134.

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        Harry

Anne meinte, sie sei noch nie am Strand gewesen, also fühlte ich mich verpflichtet, sie an die Küste zu bringen.

Die Fahrt dorthin dauerte eine halbe Stunde, allerdings fühlte es sich an wie wenige Sekunden, in denen ich einfach nur damit beschäftigt war, mich auf die Straße anstatt auf die hübsche Frau zu konzentrieren, dessen Haar durch die offenen Fenster durch die Gegend flog.

Die Sonne hätte nicht heller scheinen können und der Wind nicht erfrischender. Der Tag war perfekt. Genauso wie der ganze Rest.

Ich parkte das Auto, George und Lisbeth sprangen direkt heraus. Wir standen am Rand einer Straße und konnten geradewegs über die Wiese auf den Atlantik blicken. Für mich war diese Aussicht normal, aber ich bemerkte sofort, es war sehr außergewöhnlich für Anne.

Während Lisbeth und George mit Anlauf zum Wasser rannten, hörte ich meine Schwester nießen. Ich ging sicher, dass sie einen Pullover anhatte. Ja, hatte sie.

Ich lief um das Auto herum, zu Anne, die davorstand und zum Meer sah. Sie hatte schon seit Stunden diesen dauerhaft strahlenden Blick in den Augen. Und ich glaubte, er ging auf mich über.

„Was sagst du?", fragte ich sie.

„Ich kann es sogar riechen", antwortete Anne, sie behielt ihre Augen geradeaus. „Alles, was so viel anders in Amerika ist, ich kann es jetzt gerade riechen."

Ich lächelte und deutete ihr, mir zum Strand zu folgen. „Es wird besser, umso näher du am Wasser bist. Kommst du?"

Ich sah, wie sie tief ein und aus atmete. Es war eigentlich nicht nötig, noch zu erwähnen, wie hübsch sie in dem lockeren, hellblauen Sommerkleid meiner Mutter aussah, aber ich tat es trotzdem. Denn es fiel mir jedes Mal, wenn ich sie anschaute, aufs Neue auf. Schließlich folgte sie mir zum Wasser.

George hatte unsere Stranddecke auf dem Sand ausgebreitet und sich daraufgesetzt. Lisbeth machte gerade den ersten Schritt ins Wasser. Sie vergaß immer wieder, wie kalt es eigentlich war, deswegen machte sie sofort einen großen Sprung zurück.

Weil mein kleiner Bruder nicht viel vom Schwimmen hielt, saß er nur, wenn wir hier waren. Es reichte ihm, das Meer zu riechen und den Sand zu spüren. Als ich ihm das Schwimmen beibringen wollte, kurz bevor der Krieg losging, ertrank er beinahe. Ich war nicht aufmerksam genug und er zu mutig. Das lag ihm und auch mir bis heute in den Knochen.

„Anne!", rief Lisbeth nach ihr und winkte heftig. „Du musst unbedingt herkommen, so kalt ist es nicht!"

„Vertrau ihr nicht", sagte George und setzte seinen Sonnenhut auf. „Sie ist langsam gesund, also wird sie wieder zu dem Teufel, der sie eigentlich ist."

Ich setzte mich neben George auf die Decke. „Hör nicht auf ihn, geh zu ihr."

Anne sah von Lisbeth zu mir hinab. „Du wirst hierbleiben?"

„George und ich beobachten die Szenerie von hier hinten", sagte ich. „Du weißt schon, um sicher zu gehen, dass wir einspringen können, sollte euch ein Tier angreifen."

„Vor allem während der Haisession", fügte George hinzu.

Anne wirkte noch einen Augenblick skeptisch, dann jedoch streifte sie sich die Sandalen von den Füßen und legte sie neben die Decke. „Legt euch doch gegenseitig rein, ich werde zu eurer Schwester gehen."

Sie ging, George und ich blickten ihr amüsiert hinterher. Natürlich würde ich gerne Zeit mit ihr alleine verbringen, aber es war gut, dass George und Lisbeth hier waren. Sie mussten jahrelang unter meinen Launen leiden, genauso wie unter Willis und dem Tod ihres Vaters. Ich hätte vieles, wirklich sehr vieles getan, um sie jeden Tag so zufrieden zu sehen wie heute.

My Own LiberatorWhere stories live. Discover now