Kapitel 5)

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Der alte Mann, dessen Namen ich nicht erfuhr, war anscheinend das Oberhaupt dieser Organisation, vielleicht aber auch nur der Untergruppe, die hier wohnte, jedenfalls hielt er nicht viel von Warten. Schon am nächsten Morgen wurde mir mein erster Auftrag erteilt, etwas Einfaches. Ich sollte einen Transporter mit mehreren Kanistern von Ölen über die Grenze fahren, die illegal aus der Erde geholt worden waren. In Pakistan, ein paar Duzend Kilometer hinter der Grenze, übernahm ein Außenposten die Lieferung und ich würde zurück fahren. Begleitet wurde ich von zwei schwer bewaffneten Männern, meine Aufgabe bestand lediglich darin, die Grenzbeamten zu überzeugen, uns nach drüben zu lassen, ohne unsere Lizenz für die Öle oder gar Zoll zu verlangen. Diese Aufgabe erschien mir recht einfach, schließlich ging es um Geldbetrug, nicht um das Leben eines Menschen, so etwas konnte ich auf Rahels Schultern ablagern, bis ich einen Weg fand, sie zu befreien.
Glücklicherweise musste ich keinen SUV fahren, das wäre mir dann doch zu viel gewesen, sondern ich bekam einen großen Laster, für den ich selbstverständlich keine Fahrerlaubnis hatte. Ich hatte keinen Führerschein, und für einen Lastwagen erst recht nicht, doch auch das würde ich mithilfe einer einfachen Identitätsfälschung und falschen Ausweises hinbiegen können.
Ausgerüstet wurde ich lediglich mit einem schwarzen Klappmesser, scharf und gefährlich, allerdings nicht zu vergleichen mit den Maschinengewehren meiner Mitfahrer. Ob diese schwere Bewaffnung mir oder anderen Bedrohungen galt, wusste ich nicht, doch die Art und Weise, wie mich Pjedro, der mitfahren würde, anstarrte, ließ mich auf etwas tippen, das weit weniger erwünscht war.
Fahren konnte ich, Gina hatte es erlernt und mir heimlich beigebracht, aber mit dem großen Wagen kam ich nicht recht klar. Erst durch den regen Stadtverkehr zu lenken, dann über schnellbefahrene Landstraßen und schließlich die gewundene, holprige Straße zur Grenze hoch, das alles war kein Spaß, doch ich beschwerte mich nicht. Zu Essen bekam ich nur das, was mir am Morgen mitgegeben worden war, Reste vom gestrigen Abendmahl, wie ich vermutete.
Nebst Pjedro fuhr noch ein anderer Mann mit, der sich auf die Umgebung konzentrierte, ständig nach Patrouillen und Soldaten Ausschau hielt, mich nicht weiter beachtete, aber recht glücklich zu sein schien. Keinesfalls wirkte er so, als ob ihm diese Aufgabe missfiel, obgleich es mir recht erniedrigend erschien, eine Mörderin beim Schmuggeln bewachen zu müssen.
"Hey, fahr langsamer, wir haben kostbare Fracht geladen", fuhr Pjedro mich irgendwann an, als ich den Wagen mittels eines wagemutigen Manövers stark ins Wanken gebracht hatte. Mit dermaßen viel Öl so schlampig zu fahren, war wahrscheinlich keine glänzende Idee, aber ich hatte kein Interesse daran, mit 20 km/h eine Landstraße entlang zu kriechen.
"Ich schätze, du meinst mich?", witzelte der andere Mann. Ja, er hatte gute Laune. Pjedro schenkte ihm nicht einen Blick, sondern fixierte weiter mich, mit drohend zusammengekniffenen Augen und angespannten Armmuskeln, was die Schlange seltsam verzerrte, die auch heute unter seinem T-Shirtärmel hervorlugte.
Gerne würde ich abermals versuchen, ihn zu täuschen, doch schon gestern hatte ich mit Rahels Leben gespielt, heute würde ich nicht weiter pokern. Gleichgültig fuhr ich im selben Tempo weiter, die Hände lässig am Lenker, aber jederzeit bereit, an das Klappmesser zu langen, das an meiner Hüfte befestigt war, um auch Pjedro eine Spitze in den Hals zu rammen. Damit hätte ich allerdings nicht nur mein Leben verpfändet, sondern auch das Rahels und Bens, und deshalb ließ ich es bleiben.
Die Sonne stand hoch am Himmel, neigte sich schon wieder nach Westen, als die Durand-Linie vor uns auftauchte. Flaggen säumten die Endgerade der Strecke, und mitten auf der Straße waren Absperrungen errichtet, die von Soldaten bewacht wurden. Über den Absperrungen war ein blaues Schild, die Kennzeichnung, dass man die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan passierte. Ich reihte unseren Laster in einer Reihe wartender Autos ein, die nach drüben wollten. Es ging nur langsam voran, jedes Auto wurde kontrolliert, doch ich kannte keine Ungeduld mehr. Pjedro beschäftigte sich damit, mich wütend anzustarren und der andere Mann hielt weiter nach Gefahren Ausschau.
Dieser Auftrag sollte meine Treue überprüfen, sollte meine Hingebung und Opferbereitschaft für meine Schwester sichern, doch mir war klar, dass er ernst genommen wurde. Es war nicht schwer, die Grenzwärter davon zu überzeugen, dass ich das vollkommene Recht hatte, meinen Laster und den Inhalt nach Pakistan zu überführen, diese Prüfung war leicht. Als wir dem Grenzübergang jedoch näher kamen, sah ich, wie einer der Soldaten mit einem Mann in schwarzem Anzug diskutierte. Sie stritten nicht, doch das Gespräch schien auch nicht auf freundlicher Ebene abzulaufen. Neben dem Mann im Anzug stand eine Frau mit Kopftuch und etwas Schwarzem im Gesicht, das ich aus der Entfernung nicht identifizieren konnte, und ein weiterer Mann, von dem ich nur sagen konnte, dass er groß und breitschultrig war und schwarze Haare hatte.
Ich warf einen Blick zu Pjedro. Kannte er die Benedicts? Wusste er, um wen es sich handelte? Sie würden mich erkennen, und ich wollte nicht, dass sie mich erkannten, doch vielleicht waren sie meine Möglichkeit, Rahel zu retten. Victor Benedict, der Agent. Er sollte mir doch wohl helfen können, eine Zivilistin zu retten, oder nicht?
Als ich wieder nach vorne sah, wirkte der Soldat nicht gerade glücklich, schien aber nachzugeben. Wieso waren die Benedicts ausgerechnet da, wo ich sein musste? An der Grenze zu Pakistan hatten sie nichts zu suchen, es sei denn, sie wussten bereits, dass ich hier sein würde. Bei den Geschichten über sie hatte ich nie besonders gut aufgepasst, das war Ginas Fachgebiet gewesen, die seit jeher für Uriel geschwärmt hatte, ohne ihn kennenzulernen, sie hätte mir nun alles über sie erzählen können, doch ich war mir nicht sicher, ob es einen Benedict gab, der die Zukunft voraussagen konnte. Allerdings war da etwas gewesen, jemand, der Dinge wiederfand oder so. Derjenige war nach seiner Gabe benannt worden. Trace. Genau, der älteste Bruder. Diese Eselsbrücke hatte Gina mir eingebläut, falls ihr irgendwann einmal die Ehre zuteil werden sollte, einen der Benedicts zu treffen, würde sie es sich nicht von ihrer unwissenden Freundin blamieren lassen, hatte sie behauptet. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass es für sie nun keine Benedicts gab, denn meines Wissens nach waren sie allesamt noch am Leben.
Als nur noch ein paar Autos vor uns passieren mussten, konnte ich die Benedicts endlich genau sehen. Der im Anzug war, wie erwartet, Victor Benedict, die Frau mit der Maske war auch wieder dabei, und sie wirkte alles andere als glücklich. Xavier war nicht mit von der Partie, dafür aber jemand, von dem ich stark annahm, dass es sich um Trace handelte.
Victor Benedict wandte sich von der Frau ab, mit der er gerade einige Worte gewechselt hatte, seine Augen glitten über die Autos, die warteten, und dann, für einen Moment, trafen sich unsere Blicke, ich sah wieder das Grau, das mich seit unserer letzten Begegnung überall hin verfolgte. Er sah mich nur an, ruhig und bestimmt, durch die Scheibe des Autos, ohne sich zu regen. Als hätte er mich erkannt, was nicht sein konnte. Ich trug eine Burka, und Victor war nicht derjenige, der Dinge aufspürte, er konnte nicht wissen, dass ich es war, nur sein Bruder konnte dies.
Trotzdem fühlte ich mich verräterisch nackt, ertappt. Und als er weiter zu mir blickte, sich nicht abwandte wie von den anderen Autos, wurde mir mit eisiger Gewissheit klar, dass er genau wusste, wer ich war, dass er mich erkannte, obwohl das unter der Burka fast unmöglich sein sollte.
Und dann wandte ich den Blick ab und wurde zu dem Mann, den ich spielen sollte. Ich sah, wie Pjedro zusammenzuckte, wie der andere Mann mir einen flüchtigen Blick zuwarf und seine Augen an mir hängen blieben, groß und ungläubig. Doch ich sah die Welt noch immer durch das Netz, das über den Augenschlitz gespannt worden war, ich fühlte noch immer meine langen Haare, die mich am Nacken kratzten und die stickige Hitze unter der Burka, denn ich war noch immer ich selbst, nur konnten die anderen mich nicht mehr so sehen.
Der Mann, der ich sein sollte, war klein und wendig und schlank, schnell nicht stark. Er war reich, ein erfolgreicher Geschäftsmann, der Ölmienen außerhalb von Kabul besaß, sehr angesehen und ein finanzieller Unterstützer des Militärs. Als ich wieder auf die Straße blickte und den Wagen weiter vorrollen ließ, war Victor Benedicts Blick erkaltet, steinhart und forsch. Ein Soldat stellte sich vor meine Tür und ich ließ das Fenster nach unten gleiten.
"Ausweis", verlangte er mit ungewöhnlich sanfter Stimme, so wie ich es nie von ihm erwartet hätte. Ich gab ihm den gefälschten Ausweis und ließ ein Lächeln aufblitzen, ein Lächeln, das er eigentlich nicht sehen sollte, weil mein Gesicht unter schwarzem Stoff verborgen war, doch der Mann nahm es wahr und nickte knapp. Er erkannte mich.
"Was haben sie geladen, Sir?", fragte er, höflich die Regeln befolgend.
"Öl, wie von mir vermutlich nicht anders zu erwarten", antwortete ich charmant. Nur zu gerne würde ich wissen, was von dem, was ich sagte, bei dem Mann ankam, wie verdreht die Sätze auf ihn sein mussten, um den wahren Mann zu verkörpern, doch das war mir nicht vergönnt.
"Es tut mir leid, wir müssen es kontrollieren", sagte der Soldat beschämt. Pjedro kickte mir gegens Bein, aber ich schenkte ihm keine Beachtung. "Natürlich müssen Sie das, Sir. Wie könnte ich es Ihnen verübeln, Sie sind ein guter Soldat, Sie machen nur ihre Arbeit. Es ist nur so, meine Schwester liegt krank Zuhause und ich muss diese Lieferung für sie überbringen, bevor ich zu ihr zurück kann, nur meine Frau kümmert sich gerade um sie."
Der Soldat sah kurz zu seinen Genossen, die sich mit anderen Autos beschäftigen. Die Benedicts standen dicht beisammen, Victor hatte ihre Aufmerksamkeit auf unseren Lastwagen gelenkt, doch Trace schüttelte den Kopf. Die Augen der Frau waren zusammengekniffen, ihre freie Gesichtshälfte war nachdenklich verzogen, als sie mich in Augenschein nahm, doch dann warf sie Victor ein paar Wörter zu, und er hörte ihr zu, lauschte auf sie. Trace nickte ihr bestätigend zu und klopfte seinem Bruder auf die Schulter, der mir noch einen misstrauischen Blick schenkte.
"Es tut mir leid, Sir, ich muss wirklich, es geht ganz schnell", bekräftigte der Soldat, der die erhoffte Hilfe von seinen Kumpanen offenbar nicht erhalten hatte.
Vertrauenserweckend beugte ich mich vor. "Wissen Sie, diese Lieferung erwartet ein Haufen Geld, und ich habe gehört, es mangelt den Grenzwärtern an Komfortabilität. Ich denke, ein Teil dieses Geldes könnte seinen Weg zu helfenden Händen finden, wenn ich meiner Schwester beistehen kann, meinen Sie nicht auch?"
Der Soldat trat zurück und ich sah ein verschlagenes Lächeln, das über seine Züge huschte. Er rief etwas zu denjenigen, die die Absperrung bedienten, und sie glitt hoch, unser Laster wurde durchgewunken. Als ich ihn im Schritttempo an den Benedicts vorbeifuhr, blickte ich Victor Benedict wieder in die stahlgrauen Augen, die mich noch immer ungeniert anstarrten, und tat etwas, von dem ich mir nicht ganz sicher war, ob ich ihm mächtig war. Es brauchte Konzentration, es brauchte Macht, doch diese fand ich auf einmal in mir, mehr, als ich je gefühlt hatte, als sei ich auf eine Goldgrube gestoßen.
Und als kurz ein verwirrter, dann ein zufriedener Ausdruck in seine Augen trat, wusste ich, dass er ganz kurz eine Frau in einer schwarzen Burka am Steuer gesehen hatte, während der Rest der Welt nur einen reichen Mann sehen konnte. Wie er das deuten mochte, lag bei ihm, doch ich hatte meinen Teil getan, jetzt musste ich hoffen, dass er sich etwas zusammenreimte. Er musste herausfinden, wer mich aus dem Gefängnis geholt hatte, er musste herausfinden, wer ich war, wo meine Schwächen liegen konnten. Er musste auf Rahels Verschwinden stoßen, es zurückverfolgen und meine Schwester befreien.
Das mochte viel verlangt sein, und ich erwartete nicht, dass er auch nur die Hälfte davon tun würde, doch ich hatte seine Neugierde geweckt. Victor Benedict würde nach mir suchen, das wusste ich, und irgendwie würde es mir gelingen, Kontakt mit ihm herzustellen. Ich wusste, die Benedicts agierten für den Frieden, und ich war dem eine Bedrohung, eine kleine zwar, aber dennoch eine Bedrohung, doch Rahel, meine süße kleine Schwester, die hatte niemandem etwas getan. Sie würden ihr helfen, denn sie war eine Zivilistin, eine ungewollte Leidtragende.
Das war alles, was ich von ihnen wollte. Nicht, dass sie mir halfen, nicht, dass sie mir meine Taten verziehen, nicht, dass sie mein Leben retteten. Sie sollten bloß meiner Schwester helfen, sollten dafür sorgen, dass ich nach Nanny und Gina nicht auch noch Rahel verlieren sollte.
Ich lenkte den Wagen über die Grenze nach Pakistan, und ich verlor Victor Benedict aus dem Blick, doch seine Augen prägten sich mit jedem Mal mehr ein. Es würde von nun an nicht leichter werden, dem war ich mir bewusst, doch ich hatte jetzt vielleicht Hilfe, und auch wenn Nanny mir gesagt hatte, Hilfe sei gefährlich, ich traute den Benedicts nicht. Nicht eine Sekunde. Ich traute niemandem, nicht einmal Rahel.
Hilfe anzunehmen war schwer okay, der Hilfe zu trauen niemals.
Erst als ich die Grenze viele Kilometer hinter uns gelassen hatte, gestattete ich mir, meine wahre Identität wieder anzunehmen und meinen Beifahrern die Illusion des reichen Mannes zu nehmen, viele Kilometer, während denen die Benedicts hoffentlich an der Befreiung meiner Schwester gearbeitet hatten.

Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu