Kapitel 14)

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Victor hatte sich entschieden. Für mich. Er war ein FBI-Agent, jemand, der gegen Kriminalismus und für das Recht arbeitete, doch als er herausgefunden hatte, was mir, seinem Seelenspiegel, angetan worden war, hatte er entschieden, dass der Mann den Tod verdient hatte.
Ein Mensch konnte nicht für einen anderen entscheiden, ob er zu leben hatte oder den Tod verdiente, hatte Nanny gesagt. Es war wider die Natur des Menschen, bei solchen Entscheidungen einen klaren Verstand zu haben und sich nicht emotional beeinflussen zu lassen. So hatte sie mir eingeprägt, dass ich niemals jemanden aus Wut umbringen sollte oder demjenigen nur Schaden zufügen sollte. Wenn ich einen anderen Menschen verletzten wollte, dann nicht aus Wut oder Hass oder Trauer, sondern aus Lebensgefahr. Wenn ich mein Leben schützen musste, war dies der einzige Moment, in dem ich über das Schicksal eines anderen Menschen verfügen durfte.
Den Mord an einem Menschen für Recht zu erklären, das war etwas, das sie mit Verachtung bedacht hätte. Meine Großmutter hatte mir von Kindsbeinen an eingeprägt, mein Leben immer über die von anderen zu stellen, doch niemals hätte sie dies für Rechtschaffenheit oder Gerechtigkeit erklärt; sie hatte nur entschieden, dass das eigene Leben wichtiger war als Ehrenhaftigkeit.
Doch Victor Benedict hatte genau dies getan; er hatte meinen Mord an Bohrak für berechtigt erklärt. Hatte ihn mir verziehen. Die Behörden erschossen Menschen, die andere bedrohten. Wenn Bohrak das Interesse an mir verloren hätte, wäre er vielleicht zu anderen Opfern übergegangen. Damit wäre nicht nur ein Leben gegen ein anderes getauscht worden, nämlich meines gegen seines, sondern seines für viele.
Ich leckte mir das Blut von den Lippen, die ich mir während meines Zeichnentripps aufgebissen hatte, weil ich mich konzentriert hatte. Mein Gegenüber sah nicht aus, als ob er auf eine Erwiderung meinerseits wartete, sein Blick hatte sich wieder auf die Zeichnungen gerichtet. Nachdem er seinen Standpunkt zum Ausdruck gebracht hatte, studierte er die Bilder noch einmal, nun mit der Proffessionalität eines Agents, nicht mehr als indirekter Beteiligter.
Solange ich nichts dazu sagte, solange ich meine Zeichnungen unkommentiert ließ, waren sie vielleicht noch ungefährlich. Man sah meine Familie, aber diese konnte er nicht erkennen, ich sah keinem von ihnen besonders ähnlich, erst recht nicht nach dem Gefängnisaufenthalt und den Strapazen auf der Straße. Nannys letzte Träne auf ihrem Totenbett konnte man vielleicht erkennen, eine sterbende alte Frau, die zu meiner Trauergeschichte gehörte, war vermutlich leicht als meine Großmutter zu identifizieren. Die Explosion, die Gina mit sich riss, hätte alles mögliche sein können, ihre Gliedmaßen waren nicht mehr erkennbar, nicht mehr zuordnungsfähig. Ein Mädchen, das in einem bodenlangen Hochzeitskleid von einem grobgezeichneten Mann in hellem Anzug weggezogen wurde war noch nichts Besonderes. Ein kleines, halb zerfallenes Haus, das von der Nacht verschluckt wurde, könnte aus jedem Jugendroman stammen - jedenfalls nach dem zu vermuten, was ich über die Jahre an Wissen über Jugendromane angesammelt hatte. Schließende Türen könnten auf gesellschaftliche Ausgeschlossenheit tippen lassen, nicht aber auf die verzweifelte Lage, in der ich mich damals befunden hatte, ohne Heimat, Geld und Essen, von allen Freunden und Bekannten verlassen.
Nur die letzten beiden Bilder waren unmissverständlich. Beide bildeten Bohrak ab, auf einem tat er mir etwas an, auf dem anderen bestrafte ich ihn dafür.
"Eine Künstlerin", bemerkte Misty fasziniert und wollte eines der Bilder vom Tisch heben, doch Victor fegte sie mit einer schnellen Handbewegung zusammen und steckte sie mitsamt seines nun fast leeren Blocks in die Tasche. Lake und Xavier zankten sich immer noch, als sie mit Trace und Mistys Freund zu uns aufschlossen, doch sie hatten es überraschend leise geschafft, sich anzuschleichen.
"Habt ihr euer unnötiges Gelage beendet?", fragte Victor, ohne weiter auf Mistys Blick zu achten, der starr auf die Blätter gerichtet war, die er versteckt hatte, und stand auf.
"Blödsinn, das war nicht unnötig. Ich habe den Menschen hier in London einen Gefallen getan, und für sie deine Brüder darauf hingewiesen, dass sie ihre Dämlichkeit unter Kontrolle halten sollen. Die haben mit dem Dreckswetter hier schon genug Probleme", erwiderte Lake stur und folgte Mistys Blick interessiert. "Was hast du versteckt?"
"Hast du diesen Hinweis auch dir selbst erteilt?", fragte Victor, um ihrer Frage in Anwesenheit eines Wahrheitkenners zu entgehen.
Lake stieß ein verächtliches Schnauben aus. "Ach was. Hätte ich, aber deine Dämlichkeit übertrumpft sowieso alles, was von mir kommen könnte, so weit, dass ich es für unnötig befand, da du meinen Tipp sowieso nur missachten würdest, weil selbige Dämlichkeit es nicht zulassen würde, einen Tipp von einer - wesentlich intelligenteren - Frau entgegenzunehmen."
Misty verzog das Gesicht. Gina hatte erzählt, dass Lügen ihr körperlich wehtaten. Trace schüttelte nur den Kopf und gab jeglichen Protest, zu dem er hatte ansetzen wollen, als Lake über seine Intelligenz herfiel, unter dem zusammenhangslosen, kompromisslosen Gefasel derer auf.
"Hat es aufgehört zu Regnen?", fragte Xavier, dem seine Niederlage in der Diskussion gegen seine Begleiterin schon jetzt auf die Nerven fiel. Mistys Freund reckte den Kopf und spähte über eine Absperrung aus Topfpflanzen hinweg, um einen Blick durch das Fenster zu erhaschen.
"Sieht so aus. Jedenfalls schüttet es nicht mehr. Wir sollten jetzt los, hier kann es jeder Zeit wieder anfangen."
Lake nickte bekräftigend. "Das ist London, hier hört es nie auf zu regnen, Xav", kommentierte sie, während die Gruppe sich auf den Weg zum Ausgang des Flughafens machte. "Gepäck?", fragte ich Victor, der ebenso wie ich zurückblieb.
Er sah seinen Gefährten kurz mit zusammengekniffenen Augen nach, dann zuckte er mit den Achseln. "Unsere Aufgabe."
Ich erhob mich von meinem Stuhl, und prompt wurde mir schwarz vor Augen. Lange genug hatte es auch schon gedauert, nun holte mich mein Kreislauf wieder ein. Da es erst gegen Abend war, fiel das Jetlag nicht besonders stark aus, aber ich verbrauchte momentan Kraft, von der ich noch vor zwei Wochen nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Kein Wunder, dass ich irgendwan schwächelte. Ich stützte mich blind mit der Hand an etwas in der Umgebung ab, dann spürte ich eine starke, kühle Hand an meinem Ellenbogen, die mich vor einem Sturz rettete.
Übelkeit stieg mit einem Schlag in meinem Magen auf, noch bevor die Schwärze wieder aufgeklärt war, meine Knie zitterten und mein Atem flatterte. Eine zweite Hand nahm meinen anderen Arm, sodass ich von dem Gegenstand ablassen konnte, der mich zunächst ebenfalls gestützt hatte. Ich nahm einen scharfen Geruch wahr, der von Victor Benedict zu kommen schien. Nicht aufdringlich, zurückhaltend und schwach, aber während mein Sehsinn für einen Moment fort war, musste ich mich so sehr auf meine anderen Sinne verlassen, dass es mir sofort auffiel.
Victor hielt mich fest und wartete geduldig, bis ich ihn anblinzelte und etwas sehen konnte. Seine grauen Augen waren düster, weil er sich zu mir hinabbeugte und kein Licht in sie schien, aber beinahe augenblicklich hörten meine Knie auf zu zittern. Ich blinzelte noch einmal heftig, bevor ich mich aufrichtete und mein Gewicht zurück auf meine Beine verlagerte. Rahel strauchelte, warf sich aber von der Klippe zurück auf die Böschung, die allmählich anfing abzufallen.
Victor ließ mich noch nicht los, er musterte mich eingehend, kritisch. "Wann hast du zuletzt etwas gegessen?", wollte er dann wissen.
Heute Morgen, vermutlich. Ich hatte noch im Hauptquartier der Organisation gefrühstückt, allerdings nicht sonderlich üppig, die Mahlzeit war eher in Richtung dessen gegangen, das ich im Gefängnis bekommen hatte. Vielleicht lag mein Kreislaufzusammenbruch am Höhenunterschied, vielleicht an jahrelanger Unterernährung und vielleicht daran, dass ich den ganzen Tag kaum etwas gegessen hatte, doch ich war mir ziemlich sicher, dass es auf die Schwäche zurückzuführen war, die in mir saß, sich festgenagt hatte. Für viele der Aufgaben, die ich in den letzten Wochen absolviert hatte, war ich zu schwach gewesen, doch ich hatte sie erledigt, weil ich musste, weil Leben davon abhingen, das von Rahel und ihrem Mann und mir. Es kam wahrscheinlich alles zusammen. Jahrelanger Hunger, plötzliche Überanstrengung, fehlende Kondition, Stress, Druck, der Ortswechsel, mein Identitätswechsel.
"Heute Morgen", antwortete ich wahrheitsgemäß. Etwas zu Essen war gut. Ich musste zu Kraft kommen, und dabei durfte ich mich nicht nur auf die vermeintliche Nähe zwischen meinem Seelenspiegel und mir verlassen. Seine grauen Augen waren es gerade eben gewesen, die mir einen Energieschub gegeben hatten, aber das durfte nicht weiterhin passieren, das durfte nicht meine Nährquelle sein. Von ihm abhängig zu werden war der erste Schritt, ihm zu verfallen. Das musste ich um jeden Preis verhindern.
Victor sah sich kurz um, dann richtete sich sein Blick in die Ferne, als er telepathisch Kontakt zu jemandem aufnahm. Vielleicht seinen Begleitern, die sich langsam außerhalb unser Sichtfeld bewegten. Als er seine Antwort erhalten hatte, griff er meine Hand, zog sich zu sich, sodass ich mich, falls nötig, wieder an ihm abstützen konnte, und fing an zu laufen. Ich fragte nicht, wohin wir gingen, das war vorerst nicht wichtig. Wichtig war, Abstand zwischen uns zu bringen. Ich hatte jahrelang auf der Straße gelebt, hatte tagelang nichts zu Essen bekommen, jetzt würde ich nicht auf eine Gehhilfe angewiesen sein, ich durfte nicht angewöhnen, Schwäche zuzulassen.
Ich löste mich nicht von seiner Hand, denn ich war nicht stolz genug, um jegliche Hilfe abzuwehren, doch ich ging aufrecht, auf meinen eigenen Füßen, lehnte mich nicht an ihn und hielt deutlich Abstand zwischen uns.
Victor Benedict führte mich zu einem Abschnitt, an dem sich ein Fastfood-Label an das andere reihte. Dies war eine von Rahels Freiheitsobessionen gewesen; sie hatte sich brennend für große Konzerne interessiert. Und natürlich war ich die Einzige gewesen, der sie davon berichten konnte.
McDonalds neben Burger King, KFC neben einer Milchbar, ein Café, eine Bäckerei, Subway, ein Laden, der Pizza verkaufte und ein Restaurant namens Nordsee, von dem mir der strenge Geruch von Fisch entgegenschlug.
Victor drückte mich auf einen Stuhl am Fenster an einen Tisch, der unbesetzt war, bevor er sich auf den Absätzen umwandte und zu den Länden maschierte. Am Nachbartisch machten sich zwei junge Männer über ihr Fastfood her. Der eine warf mir einen Blick zu, grinste und biss in seinen fettigen Burger, sodass ihm die Bratsoße über das Kinn lief. Der andere betrachtete seinen Kumpel kopfschüttelnd, verzog angewidert das Gesicht und schenkte mir ein hilflos-entschuldigendes Lächeln. Ich wandte den Kopf ab und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Flughafen vor dem Fenster. Ständig startete ein Flugzeug oder landete, fuhr über die Startbahn ab und über die Landebahn an.
Ein Tablett wurde vor mir auf den Tisch gestellt. Ein Apfel, ein großes Sandwich und einen Teller mit Lachs. Dazu eine Flasche Wasser. Victor setzte sich mir gegenüber hin, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete mich. "Iss."
"Ich habe kein Geld", erwiderte ich, zog das Essen aber dennoch zu mir heran. Der Apfel war gelbrot, das Sandwich mit Salat und Putenbrust und Eiern belegt und der Lachs roch sehr stark nach Fisch. Victor sah mich an, als ob er sich nicht sicher wäre, ob ich scherzte oder es ernst meinte, aber ich erwiderte seinen Blick nicht, sondern schraubte den Deckel von der Wasserflasche und trank.
"Flugtickets gehen, aber Essen nicht?", fragte Victor mit einer Spur Spott in der Stimme, als ich das Sandwich in die Hand nahm. Ich blickte ihn kurz an, bevor ich den Blick wieder abwandte und anfing zu essen. Nanny hatte kein Geld gehabt, dass sie mir vermachen könnte, und selbst wenn, ich wäre nicht daran gekommen. Mein Vater hatte gesagt, wenn ich verheiratet werden wrüde, würde er an meinen Mann das Erbe und meinen Anteil auszahlen, früher käme ich nicht daran. Gina hatte mir nichts vermachen können, sie war noch zu jung, und jemand anderes, von dem ich Geld bekommen könnte, hatte ich nicht.
Ich aß das Essen gemächlich, schlang nicht, kaute ausgiebig, denn dann würde es mich länger bei Kraft halten, doch trotzdem war mein Sandwich innerhalb von nur zwei Minuten aufgegessen. Auf der Straße hatte man meist nicht lange Zeit, ein großes Essen zu veranstalten, man aß schnell und sorgfältig, damit man sofort wieder los konnte.
Der Fisch hatte keine Gräten, was mich an seiner angeblich biologischen Zubereitung stark zweifeln ließ, doch das fiel mir nur nebensächlich auf. Viel mehr bemerkte ich, dass Victor Benedict mich wärhend des Essens genau betrachtete. Das tat er nicht aus Unhöflichkeit oder Ungezogenheit, er versuchte abzuschätzen, wie viel Hunger ich hatte, ob dies für mich normal war oder ob ich leichtere Essen gewohnt war, ob es mir schmeckte und ob ihm so sehr misstraute, dass ich sein Essen nicht annahm.
Die beiden Männer am Nachbartisch beendeten ihr fettiges Essen und standen auf, wobei der eine von seinem Freund weggestoßen wurde, bevor er sich mir noch einmal zu nahe treten konnte. Vielleicht, weil er einfach gut erzogen war. Vielleicht, so hatte Gina mir beschrieben, weil Victor Benedict eine sehr einschüchternde Erscheinung war.
Der Apfel war warm, weich und süß. Nachdem ich meine Mahlzeit beendet hatte, fühlten meine Beine sich wieder stark genug an, um mich zu tragen, die letzte Trägheit verschwand aus meinem Kopf und mein Gehirn fühlte sich wieder fähig an zu denken.
"Du bist unterernährt", bemerkte Victor nach einer Zeit.
Ich betrachtete meine Hände. Schmal, vernarbt, dunkel, mit dünnen Fingern und abgerissenen Fingernägeln. Meine Handgelenke waren schmal, aber bis auf meinen Bauch, den er nicht sehen konnte, ließ nichts wirklich auf Unterernährung tippen. Ich war schlank, vielleicht an manchen Stellen schon dünn, aber nichts in meinem Aussehen oder Verhalten ließ auf Unterernährung schließen.
"Ich kann es spüren", erklärte er, als ich ihn stumm ansah. Ich sendete Informationen? Seit wann tat ich das? Rahel hatte mir bei ihrem Leben geschworen, dass mein Geist viel zu schwach und unerheblich war, als dass er solche Signifikationen senden könnte. War es schon so weit mit Victors Einfluss auf mich? Ja, zusammen sollten wir wesentlich stärker werden, wir ergänzten uns, vollendeten den anderen, doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Entweder, die Kraftzunahme ging viel zu schnell, oder unsere Verbindung war stärker, als ich je geglaubt hatte. Wegen der Schwäche meines Geistes waren Nanny und ich fest davon überzeugt gewesen, dass meine Seelenspiegelverbindung ähnlich schwach war, schnell umzustürzen und keinesfalls zu großen Errungenschaften fähig war, wie man es immer hörte.
Doch dies war Victor Benedict. Ich hätte damit rechnen müssen, dass der es irgendwie trotzdem schaffte, Informationen aus meinem Geist zu fischen. Natürlich konnte ich mich nicht dagegen wehren, denn ich hatte keine nennenswerte Abwehr, und aufgrund unserer Verbindung konnte mir auch die Anpassungsfähigkeit meines Geistes nicht helfen.
"Xavier wird dich gleich durchsehen", beschloss Victor. Als ich nicht reagierte, sondern ihn einfach nur ansah, biss er die Kiefer aufeinander und rang sich dann zu der Frage durch: "Ist das okay?"
Was könnte Xavier Benedict herausfinden, wenn ich ihn an mich heranließ? Konnte er spüren, was ich bei dem Mann durchgemacht hatte? Vielleicht nicht, aber er würde herausfinden, dass ich unter Stress und Druck stand. Das könnte zwar auch auf den ortswechsel zurückzuführen sein, doch er könnte sich auch denken, was mit mir los war. Besser war es, wenn sich jeder Heiler von mir fernhielt.
Ich schüttelte den Kopf.
Victors Augen verengten sich. "Wieso nicht?"
Natürlich gefiel es ihm nicht, dass ich mich nicht durchsehen lassen wollte. Er hatte meine Vergangenheit akzeptiert, aber abgesehen davon, dass er noch lange nicht alles wusste, selbst mit Akzeptanz war es schwierig, einer Mörderin zu trauen. Aber er musste mir trauen. Er musste mich lieben.
"Schlechte Erfahrungen", log ich also. In Wahrheit besaß ich keine Erfahrungen mit Krankenhäusern. Die Verletzungen, die wirklich verarztet werden mussten, hatte ich mir wohl oder übel selbst verbunden. Wenn die Schläge zu hart gewesen waren, der Gürtel mich zu genau getroffen hatte, wenn die Verbrennungen sich ausbreiteten und eiterten, dann hatte ich mich darum gekümmert, dass sie frei von Schmutz blieben - jedenfalls so frei, wie es mir möglich gewesen war -, ich hatte sie mir selbst mit Küchentüchern verbunden und dafür gesorgt, dass die Narben so geringe Ausmaße wie nur irgend möglich annahmen. Narben waren zu auffällig, Narben zu verdecken und in normale Hautschichten zu transformieren verlangte einen besonderen Kraftaufwand, den ich mir nicht leisten konnte.
Victor schien sichtliche Schwierigkeiten damit zu haben, mich nicht einfach zu zwingen, mich von Xavier untersuchen zu lassen. Er machte sich Sorgen um mich - oder versuchte jedenfalls, sich Sorgen zu machen - und ich unterstützte ihn nicht dabei.
"Schlechte Erfahrungen mit einem Heiler oder mit ärztlichen Behandlungen?" Er erwartete, dass meine Erfahrungen sich nur auf wirkliche Ärzte bezogen, auf Krankenhäuser oder anderes, da Xavier Benedicts Behandlung vermutlich deutlich anders ausfallen würde.
"Heiler." Er konnte nicht herausfinden, ob ich schon in Kontakt mit einem Heiler stand, auch wenn dies eine sehr seltene Begabung war. Er konnte nicht wissen, wer in meinem Umfeld damit gesegnet sein konnte. Meine ganze Familie hatte Begabungen, und keiner von ihnen war im Savantnetzwerk bekannt, selbst Special Agent Victor Benedict konnte so etwas nicht herausfinden. Das war zumindest das, was ich mir einredete.
Mein Seelenspiegel wandte kurz den Blick ab, konzentrierte sich auf das Wesentliche. Es würde nicht funktionieren, wenn ich so still war, wenn ich jeglicher Konversation auswich, wenn ich alles dafür tat, ihm nicht näher zu kommen. Damit er sich in mich verliebte, musste er mich kennenlernen. Aber ich wusste nicht, wer ich war. Ich wusste nicht, ob ich mich von Xavier hätte untersuchen lassen, ob ich so sehr auf den körperlichen Abstand achten würde, ob ich das Essen abgelehnt hätte, weil ich es nicht bezahlen konnte, ob ich ihm mehr über meine Vergangenheit erklärt hätte, damit er mich nicht für eine kaltblütige Mörderin hielt. Ob es mir wichtig gewesen wäre, was er von mir hielt. Menschliche Verhaltensmuster beruhten auf Gefühlen, Gefühlen, die bestimmte Impulse auslösten, die zu Verhaltensweisen führten. Aber ich hatte keine Gefühle, mein Verhalten beruhte auf dem Wissen, dass er nichts über mich erfahren durfte, das Rahel in Gefahr brachte, dass ich mich von ihm fernhalten musste, damit ich mich nicht selbst verliebte und dass er mir in die Falle gehen musste.
Aber das waren keine Gefühle, und er musste sich in meine Handlungen verlieben, die auf meine Gefühle zurückzuführen waren, denn nur diese Art von Handlung konnte ich sein. Victor Benedict und Nila waren Seelenspiegel gewesen, aber Nila existierte nicht mehr, und jetzt musste er sich in mich verlieben.
Würde ich vor Panik zusammenbrechen, wenn ich unter Druck geriet? Würde ich besonnen bleiben? Würde ich logisch denken können? Würde ich impulsiv handeln, nach Herz oder nach Kopf? Das alles konnte ich nicht sagen, denn es war meine Aufgabe, so zu handeln, dass Victor nicht mehr als nötig über mich erfuhr.
"Dann untersucht Xav dich als Arzt, ohne Nutzung seiner Gabe. Er studiert Medizin, er braucht seine Begabung nicht, um einen Überblick über deinen Zustand zu bekommen", entschied Victor ruhig. Das war noch in Ordnung. Solange er nicht in die Nähe meines Geistes kam, was nicht geschehen konnte, wenn er seine Gabe nicht einsetzen durfte, würde er lediglich erkennen, dass mein Körper Narben hatte und dass ich vielleicht ein bisschen zu schlank war.
Lake tauchte im Restaurantabschnitt des Flughafens auf, drehte sich suchend um die eigene Achse und eilte dann, sobald sie uns entdeckt hatte, zu unserem Tisch. Ihr Blick glitt geübt über die leeren Teller vor mir, dann rümpte sie die Nase.
"Wir haben das Gepäck. Kommt ihr heute noch oder wollt ihr uns allen einen Gefallen tun und hier bleiben?"



Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now