Kapitel 34)

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Zum Mittagessen wurden Victor und ich in unserer Zelle alleine gelassen. Hall bestätigte, dass ich danach meine Schwester sehen würde, und Victor würde weiterhin Savants treffen, die in Kabul zerstreut lebten. Es waren nicht viele - von den knapp 4,5 Millionen Einwohnern waren etwa 200 Savants oder nur entfernt mit ihnen vertraut. Vermutlich rissen sich die wenigsten von ihnen darum, an einem solchen Ort zu leben.
Victor war schon in der Zelle, als ich eintraf. Er saß stumm auf dem Bett, doch sobald die Tür hinter mir zugezogen wurde, zog er ein Handy aus der Tasche. Er starrte für einige Sekunden auf das Display, bevor er es neben sich auf die Matratze legte, aufstand und auf mich zukam.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn kurz. "Wie bist du an ein Handy gekommen?"
Victor hielt mich fest, studierte mein Gesicht, als ob er es auf Veränderungen testen wollte. "Mein Team hat den Wagen verfolgt und es mir untergeschoben, als wir rausgegangen sind."
"Haben sie Rahel aufgetrieben?", fragte ich. Obwohl Rahel inzwischen auf Platz 3 der wichtigsten Menschen gerückt war, war diese Frage für mich wichtig - zumal ich Victor und mir wusste, dass es uns mehr oder weniger gut ging.
"Sie haben sie beobachtet, aber die Organisation treibt sich ständig in ihrer Nähe herum. Sergio, Doug und Six wechseln sich ab. Sie reden nicht mit ihr, aber sie ist kaum je unbewacht. Wir konnten noch keinen Kontakt aufnehmen, ohne dass sie alarmiert worden wären."
Das Handy auf dem Bett ging an und ich konnte über seine Schulter eine neueingegangene Nachricht sehen. "Mit wem hast du dich getroffen?"
Victor küsste mich sachte auf die Wange. Ich drückte mich näher an seinen Körper.
"Mit einem Mann, der seit seiner Geburt hier lebt. Ich habe ihm erklärt, worum es geht, er hat mir gesagt, er wolle mich nie wiedersehen und dass er sich nicht mit einem solchen Fanatiker abgibt. Ich bin gegangen."
Das Handy leuchtete abermals auf.
"Sie haben's mir abgekauft", erklärte ich knapp.
Victor zog die Augenbrauen hoch und warf einen Blick nach unten. "Das war der Sinn dieses Aufzugs, oder nicht?"
Ich zupfte an meinem T-Shirt herum. Egal, welche Regung es war - solange sie menschlich aussah, würde ich sie mir zu Nutzen machen. Victor fühlte eindeutig etwas für mich, doch auch wenn ich mich mit der Ehrlichkeit angefreundet hatte, würde ich auf alles, was den Vorgang unterstützen könnte, zugreifen.
"Stimmt."
Einen Moment lang starrten wir uns in die Augen. Anders als noch in Denver war die Stille nicht gezwungen. Schließlich ließ er mich los, schnappte sich das Handy vom Bett und schaltete es an. Ich lugte über seine Schulter, als er die Nachrichten aufrief.
Die Nummer war nicht eingespeichert und der Chatverlauf war ordentlich gelöscht, sodass beim Finden des Handys keine Anhaltspunkte zum Besitzer zu finden wären.
Ich warne dich. Wenn du du stirbst, werde ich Mittel und Wege finden, deine Leiche wiederzubeleben, nur um dich nochmal zu töten. Ich mein's ernst.
"Wer ist das?"
"Lake." Er schrieb zurück, dass sie sich darauf konzentrieren sollte, seine Familie davon abzuhalten durchzudrehen.
Ich zögerte für einen Moment. Lake war für ihn wichtig, das wusste ich. Mir war sie egal. Doch wenn sie für ihn wichtig war, würde sie in meiner Zukunft wohl auch eine Rolle spielen.
"Worauf genau basiert eure Beziehung?"
Victor sah mich kurz an. "Warum fragst du das, wenn es dich nicht wirklich interessiert? Ich verstehe, warum du in den USA gefragt hast - du brauchtest die Informationen, um mich zu manipulieren. Welchen Grund hätte es, jetzt noch zu fragen, wenn du mich nicht manipulieren wolltest?"
Ich war versucht, mir auf die Lippen zu beißen, nur um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass ich ein Mensch war. Doch sein Blick verbot es mir. Es wäre zu durchschaubar.
"Ich manipuliere dich nicht mehr", sagte ich gepresst.
Victor legte das Handy abermals weg und drehte sich zu mir um. "Ich habe nicht Mistys Gabe, aber ich bin nicht dumm, Tiger."
Meine Hände ballten sich unruhig zu Fäusten. Victor verzog das Gesicht, doch zum ersten Mal war die Reaktion nicht erzwungen, nicht gespielt. Sie war natürlich.
"Ich entwickle Gefühle." Ich stieß jedes Wort durch die Zähne hervor, meine Finger hatten sich in das Laken gekrallt. Es bereitete mir beinahe körperliche Schmerzen, die Wahrheit zu erzählen. Was ich ihm jetzt erzählte, könnte zu meiner Verletzung führen. Alles in mir wehrte sich dagegen, auch nur ein weiteres Wort zu sagen. "Für dich. Lake ist dir wichtig. Das heißt, Lake wird in meiner Zukunft eine Rolle spielen. Ich muss wissen, welche."
Er sah nicht aus, als ob er mir glauben würde.
Ich widerstand dem Instinkt, ihn zu küssen. "Seit dem Tod meiner besten Freundin habe ich kaum noch etwas gefühlt", fuhr ich fort. "Es wird sich nicht von heute auf morgen ändern. Ich kann nicht aus meiner Haut. Aber du kannst dich darauf verlassen, dass ich nicht versuche, dich zu manipulieren, um dich noch einmal zu hintergehen. Ich arbeite daran."
Sein Handy ging abermals an, doch er achtete nicht darauf. "Wie viel Prozent davon waren wahr?"
"98%."
Er zog die Augenbrauen hoch. "Welcher nicht?"
Meine Fäuste wurden immer fester. Victor nahm meine Hände, löste sie vorsichtig und schlang seine Finger um meine. Er drückte fest genug, um das Zittern zu unterdrücken. "Ich arbeite nicht daran."
"Warum sagst du es dann?"
Er befand sich so nahe, dass ich mich nur ein paar Zentimeter vorbeugen müsste, um ihn zu küssen. Um ihn solange zu küssen, bis er vergaß, was er mich fragen wollte.
"Ich bin davon abhängig, dass es für dich wichtig ist, mich hier herauszuholen." Ich konzentrierte mich darauf, wie sich seine trockenen, kühlen Finger zwischen meinen anfühlten. "Mein Leben hängt davon ab. Ich versuche, nicht alle Mittel zu nutzen, um dich davon zu überzeugen, dass ich für dich Priorität haben muss. Aber nach meinen Erfahrungen werde ich für dich wichtiger, wenn du denkst, ich würde aktiv an mir arbeiten."
Victor küsste meine Handoberflächen. "Du manipulierst mich also, um dein Leben zu sichern?"
Ich fokussierte mich auf seine festen Lippen, die meine Haut streiften, auf seinen kühlen Atem, auf die weiche, durchgelegene Matratze unter uns. Auf alles, bloß nicht auf das, was ich sagte. Es fühlte sich falsch an - mein gesamtes Inneres, mein Menschenverstand, mein Überlebensinstinkt, mein Gehirn, alles lehnte sich dagegen auf, auch nur ein weiteres wahres Wort zu sagen. Selbst wenn ich die Wahrheit sagte, ich konnte der Versuchung kaum widerstehen, Lügen darin einzuweben, um es besser klingen zu lassen. Um es klingen zu lassen, als würde meine einzige Motivation, ihm etwas vorzuspielen, nicht mein eigenes Ego sein.
Aber ein Anfang in die Richtung, dass es wirklich nicht nur mein Ego war, war es, ihm die Wahrheit ungeschönt und faktenbasiert darzulegen.
"Ja."
Victor beugte sich vor, küsste mich auf den Mund. Ich verkrampfte mich, um mich wenigstens für zwei Sekunden davon abzuhalten, zurückzuküssen. Doch mein Instinkt siegte. Ich hatte immer jede Handlung kontrollieren können - alle, bis auf meinen Überlebensinstinkt. So war es auch heute noch, auch wenn das eine meiner Eigenschaften war, an der ich tatsächlich arbeitete. Ich versuchte, meinen Überlebensinstinkt zu unterdrücken, denn Victor war auf längerer Sicht der bessere Schutz.
Ich küsste ihn heftig, kletterte auf seinen Schoß, drückte seinen Oberkörper auf das Bett. Er hielt mich an meinen Schultern zurück, bevor ich weitermachen konnte.
"Manipulation oder Lust?"
"Überlebensinstinkt und Lust", antwortete ich vage. "Und ich arbeite dran."
Seine Hände glitten von meinen Schultern zu meiner Hüfte, er blieb liegen, ließ mich jedoch auf seinem Schoß sitzen.
"Was willst du über Lake wissen?"
Ich legte meine Hände auf seinen Bauch, um sie davon abzuhalten, sich haltlos zu verkrampfen. "Über eure Beziehung."
"Und?" Er wusste, dass das nicht alle swar.
Ich rieb über den Stoff seines Hemdes. Ich hatte zu lange gelogen, als dass ich ohne Probleme mit der Wahrheit ausgehen könnte. "Ob sie für mich gefährlich werden könnte. Ob du mich oder sie beschützen würdest, wenn sie mir gefährlich wird."
Victor griff neben sich und fischte das Handy zu sich. Er drehte es in der Hand um, sodass es zu mir gerichtet war, ohne es überhaupt anzuschalten, und ich nahm es entgegen. Lake hatte wieder geschrieben.
Der Teil deiner Familie, der noch nichts wusste, wird wegen dir versuchen, mich umzubringen. Dafür werde ich dich umbringen. Aber, Pluspunkte: Sie werden sich nach deinem für alle Beteiligten erfreulichem Ableben um Tiger kümmern.
"Lake ist meine beste Freundin."
Ich legte das Handy weg, ohne ihm die Nachricht zu zeigen, und beobachtete seine Reaktion. Er kniff die Augen zusammen, seine Bauchmuskeln zuckten, als würde er sich aufrichten wollen, um das Handy zu holen, doch dann entspannten sie sich wieder.
"Weil du einfach keine anderen guten hast?"
Er brummte. "Weil ich für Lake alles tun würde."
Wir kamen der Sache näher. "Und sie für dich?"
Seine Daumen rieben abwesend über meine Hüftknochen. "Lake hat alles auf eine Karte gesetzt, um mir das Leben zu retten."
Ich regte mich nicht. Er hatte gesagt, er würde alles für Lake tun. Wenn das involvierte, mich zu verraten, auszuliefern oder sonst etwas zu tun, das mein Leben oder meine Gesundheit in Gefahr brachte, würde ich ihn nicht zurück in die USA begleiten. Victor war mir derzeitig wichtiger als mein Leben, doch solange es nicht bedeutete, dass er sterben würde, würde ich mich nicht selbst in Gefahr bringen.
"Lake würde dir niemals etwas antun."
Meine Hände wurden ruhiger. Ich war es nicht mehr, die ihm Rede und Antwort stehen musste, die Situation hatte gewechselt. So gerne ich log, so ungerne wurde ich angelogen. Ich wusste, dass er mir die Wahrheit sagte. Es gab keinen Grund mehr, unruhig zu sein.
"Warum bist du dir da sicher?"
Victors Finger trommelten auf meinem Jeansbund herum. "Weil Lake keinen Menschen wehtut, die mir etwas bedeuten."
Ich legte meine Hände auf seine Finger, hielt ihn davon ab, weiterzutrommeln. Er spannte die Schultern an und wartete ab, wie lange ich es dabei belassen würde. Als ich meine Hände nach etwa zwanzig Sekunden immer noch nicht weggenommen hatte, zog er seine weg, zog mich auf seinem Schoß etwas höher und fing an, auf meinem Rücken, den er jetzt erreichen konnte, zu trommeln.
Ich war mir nicht sicher, ob es ihm überhaupt aktiv auffiel.
"Wenn Lake es aus irgendeinem Grund trotzdem tun würde - sagen wir, sie sähe mich als Gefahr für dich an. Was würdest du tun?"
Victors Trommeln wurde heftiger.
Ich beugte mich zu ihm runter, stützte mich auf den Unterarmen über ihm ab. Meine Haare wurden noch immer von dem buten Tuch oben gehalten. "Ich schätze, ich bin nicht die einzige, die ein Problem mit der Wahrheit hat", wisperte ich an seinen Mund.
Victors Hände verlagerten sich wieder, er griff an meine Hüften, stemmte seine Daumen knapp über den Lymphknoten in meinen Bauch und richtete mich kraftvoll auf. Er drehte den Kopf weg. Nicht, weil er mir nicht in die Augen sehen konnte, sondern weil die Versuchung kleiner wurde, diese Unterhaltung abzubrechen, indem er anfing, mich zu küssen.
"Ich habe kein Problem mit der Wahrheit." Sein Griff war so fest, dass es mir schwer fiel, seinen Worten Glauben zu schenken. Schließlich sah er mich wieder an. "Ich weiß nur nicht, was ich tun würde."
"Und das ist, weil-?", forschte ich nach. "Und, ja, falls du es fragen möchtest, ich frage das nur, weil mein Leben davon abhängen könnte."
"Ich würde Lake davon abhalten, dir irgendetwas zu tun." Seine Stimme war rau. "Und genauso wäre es umgekehrt."
"Wenn du einen von uns wählen könntest - wer wäre es?" Ich fühlte keinen Moment Scham darüber, solche Fragen zu stellen. Ich konnte sehen, wie sehr es ihm missfiel, doch es ging darum, ob ich leben oder sterben würde. Ich konnte bei solchen Themen nicht scherzen.
"Was passiert mit dem anderen?", fragte er skeptisch. Er wurde nicht wütend. Zumindest verstand er, warum ich fragte, dass ich einen ernsthaften Grund hatte und es nicht aus Eifersucht tat.
Ich küsste ihn sanft, langsam. "Du versprichst mir, dass du mich nicht sterben lassen würdest?"
Er zog meinen Kopf zu sich. "Niemals."
Er richtete sich mit mir auf, eine Hand stützte meinen Rücken. Obwohl ich die Augen zuhatte, merkte ich, wie er hinter meinem Rücken nach dem Handy tastete. Ich drehte meinen Kopf weg, lehnte mich nach hinten, von seiner Hand gestützt, und gab es ihm.
Victor schaltete es an, drehte es aber so, dass wir beide sehen konnten, was Lake noch geschrieben hatte.
Gibt es noch Chancen, dass Tiger lesbisch ist?
Er sah mich aus den Augenwinkeln an.
Ich legte den Kopf schräg, was er mit einem verächtlichen Schnauben quittierte. "Würde Lake mich über dich stellen?", fragte ich.
Victor sah für einen Moment so aus, als würde er wirklich überlegen. Tiger steht auf die Menschen, die sie beschützen. Aber die Chancen, dass ich sie dir überlassen würde, sind gleich Null.
Es brauchte nicht lange, bis Lake wieder etwas schrieb. Ich dachte, ich hätte erklärt, dass DU zu dem Zeitpunkt nicht mehr lebst.
"Und für die Frau würdest du alles tun?", krittelte ich.
"Ich bin mir nicht sicher, ob du dabei das Recht hast, mitzureden", erwiderte er belustigt.
Ich rutschte unruhig auf seinem Schoß herum, bis er meine Hüfte packte und es mir mit einem sengenden Blick untersagte. Meine Hand zuckte vor und schlug seine weg.
Victor atmete scharf ein. Er hatte verstanden, dass ich nicht versucht hatte, ihn zu provozieren. Er ließ mich sofort los, und ich rutschte von seinem Schoß runter. Meine Kehle zuckte.
"Woran genau liegt es?", fragte er ausdruckslos.
Ich wartete darauf, dass meine Hand anfing, sich zu verkrampfen, doch die Reaktion blieb aus. Die Wärme, die ich verspürte, während wir uns neckten, war noch nicht verschwunden, doch auch alles andere war plötzlich weg. Selbst der Grund, warum ich so reagiert hatte, war verschwunden.
"Ich weiß nicht", gestand ich ruhig. "Es ist das erste Mal."
Sein Handy leuchtete auf und ich richtete meine Aufmerksamkeit darauf, anstatt auf seinen forschenden Blick.
Meinst du, ich muss Tiger Zeit lassen, bis ich es versuche, um über dich wegzukommen, oder interessiert sie sich nicht für dich?
"Was meinst du?", fragte er.
Ich setzte mich wieder auf seinen Schoß, um ihm zu signalisieren, dass ich den Moment überwunden hatte. "Solange Lake für mich eintreten würde", antwortete ich mit einem Schulterzucken.
Victor sah mich stumm an. Ich fuhr mit dem Zeigefinger an seinem scharfgeschnittenen Kiefer entlang, rieb mit dem Daumen über seine Wangen. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, wenn du hier sterben würdest, kein Interesse daran hätte, nach Amerika zu ziehen. Ich würde wohl mit Rahel nach Europa gehen, wo ich alleine bleiben würde."
Er strich mir über die ausgestreckten Oberarme, über die Schultern. Noch immer schwieg er. Nicht etwa beleidigt, eher lockend, abwartend. Er war nicht so sehr von meiner Liebe abhängig wie ich von seiner, doch auch für ihn war es wichtig, dass ich nicht auf die Idee käme, ihn zu verraten.
"Ich", ich beugte mich vor und küsste ihn, "kann mir nicht vorstellen, dass ich nach deinem Tod noch einmal auf die Idee käme, mich auf jemandem einzulassen."
Tiger sagt, du kriegst sie nicht.
Victors Blick wanderte von meiner enggeschnittenen Hose über mein Shirt zu meinem Mund. "Macht dich das wütend?", fragte er und wies mit dem Kinn auf meine Kleidung.
Ich hatte seine Hand weggeschlagen, nachdem er mich auf meine Rechte ansprach. Ich wusste, dass ich unterschiedliche Signale sendete. Auf der einen Seite war ich es, die ihn immer wieder küsste, die ihn berührte. Auf der anderen Seite wusste er ganz genau von meinen Erfahrungen.
"Macht es dich wütend, dir vorzustellen, dass ich damit die Murphy-Brüder von mir überzeugt habe?", fragte ich zurück.
"Interesse oder Manipulation?"
Ich merkte, dass mein Daumen auf seinen Lippen liegen geblieben war. Ich ließ ihn dort liegen, da es ihm wohl eher aufgefallen wäre, hätte ich ihn schlagartig weggenommen. "Letzteres."
Er sah mich abwartend an, offenbar noch immer auf eine vernünftige Antwort warten.
"Nein." Es war die Wahrheit. Wieder einmal hätte eine Lüge mich vermutlich weitergebracht.
"Willst du, dass es mich wütend macht?", forschte er weiter nach.
Ich konnte nicht einmal den Wunsch verspüren, das Nicht-Lügen zu hassen, geschweigedenn es wirklich zu tun. Die einzige Reaktion, die einem Gefühl nahe kam, war die Tatsache, dass mein Daumen an seiner Lippe entlangfuhr. "Interesse oder Manipulation?", fragte ich zurück.
Victor verengte die Augen. "Beides."
"Es ist mir egal." Keines von beidem barg einen Vorteil für mich.
Lake schrieb zurück und brachte uns beide davon ab, wieder mit dem Lügen anzufangen.
Hat Tiger das in den Worten fomuliert? Oder war das dein besitzergreifender, kontrollversessener Verstand, der es behauptet, um nicht enttäuscht zu werden?
Victor fragte mich diesmal nicht, was er schreiben sollte. Lake, lass es, oder ich lasse Will gegenüber einen Kommentar fallen.
"Ich habe dir eine gute Erklärung geliefert, warum ich lüge. Hast du eine?", fragte ich Victor.
"Ich lüge nicht", behauptete er.
Ich sah ihn mit schmalen Augen an. "Das ist die nächste Lüge."
Victors Hände fuhren über meinen Rücken. Ich sah die Versuchung in seinen Augen, sah, wie er darüber nachdachte, ob ich darauf reinfallen würde, sollte er anfangen, mich zu küssen. "Ich habe keine gute Erklärung. Ist es das, was du hören willst?", fragte er langsam.
Ich küsste langsam über seinen Wangenknochen. "Und mit welchem Recht verlangst du dann von mir, dir die Wahrheit zu sagen?", fragte ich leise in sein Ohr, darauf bedacht, dass er meinen Atem spüren konnte.
Ich spürte, wie sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. Er war an seinem Limit angekommen. Ich spielte seit Wochen mit ihm. Ich wusste nicht, was genau das Limit war, wie es sich ausdrücken würde, wenn ich ihn über die Grenze geschubst hatte, doch er stand so kurz davor.
Das würdest du mir und ihm niemals antun. Er ist dein Lieblingsbruder und ich bin alles, was du hast.
Er sah zwischen mir und seinem Handy hin und her. Ich sah ihn durch schmale Augen an. "Ich habe jedes Recht dafür", knurrte er, reckte den Kopf in die Luft und drückte mir einen unsanften Kuss auf den Mund.
Er langte nach seinem Handy. Sag noch ein Wort darüber, dass du Tiger willst, rühr sie an oder sprich falsch mit ihr, und du wirst sehen, was ich dir alles antun würde.
Die Rasur heute Morgen hatte wohl schnell ausfallen müssen - einige Stellen an seinem Kinn waren rauer als die anderen. "Und dieses Recht besteht worin?", triezte ich weiter.
Victor schloss kurz die Augen. "Tiger, es ist für mich wichtig, dass du mich nicht weiterhin anlügst. Du hättest mein Leben ausgeliefert, wenn Lake und ich es nicht herausgefunden hätten."
"Das ist kein Recht."
"Willst du von mir hören, dass ich dich nicht anlügen sollte?" Er klang nicht wütend. Er war nicht genervt von mir. Nur hatte ich ihn in die Klemme gelockt und er kam nicht mehr heraus. Ich war mir ziemlich sicher, dass ihn noch nie jemand so lange gelockt hatte, ohne dass derjenige selbst Schäden davongetragen hatte.
"Ich will nicht hören, wie du mir sagst, dass du mich nicht anlügen solltest, ich will, dass du aufhörst, es zu tun."
Kannst du es mir aufzählen? Dann kann ich mir Gedanken darüber machen, ob ich es riskiere.
Victor küsste langsam über meinen Hals. Ich ließ es zu. "Ich werde es versuchen", sagte er schließlich, als er an meinem Ohr angekommen war.
Ich schlang meine Arme um seinen Körper. "Mehr habe ich nicht verlangt."
Er hob mich von seinem Schoß, drehte uns um und legte mich auf die Matratze. Er wartete einen Moment, ob ich abwehrend reagierte, doch als ich mein Bein um seine Hüfte schlang und ihn zu mir zog, ließ er sich halb auf mich sinken.
"Lake kann auf sich selbst aufpassen", murmelte er. "Ich würde dich wählen."











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