Kapitel 15)

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Bei Misty Zuhause bekamen Lake und ich zusammen ein Zimmer. Wenigstens wurde es mir erspart, mit Victor Benedict ein Bett zu teilen. Irgendwann würde es soweit kommen, dass ich mir etwas anderes als Ausrede suchen musste. Ich hatte mich unter Zwang dazu durchringen können, Marek zu küssen, doch Victor Benedict musste ich mir vom Leibe halten.
Xavier platzte in den Raum, sobald Lake das Bett am Fenster beschlagnahmt und ihre Sachen unachtsam darauf gepefeffert hatte, mit einem kurzen Anklopfen und ohne Wartezeit auf eine Antwort. Lake grinste ihn höhnisch an, warf sich auf ihr Bett und blieb dort liegen.
"Tiger, Vic sagt, du solltest am Besten untersucht werden?", fragte Xavier vorsichtig und kam zu mir. Ich stand an meinem Bett, unschlüssig, ob ich mich setzen sollte oder stehen bleiben, aber schließlich rang ich mich dazu durch, mich auf der Kante nieder zu lassen.
"Hör mal, ich kann das besser, wenn du mir erlaubst, meine Gabe nutzen", versetzte Xavier. Natürlich versuchte er, mich umzustimmen. Alle hier würden versuchen, das zu tun. Doch sie würden scheitern. Jeder würde scheitern, meine Meinung zu ändern. Ich hatte einen Grund für mein Handeln. Einen guten Grund. Es ging um das Leben meiner Schwester.
"Kannst du es ohne oder nicht?" Trotz meiner schroffen Worte war meine Stimme nicht ungeduldig, nicht abgeneigt. Ich klang absolut ausdruckslos. Das war gut. Ausdruckslosigkeit konnte nichts verraten. Sie war meine Burka, meine Sicherheit vor der Welt.
Xavier runzelte die Stirn, dann nickte er langsam. "Natürlich kann ich es. Ich sagte nur, dass es besser wäre, wenn du es mich auf meine Weise machen ließest. Du hast Schreckliches hinter dir, Tiger, und ich verstehe, dass du mich dir nicht zu nahe kommen lassen willst, aber ich möchte dir helfen, verstehst du? Wir alle möchten dir nur helfen."
Von Lake kam ein Schnauben. "Glaub mir, Xav, wenn du weiter so mit ihr sprichst, als wäre sie ein kleines Kind, das nichts versteht, wird sie gar keine ärztliche Behandlung mehr zulassen."
Er warf ihr einen giftigen Blick zu, aber seine Aufgabe hier war ihm zu wichtig, um auf ihre Sticheleien einzugehen. Er sah mich abwartend an, in der Hoffnung, ich würde meine Meinung ändern, doch ich schüttelte stumm den Kopf. Schon die Untersuchung alleine war mir eigentlich zu viel. Es musste sein, es war für mich überlebenswichtig - für Rahel überlebenswichtig - dass ich fit war, aber sobald jemand von meinen körperlichen Schwächen erfuhr, hatte ich einen Angriffspunkt, und das durfte nicht sein.
"Ich habe hier nicht genügend Mittel, um eine ausführlichere Behandlung auszuführen", kündigte er an. "Eigentlich bräuchte ich Geräte, du musst einer weitreichenderen Untersuchung unterwiesen werden, als es mir hier möglich ist, aber ich werde tun, was ich kann, okay?"
Lake starrte verloren gegen die Wand. Ihre Gedanken waren ganz offensichtlich woanders, wobei sie aber nicht traurig wirkte. Glücklich allerdings auch nicht. Eher nachdenklich, vielleicht ein bisschen melancholisch. Als hätte sie meinen Blick gespürt, verschwand der Ausdruck auch schon wieder von ihrem Gesicht, sie fläzte sich auf ihr Bett und begann zu lesen, während Xavier sich an die Arbeit machte.
Um mir Blutproben abzunehmen, war der Raum nicht stiril genug, erklärte er während seiner Arbeit, obwohl ich dringend auf Krankheiten getestet werden müsste. Ich überließ es ihm, die richtigen Vorgänge zu wählen, denn auch wenn ich mir gerne anmaßte, alles selbst in die Hand zu nehmen, war mein medizinisches Wissen noch stärker begrenzt als mein physikalisches. Aber auch hier lernte ich schnell, durch Beobachtung, ohne Fragen zu stellen, ich hörte ihm zu und merkte mir seine Vorgehensweisen.
Trotz meiner Konzentration auf seine Arbeit entging mir nicht, dass Victor sich irgendwann zu uns gesellte. Stumm stand er in der Tür, lehnte sich an den Rahmen und beobachtete das Treiben hier drin. Lake war auf ihrem Bett eingeschlafen - oder sie tat nur so, denn ab und zu gab sie ein Hüsteln von sich, das klang, als müsse sie ein Lachen unterdrücken.
Schließlich richtete Xavier sich auf. Sein Gesicht war überschattet, er starrte abwechselnd auf die Testergebnisse, die er ohne seine Geräte hatte machen können, und auf mich. Dann seufzte er und rieb sich über die Augen. "Tiger, du musst zum Arzt."
Worte, die ich nicht hatte hören wollen. Natürlich musste ich zum Arzt. Ich hatte jahrelang nicht vernünftig gegessen, hatte auf der Straße gelebt, war misshandelt worden und hatte keinen Zugang zu irgendwelcher medizinischen Versorgung gehabt. Dass ich zum Arzt musste, war klar gewesen. Hingehen würde ich aber nicht.
"Was genau hat sie?", fragte Victor, als ich mich nicht um diese Nachforschungen kümmerte. Xavier fasste sich an die Nasenwurzel, erhob sich aus der Hocke und drehte sich zu seinem Bruder um. "Es ist nichts Eindeutiges, die Vermehrung verschiedener Dinge. Die Unterernährung führt zu einem stark geschwächten Imunsystem, und hier in London oder auch zurück in Denver sind andere Krankheiten im Umlauf als in Afghanistan, Krankheiten, gegen die Tigers Körper keine Resistenz entwickeln konnte. Außerdem können eventuelle Lungen- oder Herzprobleme auftauchen, wegen der Umstände, in der Tiger die letzten Jahre verbracht hat. Und zudem müssen Basisuntersuchungen nachgezogen werden; Impfungen, die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen und gewisse Tests. Das wenigste davon könnte ich durchführen, ohne medizinische Ausrüstung und meine Gabe kann ich gar nichts tun."
Verdächtigerweise stoppte Lakes falsches Hüsteln in exakt diesem Moment. Offenbar waren dies für die Amerikaner beunruhigende Nachrichten. "Ist es dringend?", wollte mein Seelenspiegel von seinem Bruder wissen.
"Es wäre besser, einen Termin in nächster Zeit zu machen. Bis wir zurück in Colorado sind, haben wir sicher noch Zeit, aber ich kann dir nicht mit Sicherheit sagen, dass sie es gut übersteht, wenn ihr nicht in der nächsten Woche einen Arzt aufsucht. Tiger, ich weiß, du willst niemanden an dich ranlassen, aber es kann sein, dass du eine Krankheit hast, die nur durch frühe Diagnose behandelt werden kann."
Wenn ich eine Krankheit hätte, die einer Behandlung bedürftig wäre, wüsste ich das in meinem Alter bereits, aber trotzdem sollte ich auf Xaviers Empfehlung hören. Ärzte in meiner Umgebung waren nicht gut, aber es würde Rahel nicht helfen, wenn ihre Schwester ihr nicht helfen konnte, wiel sie sich Versorgung verweigerte.
"Was wären denn die Risiken, wenn sie nicht hingeht?", fragte Lake plötzlich und gab es damit auf, sich schlafend zu stellen. Xavier schüttelte nur stumm den Kopf. Vielleicht, weil er mich nicht beunruhigen wollte, vielleicht, weil er es nicht sagen konnte. Oder es war die ärztliche Schweigepflicht. Darüber hatte ich etwas in den Unterlagen gelesen, die mir für die Vorbereitung auf die amerikanische Kultur gegeben wurden.
"Wir werden schon übermorgen weiterfliegen; sucht in Denver einfach einen Arzt auf", meinte Xavier. Denver. Das lag an den Ausläufern der Rocky Mountains, jedenfalls hatte ich das aus einem der riesigen Atlanten gelernt, die mir zum Lernen gebracht worden waren. Die bevölkerungsreichste Stadt des Bundesstaates Colorado.
"Wann gibt's was zu Essen?", fragte Lake, als niemand eine neue Konversation begann. Sie drehte sich auf den Rücken, legte ihre Hände auf ihren Bauch und spähte mit nach oben gerollten Augen zu den Brüdern.
"Essen? Höre ich hier was von Essen?" Mistys Kopf erschien im Türrahmen.
Lake grunzte verstimmt. "Solltest du dich als Gastgeberin nicht um unsere Verpflegung kümmern?"
"Solltest du als Gast nicht freundlich sein?", konterte Misty. "Wie dem auch sei, ich habe nichts zu Essen, weil ich, wie dir vielleicht aufgefallen sein dürfte, gerade dabei war, euch abzuholen und deshalb keine Zeit hatte, etwas zu Kochen. Ich schätze, wir müssen uns was bestellen."
"Ist sowieso eine bessere Idee als deinen Fraß zu probieren", murmelte Lake und rollte sich auf die Beine. "Hast'e Prospekte von 'nem Asialaden?"
Misty kämpfte sichtlich damit, einen Kommentar zu unterdrücken, und winkte uns dann mit sich. Lake folgte ihr widerstandslos, von der Aussicht auf Essen angestachelt, und auch bei Xavier machte sich scheinbar Hunger bemerkbar. Wieder blieben Victor und ich alleine zurück. Er setzte sich neben mich auf das Bett, sah mich aber nicht direkt an, sondern betrachtete den Raum. "Du weißt, dass wir dir nichts tun wollen?", fragte er in neutralem Tonfall.
"Ja."
Sein Blick schwirrte in unablässiger Bewegung über die Wand. "Ich verstehe Misstrauen, Tiger. Dass du dich nicht darauf einlassen willst."
Jedenfalls glaubte er, es zu verstehen. Er verstand, dass man Menschen nicht sofort traute. Er verstand, dass ich auch ihm nicht sofort traute, dass ich gerade ihm nicht sofort traute. Denn auch ihn kostete es Überwindung, sich auf das einzulassen, was zwischen uns entstehen sollte. Die Verbindung sollte uns stärken, aber uns beiden war klar, dass sie unsere größte Schwäche sein konnte. Was er nicht verstand war, worum es bei mir wirklich ging.
"Lake traut Will noch immer nicht komplett, obwohl sie sich schon seit drei Monaten kennen."
Drei Monate, und die Frau traute ihrem Seelenspiegel nicht? War das überraschend? Selbst wenn man anderen Menschen nach drei Monaten ein gewisses Vertrauen entgegen brachte, nicht seinem Seelengefährten, nicht demjenigen, der für einen die größte Schwäche darstellte, den größten Angriffspunkt.
"Aber sie ist ehrlich zu ihm."
Jetzt kamen wir der Sache näher. Victor sah mich an. Grau und Bronze. Beides kalt, hart und metallisch. "Du musst mir nicht vertrauen, Tiger, aber wenn du mich anlügst, kann ich dir nicht helfen."
Helfen? Wobei sollte er mir schon helfen? Meine Aufgabe war es, ihn auszuliefern, um meine Schwester und ihren Mann zu retten. Die einzige Hilfe, die er dabei geben könnte, war, sich in mich zu verlieben und keinen Widerstand zu leisten. Das würde er aber nicht tun, ganz gleich, ob ich ihm die Wahrheit sagte oder nicht. Selbst wenn er mich liebte, er würde sich nicht ausliefern lassen, ohne dagegen anzukämpfen. Er durfte also nicht mitbekommen, was ich mit ihm vorhatte, bis es zu spät war. Und dabei würde Ehrlichkeit mir nichts nützen.
"Wieso wolltest du mich aus dem Gefängnis holen?", fragte ich ausdruckslos. Nicht, weil es mich interessierte. Nicht, weil es mich kümmerte. Nicht, weil ich es für wichtig hielt. Aber ich erreichte, was ich hatte erreichen wollen. Seine Augen distanzierten sich ein wenig. "Weil du mein Seelenspiegel ist", entgegnete er karg.
Damit hatte sich diese Unterhaltung für mich erledigt. Er wollte, dass ich ehrlich zu ihm war, doch mich log er offensichtlich an. Ich ging zu dem Schreibtisch, der unter dem zweiten Fenster stand, das nicht von Lakes Bett beschlagnahmt wurde. Auf dem Tisch lagen weiße Blätter auf fein säuberlichen Stapeln, Bleistifte in jeder Härte, eine große Ansammlung von Radiergummis in allen nur erdenklichen Formen und Farben, Buntstifte, Füller, alles, was ein Schüler brauchte. Für mich war das wie ein Paradies. Jahrelang hatte ich mit abgenutzten Bleistiftstummeln auf dünnes, gelbes Recyclingpapier gezeichnet,  hatte mir Kohlenstücke von der Straße aufgelesen und mit ihnen meine Wände bemalt, hatte mit Steinen in Wände eingeritzt. Ja, das hier war wahrlich ein Paradies.
"Vic, wollt ihr auch was zu Essen?", rief Xavier aus einem anderen Teil des Hauses. Victors Blick brannte auf mir, durchdringend und mit einem Anflug von Misstrauen; nicht abwehrend, nicht negativ, es tendierte er zu Neugierde.
Ich hielt seinem Blick nicht stand, sondern nahm einen der Bleistifte in die Hand, inspizierte ihn, bog ihn, prüfte seine Stärke. Das hier würde zu nichts führen. In diese Frau konnte kein Mann sich verlieben. Niemals. Wie könnte er sich in mich verlieben, wenn ich nicht wusste, wer ich war? Mochte er Neugierde? Mochte er Stärke? Mochte er Humor? Das, was er mochte, sollte ich sein, denn so war es vorherbestimmt. Also musste ich herausfinden, was er in einer Frau mochte. Nicht Lake, Lake war seine beste Freundin. Ich brauchte eine Ex, jemand, den er einst geliebt hatte. Ich brauchte ihren Charakter, ich brauchte Informationen, und zu guter Letzt brauchte ich den Grund, weshalb sie sich getrennt hatten.
Wer hatte diese Informationen? Mit ihm würde ich nicht darüber sprechen. Denn wenn er Neugierde nicht mochte, und ich ihm sie somit vermittelte, obwohl es mich nicht interessierte, ich die Informationen lediglich für Rahels Sicherheit brauchte, dann hatte ich verloren. Hatte er seinen Brüdern von ihr erzählt? Seinen Eltern? Einem Kollegen? Freunden?
An seine Brüder kam ich momentan nicht heran. Xavier zu fragen könnte verherrende Folgen haben. Seine Eltern waren nicht hier. Kollegen auch nicht. Aber ich hatte eine Freundin, eine beste Freundin, die mit mir ein Schlafzimmer teilte.
"Hast du Hunger?", fragte Victor schließlich, als es zwischen uns still blieb. Mochte er jemanden, der darauf eine sarkastische Antwort gab? Etwas Schnippisches? Würde ich darauf etwas Sarkastisches sagen? Nein. Ein Nein reichte. Dabei würde ich auch bleiben.
"Nein."
Ich hatte gerade erst gegessen. Das Sandwich lag mir schwer im Magen und den Fisch schmeckte ich noch. Jetzt etwas zu Essen wäre so fatal wie wenn ich den ganzen Tag nichts gegessen hätte. Victor stand auf, warf mir einen fragenden Blick zu, aber als ich den Kopf schüttelte und mich auf dem Schreibtischstuhl niederließ, verließ er den Raum. Besser für mich. Er würde früh genug wiederkommen, und ich musste mit Lake sprechen.
Die Tür ging hinter Victor Benedict zu und ich war alleine. Ich wartete nicht, ob seine Schritte sich entfernten oder ob ich Stimmen hörte, die mir bewiesen, dass niemand hier war und in den Raum platzen konnten. Ich erinnerte mich an fast alle Gesichter, die in meinem Leben an mir vorbeigerauscht waren. Wenn ich mich an jemanden erinnern musste, dann würde ich jedes Detail seines Äußeren wieder vor mir sehen, würde seine Stimme hören und wissen, wie sein Charakter gewesen war.
In manchen Fällen war das eine Gabe. Ohne diese Tatsache könnte ich mich niemals so gut transformieren, ich hätte mir beispielsweise den Physikstoff, den ich für die Nachmache von Tjara Sawbi benötigt hätte, nicht merken können. Doch es war nicht nur eine Gabe. Es war auch ein Fluch. Ich konnte mich jeglichen Schmerzes entsinnen, den ich gespürt hatte, hatte die Gesichter der Menschen, die mich gequält hatten, fest in das Gedächtnis eingebrannt, die Szene, wie Menschen starben, die ich liebte, würden niemals aufhören, sich vor meinen Augen abzuspielen, jede Sekunde, jeden Tag.
Alles, was ich gegen das tun konnte, war, es aufzuzeichnen, es aufzuschreiben. Wenn ich sie auf ein Blatt bannte, egal ob mit Füller oder Bleistift, Kohle oder Kugelschreiber, sah ich noch etwas anderes als die Schmerzen, die ich wegen ihnen gehabt hatte. Ich sah, dass auch sie Menschen waren, und Menschen waren verletzlich. Sie hatten mir Schmerz zugefügt, aber ich konnte das auch bei ihnen.
Wenn ich schrieb, hatte ich ihr Leben in meiner Hand. Ich konnte mit ihnen spielen, konnte genau das mit ihnen tun, was ich wollte. Ich konnte mit jedem das tun, was ich wollte, den ich durch meine eigene Hand erschuf. Es half mir, meine Gedanken zu klären. Es hatte mir geholfen, dem Wahnsinn zu entrinnen, wenn ich monatelang in Häusern eingesperrt worden war, in Gefängnissen, ohne jemanden, mit dem ich sprechen konnte, nur mit mir, meinem Schmerz und dem Verursacher.
Die Wörter flossen ebenso stetig aus meinen Gedanken wie die Bilder. Ich musste nicht nachdenken, um zu erschaffen, was ich brauchte. Das übernahm mein Körper ganz von sich für mich. Meine Hand bewegte sich in einem eigenen Rhythmus, und ich sah dabei zu, wie die zarten Bleistiftstriche das Blatt bedeckten und mit den Zeichen des persischen Alphabetes bedeckten. Es half mir nicht, meine Probleme zu lösen. Es würde mir nicht sagen, wer ich war. Aber es half mir, die Bilder in meinem Kopf zu ordnen, das Wissen zu sortieren, sodass es nicht alles überall herumwirbelte und mir das klare Denken versagte.
"Diese Schrift ist krass", bemerkte eine Frauenstimme hinter mir. Anders als bei den Bildern, die ich früher am Tag gezeichnet hatte, musste ich das hier nicht verdecken. Sie war meiner Sprache nicht fähig, sie konnte sowieso nicht lesen, was dort stand. Ich legte den Bleistift weg, dessen Spitze stumpf geworden war, und drehte den Drehstuhl zu Lake um. Die Tür war hinter ihr geschlossen.
"Wie war Victors Ex?", fragte ich unumwunden. Das würde sie eher dazu bewegen, mir eine ehrliche Antwort zu geben, als wenn ich es mit SmallTalk versuchte. Ich hatte eine gute Intuition, was Menschen anbelangte. Nanny sagte, dass bräuchte ich ebenso wie mein phänomenales Erinnerungsvermögen. Nur bei meinem Seelenspiegel schien diese Intuition zu versagen.
Lakes Maske war nicht mehr da. Ihr Gesicht lag offen da, und sie schämte sich nicht für das, was ich erblickte. Als sie über meine Frage grinsen musste, verzog sich die lange, hässliche Narbe. Der Heilungsprozess hatte schon vor einiger Zeit stattgefunden, die Ränder waren rosa, weiter im Zentrum glänzte die Haut weißlich. Die Ränder waren ausgefranst und ungerelmäßig, und obwohl ich sah, dass die Brandwunde nie Blasen geschlagen hatte, war die Haut rauer als bei anderen Narben.
"Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt", sagte sie und setzte sich auf die Tischplatte. "Du hast Glück, denn ich habe es herausgefunden."
Ich hatte kein Glück. Ich verfügte nur über Menschenkenntniss und hatte mit der Vermutung, dass Lake mir am ehesten Auskunft geben konnte, richtig gelegen. Trotzdem behelligte ich sie nicht.
"Und du hast Glück, dass ich vermute, dass du als sein Seelenspiegel zurecht ein gewisses Interesse an seiner Vergangenheit entwickelst. Sie heißt Donna. Zu heiß für die Welt. Groß, sehr schlank, naturblond, blasse Haut. Allerdings war sie, anders als ihre jüngere Schwester, nur mäßig überheblich. Klar, sie hat sich für was Besseres gehalten, das tun sie alle, aber immerhin hat sie es nicht rausposaunt. Sie war wohl sehr gut in der Schule und hat einen verfrühten Abschluss gemacht. Die Lehrer konnten sie nicht leiden, aber das lag wohl weniger an ihr persönlich als daran, dass sie sämtliche Typen in ihrer Klasse schon alleine durch ihre Anwesenheit vom Arbeiten abgelenkt hat. Kapitänin des Cheerleaderteams." Lake runzelte die Stirn und schien nachzudenken. "Die Beziehung zwischen ihr und Vicki war wohl nicht ganz einfach. Sie hat sein Footballteam mit ihrer Cheearleadermannschaft angefeuert. Sie hatten nicht viel Zeit füreinander, und beide nicht das Bedürfnis, sich viel zu sehen. Meine Quellen haben ausgesagt, dass sie sich nicht wirklich auf die Beziehung einlassen wollten, und wenn sie sich gesehen haben, haben sie häufig gestritten. Darüber konnte ich nicht viel herausfinden, sehr bedauerlich, das dürfte der interessanteste Teil sein. Donna wollte mehr mit ihm machen, aber er wusste, dass das sowieso nicht lange halten wird. Leider ist Zed eine unzuverlässige Auskunft und er hat sie nicht betrogen, er hat Schluss gemacht, bevor es soweit kommen konnte."
Wenigstens waren jetzt die Grundsatzinformationen da. Intelligent. Heiß. Die Beziehung war daran gescheitert, dass Victor auf jemand anderen gewartet hatte - mich. Aber es war noch nicht genug. Ich musste wissen, ob es andere Probleme gab. Und ich musste mehr über Donna selbst erfahren, über ihren Charakter, nicht wie ihre Beziehung aufgebaut war.
"Mehr?", fragte ich knapp.
Lake seufzte. "Zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Donna lebt nicht mehr in Denver, sie ist zum Studieren weggezogen. Ich war eigentlich noch an der Sache dran, aber dann sind wir geflogen, um dich zu holen."
Schweigend sahen wir uns an. Lake kaute sich nachdenklich auf der Lippe herum. Wir beide wussten, sobald wir in Denver waren, hatten wir ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Sie sprang von der Tischplatte und rieb sich die Hände.
"Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dir, Tiger", sagte sie hämisch und ihre Augen funkelten voller Vorfreude.










Reaching Tiger (Die Macht der Seelen-FF)Where stories live. Discover now