gemacht haben. Ich glaube, Cheerleading hat sie nur gemacht, weil es auf ihren Bewerbungen gut aussah. Sie hat sich viel mehr für Schwimmen und Kampfsportarten interessiert, aber das durfte natürlich niemand wissen. Sie ist penibel sauber, ordentlich und braucht kaum Platz. Oh Gott, und dann ihre Stärken. Sie denkt, sie wäre die klügste Person auf Erden."
Sheena machte eine Kunstpause, ließ ihren Blick durch die Turnhalle schweifen, bedachte ihre Teamkameradinnen, die ohne sie weitertrainierten, mit einem wütenden Zischen und widmete ihre Aufmerksamkeit schließlich wieder mir.
„Unsere Eltern denken, Donna sei genial. Das Wunderkind und so, du weißt schon. In allen Fächern immer unter den Klassenbesten, ohne sich wirklich dafür anstrengen zu müssen. Aber das war das, was sie unseren Eltern erzählt hat. Ich schwöre dir, auch wenn ich sie nie auf frischer Tat ertappt habe, sie hat die Lehrer solange angeschmachtet, bis die ihr bessere Noten gegeben haben."
Sheenas Hasstiraden auf ihre ältere Schwester lösten ihre Zunge. Es gab noch viele Lücken, doch Sheena stopfte die größten langsam. Mit Dingen, die sie mir erzählte, aber auch mit der Art, wie sie es erzählte. Donna ließ sich durch vieles erschließen, das Sheena sagte, und je mehr sie sagte, desto detaillierter wurde das Bild, das ich mir von Victors Exfreundin gemacht hatte.
„Was weißt du über ihre Beziehungen?"
Aus der Nähe lauschte Lake, wie ich Sheena unauffällig auf das Thema zuführte, bei dem ich sie eigentlich haben wollte. Sie grinste mir zu, aber ausnahmsweise hielt die Maske und verbarg weiterhin das, was sie vor der Welt verstecken wollte.
Sheena rollte mit den Augen. „Nicht viel. Die meisten ihrer Freunde waren aus anderen Städten, Aspen oder noch weiter weg. Und die von hier waren uninteressant. Fast immer irgendwelche Typen aus einem höheren Jahrgang. Nie jemand vom College."
Ich zupfte mein Shirt zurecht und warf meine Haare über die Schultern. „Ich habe gehört, sie sei mit Victor Benedict ausgegangen", warf ich beiläufig ein.
Sheena verzog den dick geschminkten Mund. „Ja, natürlich. Der Typ war das Interessanteste, was es in ihrem Leben gab. Und tatsächlich weiß ich recht viel darüber. Immer wieder hat sie uns ihren Liebeskummer vorgeheult, als wüssten wir nicht, dass sie nicht in der Benedict-Liga spielt."
Lake, die es sich auf dem Boden bequem gemacht hatte, kroch ein bisschen näher.
„Angefangen hat es wohl damit, dass sie ihn nach einem gemeinsamen Training der Footballer und Cheerleader geküsst hat." Sheena beschäftigte sich weiter mit ihren Nägeln. „Und er hat sie wohl nicht abgewiesen. Mein Freund Mathew sagt, er hätte es gesehen. Danach hat man sie häufiger zusammen gesehen, wie sie in Pups waren, in der Schule gesprochen und so. Vorher hat er sie nie beachtet. Aber Victor hat sich nie wirklich darum bemüht, die Beziehung aufrecht zu erhalten. Donna hat sich mehr auf ihr Studium konzentriert, sie wollte schon damals unbedingt Meeresbiologin werden, und Victor hat sein Ding durchgezogen. Wenn sie zusammen bei uns waren, hat er sich ziemlich reserviert verhalten. Er wollte nie Zukunftspläne machen. Und du kennst sie ja, die Badboys. Immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht, niemals Schwäche zeigen. Er war höflich, aber immer kühl. Istimmer noch so, glaube ich, nur tut er jetzt nicht mehr so vielI llegales. Ich habe seit mehreren Jahren nicht mehr von einer Kneipenprügelei in Verbindung mit dem Namen Victor Benedict gehört. Schade eigentlich."
Sie seufzte theatralisch. Dann blinzelte sie heftig und schien sich daran zu erinnern, dass ich nicht von Victor hören wollte, sondern von Donnas Beziehung zu ihm.
„Jedenfalls hat Donna ihn irgendwann mal darauf angesprochen, dass er sich unseren Eltern gegenüber so kalt verhält. Ich war im gleichen Zimmer wie sie, nur haben sie mich nicht bemerkt, deshalb habe ich den ganzen Streit mitgekriegt. Er hat einfach nicht reagiert. Sie hat ihn gefragt, wieso er sich so kalt zeigt, und er hat sie einfach nur angestarrt. Nicht, als würde er sie nicht verstehen oder wäre minderbemittelt oder so, sondern, als würde es ihn einfach nicht interessieren, weißt du? Donna hat irgendwann angefangen zu schreien, als er einfach stumm geblieben ist, und dann hat er nur gesagt, dass es aus sei und ist gegangen. Wir alle wussten schon von Anfang an, dass es nicht lange halten würde, nur Donna hat es nichtgeschnallt. Normalerweise wäre sie die Erste, die vom Ende erzählen würde – meine Schwester ist furchtbar pessimistisch, obwohl sie behauptet, sie sei Realistin, musst du wissen – aber sie war einfach zu blind vor Liebe. Aber sie hat versucht, Victor zu ändern. Das hat ihm nicht gepasst und er hat Schluss gemacht."
Sie zuckte mit den Schultern. Damit hatte ich zwar noch immer keine Details über die Beziehung zwischen Donna und Victor, doch ich hatte alles, was ich fürs Erste benötigte. Meine Grundbausteine hatte ich zusammengesammelt. Ich musste sie nur noch aufstellen. Die Brücken würden kommen, sie würden Zeit und Aufwand benötigen, aber wenn Victor in diese Beziehung, anders als in seine mit Donna, etwas Mühe investierte, dann würde ich keine weitere Bauhilfe von außen benötigen.



Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now