Kapitel 24)

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Phoenix ließ es sich nicht nehmen, mich zu Victors Apartment zu begleiten. Sie hatte mir sogar angeboten, mir eine Taxifahrt nach Aspen zu bezahlen. Über die Brüder ließ sich sagen was man wollte, doch die Frauen beharrten auf den Zusammenhalt.
Doch ich lehnte ab. Fliehen brachte mir nichts. Ich musste Victor entgegenstehen, denn wenn ich floh, war ich schuldig. Wer unschuldig war, der hatte keinen Grund zu fliehen. Und wenn ich Rahel retten wollte, musste ich unschuldig sein.
Sein Gesicht war verschlossen, als er mir die Tür öffnete. Phoenix drückte sich im Hintergrund herum und wollte mich offenbar nicht alleine lassen, aber dann tauchte Lake hinter Victor auf. Sie hatte die Maske abgenommen und ihr entstelltes Gesicht war todernst.
„Was ist hier los?", fragte Phoenix.
Lake zog mich am Ellenbogen in die Wohnung und ich ließ es geschehen. „Wir sagen nachher Bescheid", versprach sie ohne die gewöhnliche Häme. „Kannst du Crystal bitten, mit Summer in Verbindung zu treten? Wir brauchen sie vielleicht."
Phoenix, von Lakes diplomatischer Ausdrucksweise überrumpelt, nickte nur stumm. Sie hob die Hand zum Abschied und sah mich schuldbewusst an, dann sagte sie mit fester Stimme: „Wir sehen uns auf der Arbeit, Tiger."
Sobald Phoenix gegangen war und Victor die Tür zugemacht hatte, wandten beide sich an mich. Lake hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Augen waren zusammengekniffen.
„Willst du uns irgendetwas sagen?"
Ich starrte sie an. Dachte sie wirklich, ich würde irgendetwas ausplaudern, ohne zu wissen, was genau sie wussten, auf Gefahr hin, dass ich das Falsche verriet, oder war das rein rhetorisch?
Mit festen, wütenden Schritten begann Lake, auf und ab zu tigern. Victor stand da und in seinen grauen Augen war nichts von den positiven Gefühlen zu sehen, die er mir gegenüber gehegt hatte.
„Wir haben dich gesehen", gab sie zu und fuhr sich durch das rotbraune Haar. Durch die Dunkelheit, die in der Wohnung herrschte, weil eine Wolke die Sonne verdeckte, wurden ihre Augen dunkelbraun und sie sah gefährlicher aus, als in Sonnenschein. Ihre Narben traten hervor, ihr hübscher Mund war zusammengepresst und an ihre schlanken Arme wölbten sich Muskeln. Lake sah nie süß aus, aber jetzt hatte sie die Menschlichkeit verloren.
Victor berührte sie an der Schulter. Sie fuhr zu ihm herum und funkelte ihn an, und daraus ging hervor, dass sie so zornig war, weil sie sich Sorgen um Victor machte. Sie hatten irgendetwas über mich herausgefunden, und Lake war aufgebracht, weil ich sein Seelenspiegel war.
„Die Menschen, mit denen du dich heimlich triffst, sind Verbrecher." Victor musterte mich. „Du bist dir dessen bewusst?"
Ich hatte versagt. Erst war Rahels Mann gestorben und jetzt würde sie folgen.
„Ja", antwortete ich. Leugnen brächte nichts. Die Benedicts wussten, dass ich mir sehr wohl bewusst war, mit wem ich da kommunizierte. Nur wussten sie nicht, wieso ich es tat. In ihren Augen stand ich auf der Seite der Organisation. Sie glaubten, ich arbeitete mit ihnen zusammen.
Victor beherrschte sich. Dafür reagierte Lake umso heftiger. Sie grub ihre Nägel in den Arm, um vor Wut nicht aufzuschreien. Sie hinterließ sichelförmige Abdrücke, die zwischen den weißen Narben und rötlichen, frischeren Schnittwunden nicht mehr viel ausmachten.
„Was ist ihr Plan?", drängte Victor. Er trat einen Schritt auf mich zu. Zum ersten Mal wirkte diese Geste bedrohlich. „Was tust du bei uns?"
Lake stand vor der Tür. Ich wusste, Victors Apartment besaß keinen Hinterausgang und wenn ich mich aus dem Fenster stürzte, würde ich sterben. Ich saß in der Falle. Sie könnten jederzeit ihre Familie benachrichtigen. Misty würde mich mit ihrer Wahrheitsgabe nicht finden, doch wenn sie sich alle vereinten, war Rahel so gut wie tot.
„Du sollst sterben."
Lake reagierte schneller, als man bei ihrer Statur erwartet hätte. Sie schnellte vor, presste ihren Unterarm an meine Kehle und mich gegen die Wand. Ich sah das Messer, das sicher in ihrer Hand lag, bereit, mir den Todesstoß zu versetzen, sobald ich nur versuchen sollte, Victor zu verletzen. So weit würde sie für ihn gehen.
„Lake!", zischte er. Sie harrte in der Position aus, nicht bereit, ihn zu riskieren, nur weil ich ihm wichtig sein sollte.
„Und du solltest ihn umbringen?", fragte sie aggressiv. Ihre Augenbrauen waren gehoben, ihre Zähne gebleckt. Sie hatte etwas Animalisches an sich, das ich nur allzu gut kannte. So sahen Menschen aus, die zu viel verloren hatten. So viel, dass sie bereit waren, das Unmögliche möglich zu machen, um nicht noch einen Verlust erleiden zu müssen. Sie beschützte nicht nur Victor, sondern vorrangig auch sich selbst.
„Ich sollte ihn ausliefern." Mit zugedrückter Kehle fiel es mir schwer zu reden, doch ich wehrte mich nicht. Sollte ich auch nur versuchen, Lake von mir wegzudrücken, hatte ich mein Todesurteil geschrieben. Und damit auch Rahels.
„Was war wahr von dem, was du mir erzählt hast?" In seiner Stimme schwang eisige Kälte mit.
Ich könnte meine Gestalt ändern und versuchen, sie somit zu verwirren. Doch Lake davon abzulenken, mich umzubringen, ließ sich vermutlich nicht so leicht bewerkstelligen.
„Warst du wirklich von diesem Mann gefangen?"
„Lass mich los und ich erzähle es euch." Sobald Lake von mir abrückte, fände ich vielleicht einen Ausweg. Die Frau warf Victor einen fragenden Blick zu, aber er schüttelte den Kopf. Ich hatte einen guten Kurs eingenommen, doch er war ein Agent. Zu geübt mit Verbrechern, als dass er auf eine solche Lappalie hereinfallen könnte.
„Du erzählst es uns oder du wirst verhaftet", erklärte Victor. Ob er mich wirklich dorthin schicken würde, war unklar, denn dieser Satz zielte nur auf eines ab; eine Reaktion meinerseits. Ich war im Gefängnis, ich wusste, wie schlimm es war. Ich würde nie wieder zurück wollen.
„Das meiste, was ich dir erzählt habe, ist wahr", keuchte ich. Schwarze Punkte erschienen vor meinen Augen und mich verließ die Kraft. Lake lockerte ihren Griff soweit, dass ich atmen konnte, aber sich noch immer keine Fluchtmöglichkeiten ergaben.„Das meiste?", fragte er scharf nach.
Ich konnte verhaftet werden. Aus dem Gefängnis konnte ich Rahel nicht mehr helfen, und ich wusste, die Organisation bluffte nicht. Sie würden Rahel das Leben nehmen, so wie sie es bei Ben getan hatten. Oder ich sagte die Wahrheit. Vielleicht verblüffte es sie so sehr, vielleicht schockte es sie so sehr, dass ich fliehen konnte. Rahel würde ich auf eine andere Art und Weise retten.
„Ich wurde ein Jahr lang von einem Mann gefangen gehalten und missbraucht", beharrte ich. „Bis ich ihn erstochen habe. Das ist wahr."
Lake ließ von meiner Kehle ab, packte meine Handgelenke und bohrte mir die Spitze ihres Messers direkt zwischen die dritte und vierte Rippe, der Lage des Herz. Sie schob mich in die Küche und drückte mich auf einen Stuhl am Esstisch. Diesmal positionierte Victor sich an der Tür.
„War dieser Mann ein Bekannter deines Vaters?" Er hatte aufmerksam zugehört und es sich gemerkt. Er hatte besser aufgepasst, als es gut war. Wenn er sich nicht daran erinnern könnte, was ich ihm erzählt hatte, wäre es leichter, ihm eine neue Lüge aufzutischen. Doch jetzt musste ich mit der Wahrheit herausrücken.
„Nein." Ich senkte den Kopf, versuchte, Demut und Reue zu heucheln.
Lake schnaubte und gab mir damit zu verstehen, dass ich noch reichlich zu üben hatte.
„Ich will, dass du uns die Geschichte erzählst. Diesmal die wahre", verlangte Victor. „Von dem ersten Bild angefangen, das du gemalt hast."
„Habe ich Anreize, das zu tun?"
Er sah mir fest in die Augen. Grau und Bronze. Lieblos, voll kalten Misstrauens. Er musste nicht sagen, was meine Anreize waren. Dieser Blick genügte.
„Meine Großmutter ist sehr früh gestorben. Sie hat sich immer mehr um meine Schwester und mich gekümmert als unsere Eltern. Mein Vater war nicht zufrieden mit der Tochter, die ich war. Meine Brüder haben mich geliebt, sie wollten mich ändern, sie dachten, es wäre für mich leichter. Rahel haben sie verheiratet und ich bin abgehauen. Nach Jahren auf der Straße bin ich bei einem Mann untergekommen, der mich daraufhin über ein Jahr gefangen hielt und missbrauchte, bis ich ihn ermordete und floh. Ich wurde nach einem Monat vom Militär gefunden und eingesperrt."
Victor sah mich ausdruckslos an, während ich frigid meine Geschichte herunterratterte. Verkürzt, aber wahr. Niemand sonst wusste davon. Nicht ein einziger Mensch auf dieser Welt kannte den Verlauf meines Lebens, außer mir und diesen beiden Benedicts nun, die mich dazu zwangen, ihnen zu beichten.
„Und danach?" Lake klang nicht halb so geschockt, wie es bei normalen Menschen der Fall gewesen wäre. Allerdings war auch ein Großteil der feurigen Wut aus ihrer Stimme verschwunden.
Ich starrte auf meine Finger und versuchte, irgendwo in meinem Inneren Gefühle zu entdecken. Wenn ich ihnen mit Reue vortragen könnte, was danach geschehen war, dann wäre es vielleicht glaubwürdiger. Dann könnte ich sie vielleicht doch noch auf meine Seite ziehen. Aber da war einfach nichts. Und ich konnte das Fehlen meiner Gefühle noch nicht einmal bedauern.
„Sie haben meine Schwester als Geisel genommen. Sie und ihren Mann. Kamen ins Gefängnis und haben mir angeboten, mich rauszuholen, sollte ich für sie arbeiten. Sonst würde Rahel sterben. Ich sollte Mara Andelier zu ihnen bringen, sonst würde Rahel sterben. Als ihr sie weggebracht habt, sind sie auf eure Anwesenheit aufmerksam geworden. Ihr Anführer wollte von mir, dass ich mich als dein Seelenspiegel ausgebe. Ich sollte dich ausliefern. Dann würde Rahel freikommen."
Lake starrte mich einen Moment lang stumm an. „Ausgeben? Das heißt, du bist es nicht? Du bist nicht Vickis Seelenspiegel? Und bitte wer sind sie?"
Ich ballte die Hände zu Fäusten, damit mir die Narbe nicht mehr in die Augen stach. Wenn ich Bohrak nicht umgebracht hätte, wäre Rahel vielleicht nicht in Gefahr. Ihr Mann nicht tot. Wenn ich es erduldet hätte.
„Ich bin sein Seelenspiegel. Nur wissen sie das nicht."
Wäre ich es nicht, hätte ich noch größere Probleme. Momentan bewahrte mich nur diese Tatsache davor, von Lake zwischen in die Mängel genommen zu werden. Allerdings hatte meine Geschichte ihr imponiert. Dass ich meiner Schwester gegenüber loyaler war als gegenüber meinem Seelenspiegel.
„Wer sind sie?", wiederholte Lake ihre Frage, sobald das Interessantere abgehakt war. Sie wechselte einen Blick mit Victor. Auf diese Frage kannte sie die Antwort schon. Trotzdem erklärte ich mich. Die Stunde der Wahrheit. Rahels letzte Chance.
„Die Organisation. Der Mann hat ihnen angehört. Der Mann, den ich umbrachte. Die, mit denen ich mich heute getroffen habe."
Sie hatten erwartet, dass ich mich gegen sie verbündet hatte. Das war wahr. Hatte ich getan. Doch die Gründe dafür verblüfften sie. Zumindest vermutete ich das, denn beide waren Meister der Verhüllung. Allerdings verschwand das Misstrauen nicht aus Lakes Augen.
„Du hast uns bis jetzt noch keinen einzigen Grund geliefert, dir zu glauben. Du hast uns nur angelogen. Wieso sollten wir dir jetzt trauen?"
„Ihr habt mir auch noch nicht besonders viel Wahres erzählt", hielt ich dagegen. Lake verzog den Mund. „Wir haben nicht geplant, dich umzubringen, oder?"
„Lake, es reicht." Selbst sie schien überrascht zu sein, dass er sich einmischte. Sie rebellierte, wollte nicht auf sein Wort hören, doch dann besann sie sich eines Besseren. Er war ihr zu wichtig, als dass sie aus Protest seinen Seelenspiegel vergraueln würde.
Unschlüssig standen die beiden da. Nicht wissend, was sie mit mir anfangen sollten. Ich hatte sie verraten. Ich sann darauf, Victors Leben zu verschenken, um meine Schwester zu retten. Ich wollte einen Menschen gegen einen anderen austauschen.
„Wieso wart ihr dort?"
Hatten sie mir von Anfang an misstraut? Hatten sie geahnt, dass ich ihnen etwas so Weltbewegendes vorenthielt? Victor verließ seine Position an der Tür. Lake schoss einen warnenden Blick auf ihn ab, doch er ignorierte sie. Je länger ich Zeit mit ihnen verbrachte, desto aufdringlicher wurde die enge Beziehung zwischen ihnen. Sie verständigten sich wortlos, vielleicht auch telepathisch, vertrauten einander vollkommen und arbeiteten bemerkenswert gut zusammen.
Er verschwand in dem Zimmer, das ich momentan als Schlafplatz benutzte. Lake blieb nahe bei mir stehen, wedelte mit dem Messer vor meiner Nase herum und machte deutlich, dass ich nicht frei war, nur weil sie nicht mehr darauf aus war, meinem Leben ein ruckartiges Ende zu schenken.
Doch das brauchte sie mir nicht noch zu verdeutlichen. Ich war mir bewusst, in welcher Situation ich mich befand. Ich war mir bewusst, dass Rahel die Klippe hinuntergestürzt war und ich ihren Platz am Rand eingenommen hatte.
Victor kam mit einem Ordner zurück. Er legte die Akte vor mich auf den Tisch und wies mich mit einer unpräzisen Geste an, sie anzusehen. Es war nicht schwer, zu erkennen, was es war. Gleich auf der ersten Seite prangte ein qualitativ schlechtes Bild von dem alten Mann. Sein Name stand daneben, sonst waren keine Daten angegeben. Lorenzo Hall.
Ich blätterte um.
Die nächsten Seiten waren dicht beschrieben. Befunde, Testergebnisse, Nachforschungen. Noch mehrere Mitglieder der Organisation waren bildlich festgehalten. Bohrak Leddison war unter ihnen.
Deshalb waren sie dort gewesen. Die Organisation war Victors Fall, sie hatten erfahren, dass Doug und Sergio sich in den USA befanden und waren hingefahren, um sie abzupassen. Und stattdessen hatten sie mich mit ihnen gesehen.
„Meine Schwester ist alles, was mir noch bleibt." Mein Mund fühlte sich merkwürdig trocken an. Wenigstens war Misty nicht hier. Wenigstens war Karla nicht hier. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, dass ich Lügen erzählte, sobald ich den Mund aufmachte. Niemand konnte mich enttarnen und veröffentlichen, dass ich nichts fühlen konnte.
„Und deshalb würdest du jemanden umbringen?", fragte Lake. Sie stutzte, als sie merkte, was sie von sich gegeben hatte, dann grunzte sie. Aus der Unterhaltung, die Victor und sie im Flugzeug geführt hatten, ging hervor, dass sie Menschen getötet hatte. Um Menschen zu schützen, die sie liebte. Und ihr ging auf, dass ich genau dasselbe tun wollte – nur, dass ich einen Unbeteiligten ermorden würde und niemanden, der wirklich für die Gefahr verantwortlich war, in der meine Schwester derzeitig schwebte.
„Hast du einen anderen Weg?", fragte ich ruhig. Lake wich meinem Blick aus und knirschte mit den Zähnen. „Wir sind keine Verbündeten", knurrte sie. „Du wolltest denjenigen umbringen, den ich auf der Welt am liebsten nerve."
„Lake, du bist kontraproduktiv", verkündete Victor. Die Abscheu war aus seiner Stimme gewichen. „Ich arbeite daran, diese Organisation hinter Gitter zu bringen, Tiger. Und zwar schon sehr lange. Ich möchte, dass du mir alles sagst, was du über sie weißt, und wenn es noch so unwichtig scheint."
Ich hielt seinem Blick nicht stand. „Meine Schwester ist so gut wie tot", deutete ich an.
Lake schnaubte, klang dabei allerdings nicht so verächtlich, wie sie es sich wahrscheinlich wünschte.
„Deiner Schwester kann ich helfen", erklärte Victor. Ich wusste, dass er das nicht nur so sagte. Sollte er die Organisation wirklich hintergehen können, würde er versuchen, meine Schwester zu befreien ihr das Leben zu retten. Doch das hatte bei ihm keine Priorität. Es stand nicht an erster Stelle. Doch das musste es. Es musste ihm eben so zum Herzenswunsch werden wie mir.
„Ich sage dir alles, was ich über sie weiß", erklärte ich mich bereit. „Aber nur dir."
Mochten die beiden denken was sie wollten. Dass ich mich auf ihn fixiert hatte. Dass ich ihm traute. Dass ich ihn als meinen Beschützer sah. Sobald Lake ginge, hätte ich die Möglichkeit, ihn mit Mitteln von mir und Rahel zu überzeugen, die ich eigentlich nicht hatte anwenden wollen. Aber Rahel bedeutete mir alles.
Lake sah Victor warnend an. „Sag mir, dass du da nicht drauf reinfällst. Bitte, Vicki."
Das Bitte ließ ihn kurz zweifeln, doch Victor hatte seine Entscheidung schon gefällt. Als Lake das erkannte, wurde ihr Gesicht noch kälter als zuvor schon. „Na schön", schnaubte sie. „Ich gehe. Aber wenn du hier nicht mehr lebend rauskommst, kriege ich dein Auto. Und das Motorrad."
Er antwortete ihr nicht laut, aber ich vermutete, dass er ihr etwas übermittelte. Lake machte sich Sorgen um ihn. Ernsthaft. Sie sah mich als ernste Bedrohung – und bereute wahrscheinlich inzwischen, Will und Zed abgewiesen zu haben, als diese ihr ihre vorherige Vermutung vermittelt hatten.
Lake stolzierte mit hocherhobenem Kopf aus dem Zimmer. Wenige Sekunden später war zu hören, wie sei die Tür aufriss und hinter sich zuknallte.
Ich näherte mich Victor ohne längeres Warten. Er sah mich nur an, als ich mich wenige Zentimeter vor ihm in die Luft streckte. Mir war klar, dass er ganz genau wusste, was ich hier tat. Es war wohl sehr offensichtlich. Meine einzige Chance bestand darin, dass ich ihn trotz seines gefährlichen Wissens von mir überzeugen konnte. Ich war sein Seelenspiegel. Wenn nicht ich ihn vergessen lassen konnte, dass er mit dem Kopf dachte und nicht mit dem Herzen, wer dann?
Seine Hände umfassten meine Ellenbogen, bevor ich nahe genug an ihn herankommen konnte, und hielten mich auf Abstand. „Erzählen sieht anders aus."
Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Berührung mit Kraft verleihen konnte. Doch ich war so schwach, das praktisch alles mich stärker machen konnte. So auch die Berührung seiner Hände.
Küssen, das Gina immer als unbeschreiblich, frei und wunderschön beschrieben hatte, war für mich noch nie mehr als ein einfaches Aufeinandertreffen zweier Gesichter gewesen. Ich hatte nicht verstanden, was Menschen daran so schön fanden. Nach Bohrak war es für mich ein Trip zurück in die Hölle. Es erinnerte mich daran, es versetzte mich zurück. Marek hatte ich ausgehalten, weil Rahel an dieser verdammten Klippe stand
Ich konnte nicht behaupten, dass es bei Victor ganz anders war. Dass ich meinen Seelenspiegel küsste und es mir plötzlich gefiel. Gefallen daran finden konnte ich nicht. Es war wie immer. Das Aufeinandertreffen zweier Gesichter. Doch die Erinnerungsströme blieben aus. Da tauchte kein Bohrak in meinem Geist auf, ich spürte keine unerträglichen Schmerzen und ich hatte keine panische Angst. Es war einfach ein Kuss, in den ich alles steckte, was ich hatte, denn wenn Rahel starb, hätte ich gar nichts mehr.
Noch während wir uns küssten, wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Woran das zu erkennen war, konnte ich nicht einmal sagen. Es war nicht so, dass er auf einmal anfing, sanfter zu sein, oder dass ich ein warmes Gefühl von seinem Geist empfing oder irgendetwas Derartiges, wie ich es früher in den schlechteren Büchern gelesen hatte. Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass er mich küsste, obwohl ihm bewusst war, dass ich ihn damit nur von mir überzeugen wollte.
Als er einen Schritt zurücktrat, war sein Anzug verrutscht und aus seinem Pferdeschwanz hatten sich ein paar pechschwarze Strähnen gelöst.
Er sah mich stumm an und ich erwiderte seinen Blick, und als ich ein Seil die Schlucht hinabwarf, um meine Schwester wieder heraufzuziehen, hob sich ein seltsamer Druck von meiner Brust und zum ersten Mal seit so vielen Jahren fühlte sich mein Inneres nicht tot an.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now