Kapitel 18)

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Victors Apartment war nicht besonders groß, aber genau das war es, was mir daran gefiel. In beengten Räumen konnte ich besser arbeiten. Gewohnheitssache.

Es gab ein Badezimmer mit einer recht modernen Dusche, ein Schlafzimmer mit einem 1,40er Bett und einem großen Schrank, in dem ordentlich in verschiedenen Abschnitten Kleidung, Bücher und Akten lagerten. Die schmale Küche beinhaltete einen Herd, einen Kühlschrank mitsamt Gefrierfach, einen schmalen Wandschrank mit Geschirr und einen kleinen Tisch, an dem höchstens drei Leute Platz finden könnten. Dazu gab es noch einen Raum, den man kaum Wohnzimmer nennen konnte, es war eher ein Lagerraum, doch er besaß ein ausziehbares Sofa. Zu guter Letzt schmiegte sich an eine Ecke des Apartments noch ein Büroraum, die Längswände mit zwei Regalen vollgestellt, die bis zur Decke reichten, einen Schreibtisch mit Computer und Arbeitsarsenal.

Privatgegenstände gab es kaum. Keine Bilder, keine Fotos, keine Souvenirs oder Schmuckstücke. Eine Kopfwand des Büros war mit einer Pinnwand bedeckt, wie ich sie aus Kriminalromanen kannte, mit Fotos und roten Fäden, die Verbindungen herstellten, Zeitungsausschnitten und Zetteln mit Stichpunkten. Mindestens eine Uhr in jedem Raum, ein hochqualitativer, kleiner Flachbildfernseher im Wohnzimmer und ein paar Notizen, die mit Magneten an den Kühlschrank geheftet worden waren. 

Die Wohnung war ordentlich und sauber, und auch wenn es nur wenig Platz gab, war sie nicht vollgestellt. Die Bücher waren sortiert, die Akten datiert, der Schreibtisch aufgeräumt. Der Boden war mit grauschwarzen Steinfliesen ausgelegt, die Wände in einem eintönigen Weiß, in die Decken waren runde Downlights eingelassen.

Es gab in jedem Raum ein Schiebefenster, aus denen man in jede Richtung einen hervorragenden Ausblick auf die Stadt hatte. Das Apartment war im obersten Stock eines Neubaus, dessen Flure ziemlich edel eingerichtet waren. Es gab einen Lift und zwei Treppen. Lake hatte angemerkt, dass sie mir helfen würde, Victor zu überreden, sich eine vernünftige Wohnung anzuschaffen, falls mir die karge Einrichtung, der mangelnde Platz oder die fehlende Häuslichkeit missfallen sollten, doch so war es nicht. Das hier war eindeutig keine Wohnung zum Leben, dieser Platz war lediglich zum Schlafen gedacht, doch im Gegensatz zu Lake gefiel es mir.

An Victors Motorrad und dem Arbeitswagen, die in der Tiefgarage standen, erkannte ich, dass es ihm keinesfalls an Geld mangelte; er verdiente wohl mehr als gut, doch er legte keinen Wert auf eine schmucke Einrichtung oder ein protziges Anwesen. 

Meine Sachen räumte ich nicht aus der Tasche, es lohnte sich nicht. Victor überließ mir sein Schlafzimmer und übernahm das Schlafsofa, versprach mir aber, dass ich ein eigenes Zimmer kriegen würde. Wie genau er das in dieser Wohnung anstellen wollte, wusste ich nicht, aber es störte mich auch nicht. Solange er in einem anderen Raum schlief, hatte ich kein Problem. Selbst das Sofa war mit Sicherheit um Welten bequemer als die Orte, an denen ich in den letzten Jahren geschlafen hatte.

Seiner ganzen Familie war ich noch nicht begegnet, obgleich wir noch bis in die späte Nacht bei Trace und Diamond geblieben waren. Wir hatten dort gegessen, bevor wir uns verabschieden mussten, weil es zu spät wurde. Sobald Victor das Zimmer verlassen hatte, hatte ich seinen Schrank durchforstet. Schwarze Anzüge, weiße Hemden, nur wenige, schwarze Krawatten, gewöhnliche Straßenkleidung auf der einen Seite. Auf der anderen förderte meine Suche seine Vorliebe für Psychothriller und Krimis zutage. Aus den Klappentexten, den Zeitungs-Rezensionsausschnitten, die abgedruckt worden waren, und den Autoreninformationen entnahm ich, dass der Zusammenhang der Bücher die durchgehende Spannung, die Realitätsnähe, die Details, die intensiven Nachforschungen der Autoren und die Faktenbasis waren. Ich fand keine abstrusen Verschwörungstheorien, keine Fantasy-Romane, keine Science-Fiction-Erzählungen oder Dystopien.
In den Aktenordnern, die hier lagerten und nicht in seinem Büro, waren Fälle, die sein privateres Umfeld betrafen. Irgendwann mitten in der Nacht saß ich auf seinem Bett, von offenen Aktenordnern umgeben, mit einer angeschalteten Nachtlampe und schmerzendem Rücken, weil ich mich schon seit Ewigkeiten über die Papiere beugte, und fand einen Fall, den er vor etwa drei Monaten abgeschlossen hatte. Dieser Fall war auch ausschlaggebend für meine Vermutung, dass diese Fälle sein Privatleben betrafen, oder zumindest damit in Berührung kamen, denn Lake hatte einen engen Bezug dazu.

Jahrelang hatte ich mich durch die verschiedensten Romane gelesen, einige gut, andere weniger, doch nichts übertraf die Fallaufzeichnungen. Denn dies hier war wirklich geschehen.

Wieder einmal war es hilfsreich, dass mein Gehirn praktisch alles, was es sah, abspeicherte, denn die Ordner wieder richtig einzuordnen, nachdem ich sie auseinandergenommen hatte, Verbindungen geknüpft, verglichen und umsortiert hatte, war kein leichtes Stück Arbeit. Allerdings notwendig, denn als Victor am nächsten Morgen in den Raum kam und an den Schrank ging, waren keine Unterschiede zum vorigen Abend zu erkennen.

Der Blick, den er mir zuwarf, ließ jedoch eine leise Ahnung seinerseits vermuten. Doch er sprach mich nicht darauf an. Stattdessen setzte er sich auf das Bett, auf dem ich noch lag, die Blätter in der Hand, auf denen ich die Geschichte bei Misty in London angefangen hatte, einen Kugelschreiber, den ich mir aus seinem Büro mitgenommen hatte, in der anderen.

„Wie geht's dir?", fragte er. Seine Stimme klang rau, wahrscheinlich noch der Morgen. Es war erst halb sieben. 

„Dir?" Das hatte ich aus den Unterhaltungen der anderen gelernt; auf eine Frage nach dem Befinden mit einer Gegenfrage antworten. Früher waren solche Dinge nicht nötig gewesen, denn Gina und Rahel hatten gewusst, dass es mir jeden Tag gleich ging. Ich unterschied nicht zwischen Glückshormonen, die aus irgendeinem Grund freigesetzt wurden, oder einem belastenden Druck auf der Brust. Das waren Hormone, Hormone hatten nichts mit meinem wahren Befinden zu tun und über medizinische Details, die eine lohnenswerte Antwort hervorbringen würden, verfügte ich nicht.

Er antwortete nicht, sondern nahm eines der beschriebenen Blätter auf, die ich beiseite gelegt hatte. Er konnte kein Persisch, soweit ich wusste; er konnte mit dem Geschriebenen nichts anfangen. Das ich zu meiner Malerei auch noch schrieb, hätte ich ihm sowieso nicht lange verheimlichen können.

„Worüber schreibst du?", wollte er wissen und sah mich an. Ich glaubte, in seinen Augen ernsthaftes Interesse zu sehen, aber darauf vertrauen würde ich nicht. 
Ich drehte den Kugelschreiber in meiner Hand und betrachtete den Lichtfleck, der von dem Metall an die Wand geworfen wurde, beim Tanzen. Ich könnte ihn anlügen, doch das brachte nichts. Das Zeichnen und das Schreiben waren die einzigen meiner Aktivitäten, in denen wirklich mein eigener Charakter steckte, denn das tat ich für mich, nicht, um jemanden über mein Wesen zu betrügen. Das, was ich schrieb, ging ihn nichts an, doch dies schrieb das Mädchen, das er lieben sollte.

„Über Tod, meist", antwortete ich wahrheitsgemäß. 
Victor schob sich mit den Händen weiter nach oben im Bett, bis er neben mir an das Kopfende gelehnt saß. Er stellte ein Bein auf, um das Blatt, das er in der Hand hatte, darauf zu legen und fing an, die Zeilen zu studieren.

„Schreibst du aus eigenen Erfahrungen?", hakte er abwesend nach, während er das Papier mit seinen Augen abtastete. 
Darauf gab ich ihm keine Antwort. Angefangen zu schreiben hatte ich, um meine Erinnerungen aus meinem Kopf zu bannen. Die Erfahrungen an jeden Tag, seit ich meine frühste Kindheit hinter mir gelassen hatte, machten mir damals schwer zu schaffen. Es waren nicht nur die einprägsamen, wichtigen Dinge gewesen, die mein Leben noch Jahre später beeinflussten, wie etwa Nannys Tod, es waren Dinge wie Autokennzeichen, die ich gesehen hatte, als ich vier war, die Telefonnummer von Nannys Lieblingsschwester, Gesprächsfetzen, die ich beim Vorbeilaufen aufgeschnappt hatte, unbedeutende Menschen, die ich auf den Straßen gesehen hatte. Dinge, die mir nie etwas bedeutet hatten, die ich aber noch zwanzig Jahre später genauso gut im Kopf hatte wie damals.

Aus diesen Aufzeichnungen war in den Folgejahren ein Schutz vor der Realität geworden, ein Rückzugsort, den ich in der echten Welt nicht besaß. Natürlich hatte ich immer weiter die Alltagseindrücke einfließen lassen, die haften blieben, aber es basierte nicht auf meinem eigenen Leben. Und irgendwann waren der Bleistift und das Papier, oder die Kohle und die Wand, oder Steine und der Boden, alles, was Spuren hinterließ, zu meinem Zeitvertreib geworden, zu meiner Rettung vor dem Irrsinn, der Menschen im Gefängnis befiel.

Victor wies auf ein Wort, das ich aufgezeichnet hatte. „Was ist das?"

Ich warf einen Blick auf die Stelle, auf die er deutete. „War."

Wenn ich ihm zu viele Wörter verriet, würde er anfangen, es zu lernen. Nicht die Sprache zu sprechen, aber es würde nicht lange dauern, bis er die Grundlagen lesen konnte. Er hatte sich das Wort War rausgesucht, denn es tauchte immer wieder auf. Er würde die Schriftzeichen, die häufiger auftauchten, heraussuchen und mich nach ihrer Bedeutung fragen, bis er sie auswendig kannte. Dann musste er nur noch die fehlenden Wörter in irgendeine Suchmaschine eingeben.
Trotzdem gab ich ihm auch weiterhin Auskünfte. Wir lagen zusammen im Bett, ich schrieb, er las und fragte mich ab und zu nach Wörtern. Noch nicht einmal seine Nähe konnte mein Schreiben beeinträchtigen, wie immer entflossen die Wörter meiner Hand wie von selbst. Die Zeit verging, und ich bekam es nur am Rande mit. Irgendwann stand Victor auf und ließ mich sitzen, als ich nicht reagierte. Ich hörte die Wohnungstür auf- und zu gehen und dann, eine viertel Stunde später, abermals. 
Mit zwei Kaffeebechern und zwei Papiertüten mitsamt Füllung kam er zurück ins Zimmer, stellte die Becher auf den Nachtisch und fläzte sich wieder neben mich. Er nahm sein Arbeitspapier wieder auf, fing aber nicht an zu lesen, sondern drückte mir eine Tüte und einen Becher in die Hand. 
Der Milchschaum des Cappuccinos war seltsam kunstvoll, er ergab eine Blüte, das Bildnis selbst braun, der Rest weiß. Der Geruch stieg mir kräftig und frisch in die Nase. Die Tüte, die Victor mir mitgebracht hatte, beinhaltete ein verschlossenes Einmachglas mit Quark und Früchten, die hineingemischt wurden, sowie ein dunkles Brötchen mit Salat, Weichkäse und Ei.

Sein eigenes Essen bestand aus einem schwarzen Filterkaffee, Schwarzbrot mit Putenbrust, Salat und Ei und einer kleinen, durchsichtigen Box, die Obst beinhaltete. 
Konversationen blieben weiterhin überflüssig. Wir vertieften uns abermals in unsere Unterlagen, aßen und tranken und wechselten ab und zu ein paar Worte, wenn ich ihn über Bedeutungen aufklären musste oder er sich nach Hintergrunddetails erkundigte.

Irgendwann war ich mit der Geschichte fertig, nachdem ich über zehn Seiten ausführlich einen Mord beschrieben hatte. Ich las die Geschichten nie wieder, wenn ich sie einmal beendet hatte, das tat ich mir nicht an. Sie waren nicht zu meinem Vergnügen da, und ich hatte kein Gefallen daran, den Tod zu beschrieben, doch die Bilder mussten aus meinem Kopf, die Wörter, die Erinnerungen, und das funktionierte nur, wenn ich sie in Geschichten oder Zeichnungen einband, festhielt, versiegelte.

„Musst du zur Arbeit?", fragte ich und warf einen prüfenden Blick auf die Uhr, die auch in diesem Zimmer an der Wand über der Tür hing. Nicht einmal ein Uhrkasten war da, nur eine flache, graue Metallscheibe mit schwarzen Ziffern und zwei schmalen schwarzen Zeigern, die jede Minute ein Stück vorrückten. Derzeitig zeigte sie 9:26 Uhr an.

„Nicht heute. Erst am Montag wieder." Er legte die Blätter weg und richtete seinen Blick auf mich, aber es schien, als sähe er durch mich hindurch. Ein nachdenklicher Ausdruck lag in seinen Augen, seine Brauen waren zusammengezogen und eine steile Falte zog sich seine Stirn hoch. 
Heute war Donnerstag; er hatte sich die nächsten vier Tage noch freigenommen. Mehr Zeit für mich, ihn kennenzulernen, weniger Zeit, seiner Ex hinterher zu spionieren. Lake würde mich in etwa einer halben Stunde abholen – falls sie nicht wieder bis 10 Uhr schlief – und dann wollten wir Sheena in der Schule abgreifen.

Schließlich fokussierte Victors Blicks sich wieder und er blickte mir in die Augen. „Tasha", fing er langsam an, „wer ist sie?"

Tasha, das Mädchen, mit dem ich in meiner Kurzgeschichte gearbeitet hatte. Tasha, eine Mörderin. Tasha, ein Mädchen, das in einem wohlbehüteten Haus groß geworden war, in einem Industrieland, das alles zu Füßen gelegt bekommen hatte, für das die Morde der letzte Ausweg aus dem eintönigen Leben eines reichen Mädchens waren. Tasha, die sich selbst dafür verachtete, was sie tat, die ein guter Mensch sein wollte, aber keiner, der über Mengen von Geld verfügte, keiner, der sich in den Tiefen seines eigenen Hauses verirrte.

„Ich weiß es nicht", antwortete ich und ließ den Blick über die kahlen Zimmerwände gleiten. „Jemand von der Straße. Jemand aus dem Fernsehen. Jemand aus der Zeitung. Jemand aus dem Gefängnis. Vielleicht auch alle."

Obwohl meine Antwort eher kryptisch war als informativ, schien Victor etwas damit anfangen zu können. Ich wusste nicht, was er fühlte, sein Mienenspiel war genauso karg wie meine Emotionen, doch ich wusste, dass er verstand, worauf ich anspielte. Ich wusste, dass er verstand, dass ich Dinge zu verarbeiten hatte. Und ich wusste, dass er als FBI-Agent verstand, dass es Dinge gab, die eine solche Beschreibung eines Mordes rechtfertigten.

„Wieso hat dir damals niemand geholfen?", fragte Victor. Ich musste nicht nachdenken um dahinter zu kommen, auf welches Damals er sich bezog.

„Sie wussten es nicht." Das war alles, was er wissen musste. Diejenigen, die es interessiert hätte, wussten es nicht. Diejenigen, die es gewusst hatten, interessierte es nicht. So war das in Kabul. In Afghanistan. Früher war es anders gewesen. Aber früher war alles anders gewesen.

„Niemand?"

„Niemand."

Ich beobachtete ihn dabei, wie er reagierte. Er wandte den Blick keinen Moment von meinem Gesicht ab, aber für eine Sekunde blitzte Wut in seinem Blick auf und ich wusste, dass er nicht mich sah. Dann verschwand die Wut, als er sich in Erinnerung rief, dass Wut ihn nicht weiterbringen würde. Wut auf Menschen zu haben, die meiner Vergangenheit angehörten, die sich auf einem anderen Kontinenten befanden, würde zu nichts führen. Wut auf einen Mann zu haben, den ich umgebracht hatte, für das, was er mir antat, erst recht nicht.

„Wie konnten sie es nicht wissen?" Seine Stimme war ruhig, aber seine Augen waren eiskalt. „Wie konnte niemand es bemerken?"

Das war kein Misstrauen. Es war nicht so, dass er mir meine Geschichte nicht glaubte. Das war seine Art, die Wut umzuformen. Er war war wütend auf die Menschen, die mich im Stich gelassen hatten. Liebe war etwas anderes, bis ich Liebe erreicht hatte, musste ich noch einen weiten Weg gehen, doch offenbar eröffneten mir meine Geschichten eine andere Möglichkeit, seine Zuneigung zu erlangen. Er wusste, irgendwann würde er mich lieben, und ich lieferte ihm mit den spärlichen Informationen zu meiner Vergangenheit den Beweis, dass ich es wert war, geliebt zu werden.

„Sie haben es bemerkt", sinnierte ich. „Nur gefunden haben sie mich nie." Ob das wahr war, konnte ich nicht sagen. Ich war abgehauen, aus freien Stücken, und das schon lange vorher. Die Suche nach mir hatten sie nie aufgegeben, doch welche Motivation sie für diese Suche gehabt hatten, war eine andere Sache. Liebe oder andere familiäre Zuneigungen hatten da vermutlich wenig Rolle gespielt.

Es wirkte nicht so, als ob die Auskunft, dass mein soziales Umfeld mein Verschwinden bemerkt hatte, irgendetwas zur Abschwächung seiner Wut beitragen würde. Vielleicht war es auch gut, dass sie es nicht tat. Seine Wut auf meine Feinde würde ich mir zu Nutzen machen können. Wut verleitete zu unüberlegten Handlungen, schwächte das Urteilsvermögen und würde ihn mir gefällig machen. Nicht dieses Ausmaß an Wut, das hier war viel zu wenig, aber es war ein Anfang. Ich musste Anfänge finden. Überall meine Steine setzen. Die Verbindungen zwischen ihnen würde ich mit der Zeit bauen, bis ich über so viel Macht über Victor verfügte, dass ich meine Schwester vor der Organisation retten konnte.

„Dann haben sie nicht gründlich genug gesucht", befand er. „Und die Behörden? Sie müssen doch irgendeinen Anhaltspunkt gehabt haben?"

Welches Ziel verfolgte er? Was genau wollte er hören? Wieso fragte er diese Dinge? Arbeitete Victor Benedict vielleicht genauso sehr daran, mich aufzuklären, mein Wesen zu ergründen, wie ich bei ihm? Er hätte allen Grund dazu; meine Vergangenheit war ein schwarzes Loch für ihn, wenn ich glauben sollte, dass sie wirklich keine genaueren Informationen darüber gesammelt hatten. Im Netzwerk existierte ich nicht. Ich war aus einem Gefängnis in Afghanistan geflohen, zeichnete düstere Bilder, sprach wenig, hatte zu wenig Fleisch auf den Rippen und schrieb Geschichten über Mörder und Mordopfer. 
Mehr über mich herausfinden zu wollen, war ähnlich gut begründet wie meine Absicht, mich in sein Herz zu schleichen. Auch wenn er mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht plante, mich zu verraten, auszuliefern und dem Tod zu überlassen, sobald ich mein Herz an ihn verschenkte – was nicht passieren würde.

„Wurden nicht eingeschaltet. Mein Vater hält nichts von Behörden." Das war einfacher zu erklären als die Tatsache, dass mir ein Haufen waffentragende Männer auf den Hals gehetzt worden waren, weil ich mich jahrelang plündernd durch die Straßen von Kabul gekämpft hatte.

Mein Vater sollte nicht das Ziel seiner Wut sein. Mein Vater hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun. Er und meine Brüder und meine Mutter, das alles wollte ich zurücklassen. Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen und bereute diese Begebenheit nicht; wenn Victor aber wütend auf sie war, dann würde er sich nicht auf Bohrak konzentrieren können, und Bohrak musste das Opfer seiner Wut sein. Bohrak stand in direkter Verbindung mit der Organisation, der ich Victor liefern würde, sobald dieser mich genug liebte, um mein Wohl über seines zu stellen.

Irgendwann in nächster Zeit würde ich eine Nachricht von Sergio und Doug bekommen, wo sie sich aufhielten. Wie viel Zeit ich hatte. Und bis zu dem Zeitpunkt hatte ich hoffentlich meine letzten Anfangspunkte gesammelt und konnte mit dem Aufbau meines Plans anfangen.


Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now