Kapitel 18

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Ich trat aus dem Schlafzimmer in das Büro des Kaptain, in dem niemand zu sehen war. Auf dem Schreibtisch lagen Papiere wild verstreut und in der Luft lag noch der leichte Hauch von Zigarrenrauch.

Neugierig trat ich näher heran und konnte eine Landkarte entdecken, die über den ganzen Schreibtisch gebreitet war. Jetzt konnte ich endlich mal sehen, wie diese Welt aussah.

Und ehrlich gesagt konnte ich gar nicht glauben, was ich hier sah. Ihre Welt sah genauso aus wie unsere. Ich konnte Amerika, Europa und die anderen Kontinente ausmachen in genau der gleichen Form, wie es sie auch bei uns gab. Ein Kreuz war mitten im Nordatlantik gesetzt. Das musste unser Aufenthaltsort sein. Dann war ich überhaupt nicht so weit von Zuhause entfernt, als ich gedacht hattte. Natürlich trennte mich eine ganze Welt von meiner Familie, aber wenn ich es möglicherweise nach Nordamerika schaffte, konnte ich dort einen Weg nach Hause suchen.

Neue Hoffnung erwachte in mir und ich konnte es gar nicht mehr abwarten, mit dem Kaptain zu reden. Schwungvoll drehte ich mich um und fegte dabei ausversehen einige Papiere zu Boden.

Hastig hob ich sie wieder auf und wollte sie an ihren ursprünglichen Platz bringen, damit niemand merkte, dass ich etwas durcheinander gebracht hatte. Aber dann sah ich, dass es Briefe waren, die ich in der Hand hielt und obwohl alles in mir schrie, ich solle sie wieder zurücklegen, siegte die Neugier. Nur einen einzigen, sagte ich mir.

Liebste Evelyn, stand dort in schwungvoller Schrift. Spätestens hiermit starb der kleine Anteil in mir, der dagegen gewesen war. Ohne mir über mögliche Folgen, die mein Handeln hatte, Gedanken zu machen, las ich weiter.

Es ist eine Ewigkeit her, seit ich dich gesehen habe, deinen wundervollen Duft eingeatmet habe, deinen zarten Körper an mich gezogen habe. Ich vermisse dich mehr als ich es in Worten fassen könnte und zähle die Minuten bis ich dich wieder in den Arm nehmen darf. Mein Hunger nach dir ist unersättlich, mein Durst nach deinen Lippen ist unstillbar. Jeden Tag wächst meine Liebe zu dir und ein Leben ohne dich, ist inzwischen unvorstellbar für mich.

Wenn ich zurückkomme, werde ich dich zur Frau nehmen. Ich werde mich über den Willen deiner Eltern hinwegsetzen. Obwohl ich weiß, dass du etwas Besseres als mich verdient hast, schaffe ich es einfach nicht, mich von dir fernzuhalten. Die kleinen Momente, die wir stahlen, um eine kurze Zeit unserer Leidenschaft freien Lauf zulassen, sind immer viel zu schnell vorbei und ich will und kann mich damit nicht mehr zufriedengeben. Ich möchte mein Leben mit dir verbringen, mit dir gemeinsam alt werden und unsere Kinder und Enkelkinder herumtollen sehen.

Aber ich weiß nicht, ob du dazu bereit bist. Bist du bereit, dein jetziges Leben aufzugeben und dein Leben in meine Hände zu legen? Bist du bereit, dich dem Meer hinzugeben, in dem Wissen, das das dann dein Zuhause ist? Bist du bereit, für immer mit mir zusammen zu sein und mich zu lieben?

Ich erwarte keine Antwort, aber wenn du mich genauso sehr liebst, wie ich dich, dann komme an der Sommersonnenwende in unser kleines Paradies.

In unendlicher Liebe,

Dein Alain

Einige Sekunden war ich wie erstarrt, konnte mich nicht rühren. Zu sehr war ich von diesen Worten berührt. Noch nie habe ich durch Worte eine solch große Liebe gespürt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie sehr Kaptain Moore seine Frau geliebt haben musste. Und noch weniger konnte ich mir den Schmerz, den er durch ihren Tod erlitten hat, erdenken. 

Der Kaptain zeigte hier eine Seite von sich, die er wahrscheinlich nie jemandem anderem als Evelyn gezeigt hat. Und ich konnte nicht anders, als Mitgefühl für ihn zu empfinden. Ihr Tod musste sein Herz gebrochen haben. Jetzt verstand ich, was Luan gemeint hat, als er sagte, dass er schuld wäre, dass sein Vater nicht mehr glücklich war. Natürlich war ich immer noch der Meinung, dass Luan nichts für den Tod seiner Mutter konnte, aber ich konnte ein wenig verstehen, warum der Kaptain keine positiven Gefühle mehr zuließ. Nach Jadens Tod war es sehr schwer für mich gewesen wieder in den Alltag zurückzukehren. Mein Bruder war für mich das Gute in Person. Er machte nicht nur Sozialarbeit, ohne Geld dafür zu verlangen, nein, er spendete sein ganzes Geld Wohlätigkeitsorganisationen. Er übernahm eine Patenschaft für ein kleines Kind in Afrika und als Schülersprecher hatte er immer ein offenes Ohr für jeden, was wahrscheinlich ein Grund war, warum er so beliebt gewesen ist.

Ein lautes Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und erschrocken wirbelte ich herum, den Brief fest an meine Brust gedrückt.

Ein ernst dreinblickender Kaptain stand dort und ich spürte, wie die Wärme in meine Wangen stieg. Ich wurde auf frischer Tat ertappt und das natürlich vom Kaptain höchstpersönlich.

"Ich habe gehört es sein unhöflich, in den Sachen anderer herumzuschnüffeln.", bemerkte der Kaptain kühl und sein Blick heftete sich auf den Brief.

Ich biss mir auf die Unterlippe und lächelte vorsichtig. Als der Kaptain das Lächeln jedoch nicht erwiderte, fiel es wieder in sich zusammen.

"Es tut mir wirklich leid, Kaptain Moore!", beteuerte ich schuldbewusst. "Er ist mir in die Hände gefallen."

"Und da konntest du nicht anders, als ihn zu lesen?", fragte der Kaptain leicht zynisch.

Meine Wangen glühten regelrecht und ich stammelte: "Naja, es ist mehr so gewesen,dass ... öhm, ich weiß, dass kommt jetzt total falsch rüber ... Ich hab Mist gebaut, oder?"

"Ja."

Mehr sagte Kaptain Moore nicht dazu. Sein Blick nagelte meinen regelrecht fest und aus seinen braunen Augen konnte ich einen großen Kummer herauslesen.

Mir war die Stille unangenehm und ich verlagerte das Gewicht von einem auf den anderen Fuß. Konnte ich jetzt gehen? Wenn er mir nichts weiter zu sagen hatte, dann konnte ich mich doch meinem eigentlichen Vorhaben widmen: Luan konfrontieren.

Gerade setzte ich zum Sprechen an, als er schwermütig meinte: "Du erinnerst mich an sie, weißt du." Und in diesem Moment stand nicht der furchteinflößende und starke Kaptain vor mir, sondern ein unendlich unglücklicher Mann vor, der erschöpft davon war, eine Maske zu tragen, die andere daran hinderte, seinen Kummer zu sehen, der ihn mit jeder Faser seiner selbst durchdrang.

"Danke.", war das Beste was mir dazu einfiel. Mitfühlend lächelte ich ihn an und tat dann etwas, was mich selbst wahrscheinlich mehr schockierte als den Kaptain.

Mit zwei Schritten überbrückte ich den Abstand zwischen uns und schlang meine zierlichen Arme um seinen muskulösen Leib. Ich drückte ihn fest an mich und strich mit meinen Händen beruhigend über seinen Rücken.

Nur zögerlich erwiderte er die Umarmung und mit einem tiefen Seufzer, der den Kummer und die Last, die er mit sich seit Jahren herumschleppte, in sich trug, sank er in sich zusammen.

Ich hatte das Gefühl, dass seit ich hier war, nur Umarmungen verteilte. Diesen Piraten ist anscheinend seit langem keine Liebe und Wärme mehr entgegengebracht worden.

Dass ich aber einmal dem Kaptain höchstpersönlich eine geben würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Erst recht nicht damit, dass er diese erwidern würde und sogar seine Maske vor mir, einem gewöhnlichen Mädchen, fallen lassen würde.

Das gab mir das Gefühl, seit langem mal wieder gebraucht zu werden. Und das fühlte sich verdammt schön an.

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Hey,

wieder mal ein Kapitel :). Wie fandet ihr es?

Ich glaube, ihr habt gehofft, dass Ava und Luan sich in diesem Kapitel endlich aussprechen, was ich ehrlich gesagt auch erst vorhatte. Aber naja, Pläne ändern sich :)


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