Kapitel 5

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Ein braunhaariger Junge kam um die Ecke und blickte mich erschrocken an. Meine erhobenen Fäuste mussten auf ihn seltsam und belustigend wirken, da ich relativ klein war. Und dadurch war ich natürlich auch eher weniger angsteinflößend. Meine goldenen, langen Korkenzieherlocken trugen wahrscheinlich auch einen Teil dazu bei, aber mir das im Moment ziemlich egal. Ich wollte eigentlich noch meinen 18. Geburtstag erleben, der in zwei Monaten war und auf den ich mich schon seit Wochen freute. Der Gesichtsausdruck des Jungen wechselte langsam von erschrocken zu alamiert und er öffnete schon seinen Mund zu einem Schrei, als ich ihn hastig hinter die Kästen zog und ihm mit meiner Hand den Mund zuhielt.

"Bitte, nicht schreien. Ich will ehrlich gesagt nicht als Mittagessen für die Haie enden." Flehend sah ich ihn an und er nickte als Antwort, woraufhin ich meine Hand wegzog. Er musterte mich kurz von Kopf bis Fuß und stellte schließlich sachlich fest: "Du bist ein Mädchen."

Darauf zog ich eine Augenbraue hoch und antwortete sarkastisch: "Ach ne, das hätte ich nicht gedacht. Ich meine meine breite Statur, die kurzen Haare und die Bartstoppeln sprechen schon für einen Jungen, findest du nicht?"

Kurz runzelte er verwirrt die Stirn, bis er dann kapierte, dass das Ironie war und seine schmalen Lippen sich zu einem leichten Lächeln verzogen. "Okay, Nicht-Mädchen. Ich bin Elian, der Schiffsjunge und du?"

Sollte ich ihm meinen wahren Namen sagen? Oder überhaupt antworten, schließlich kannte ich ihn überhaupt nicht und normalerweise sagte ich nicht irgendwelchen Piraten meinen Namen. Andererseits bin ich auch noch nie einem echten Piraten begegnet, also musste ich wohl auf Risiko gehen. "Ich bin Ava Ross, das Mädchen."

Darüber musste er kurz lachen, aber das Lachen verschwand genauso schnell, wie es aufgetaucht war. Mit ernstem Gesichtsausdruck schaute er mich an. "Du kannst hier nicht einfach so bleiben. Die anderen werden dich bald entdecken. Dein Versteck ist nämlich nicht gerade gut.", meinte er.

"Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen? Denn ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich hierhergekommen bin.", entgegnete ich missmutig. Er hatte Recht. Irgendwann würde ich entdeckt werden und davor fürchtete ich mich ehrlich gesagt ein wenig... Aber nur ein wenig. Ehrlich! Okay, ich hatte eine Scheißangst. Schließlich waren Piraten nicht gerade für ihre Verhandlungen oder ihre Barmherzigkeit bekannt. Die waren barbarisch, ungebildet, hatten keine Manieren und stanken furchtbar, weil sie auf einem Schiff praktisch lebten. Und denen musste ich mich stellen? Haie, macht euch bereit. Ich komme!

"Kapt'n Moore ist eigentlich 'n ganz netter Kapt'n. Ich glaub', der wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Aber die Geschichte, dass du keine Ahnung hast, wie du hierher gekommen bist, wird der dir nicht glauben.", antwortete Elian mitfühlend.

"Warum glaubst du mir?", fragte ich ihn neugierig.

"Weil ich an Übersinnliches glaube. Halt mich für verrückt, aber ich glaube, es gibt nicht nur Menschen in dieser Welt."

Zögernd biss ich mir auf die Unterlippe, weil ich mich nicht traute, die folgende Frage auszusprechen. Denn dann würde er bestimmt denken, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber ich musste es einfach wissen. Davon hing so vieles ab.

"Welches Jahr haben wir?"

Verblüfft sah er mich an und suchte mit seinen Augen in meinem Gesicht nach einem Anzeichen von Sarkasmus. Aber diese Frage meinte ich zu hundertprozentig ernst. Ich musste einfach sichergehen, dass ich auch wirklich in die Vergangenheit gereist war.

"Wir schreiben das Jahr 2016.", erwiderte Elian vorsichtig. Seine braunen Augen sahen mich verwirrt an und er fragte sich sicherlich, ob ich noch ganz klar im Kopf war.

Diese Antwort schockierte mich und stellte mein Leben gerade zum zweiten Mal auf den Kopf. Das war unmöglich. Das konnte gar nichts sein. Wie war das möglich? Wenn das nicht die Vergangenheit war, was war es dann? Hatte sich gar die Gegenwart verändert? Oder ... ? Mir fiel nichts ein, was das hier erklären könnte. Wie konnte ich auf einem Piratenschiff sein im 21. Jahrhundert?! Da gab es zwar noch Piraten, aber keine, die auf solchen Holzschiffen umherschipperten. Gerade wollte ich mich einfach nur noch zusammenkauern und schlafen. All das hier um mich herum ausblenden und vergessen, dass ich mich irgendwie, ich hatte keine Ahnung wie, in diese dämliche Lage manövriert habe.

Die neue Information veranlasste mich dazu, Elian einmal genau zu mustern. Er war maximal 1,75m und sah nicht älter als 16 aus. Seine braunen Haare waren verstrubbelt und sein gebräuntes Gesicht war mit Sommersprossen übersät. Vom Körperbau war er sehr schmächtig, aber in dem Alter war das bei Jungs, glaubte ich, normal. Seine Kleidung bestand aus einer braunen, knielangen Stoffhose und einem weißen, weiten Hemd. Genau so stellte ich mir eigentlich vom Kleidungsstil Piraten vor. Okay, die Augenklappe fehlte und auch die bedrohliche Ausstrahlung, aber hey, ich wollte mich nicht beschweren.

"Was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen?",fragte ich und wollte wirklich seine eigene Meinung dazu hören. Wieder schaute mich Elian eindringlich an und mir gefiel dieser Blick nicht. In seinem Gehirn schien es zu rattern und in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er eine Entscheidung getroffen hatte.

"Ich bringe dich zum Kapt'n. Er wird dich nicht über die Planke gehen lassen.", beteuerte er, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck wahrnahm. "Er ist ein guter Mann mit einem guten Herz." Gedanklich verprügelte ich ihn gerade. Wie konnte ein Pirat gut sein?! Die raubten, mordeten und nahmen sich, was sie wollten. Darunter verstand ich nicht gerade gut. Andererseits vertraute ich Elian, obwohl ich ihn kaum kannte und er wusste, was er tat. Außerdem blieben mir nicht gerade viele Möglichkeiten offen. Denn entweder ich stellte mich dem Kaptain oder ich sprang ins Wasser, was einem Selbstmord gleichkäme oder ich versuchte mich zu verstecken. Aber wie sollte ich mich hier verstecken? Schließlich musste ich auch mal etwas essen und meinen menschlichen Bedürfnissen nachkommen. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig, als Elian zu glauben, wenn er mir sagte, dass der Kaptain mir nichts tun würde.

Plötzlich hörte ich eine Männerstimme rufen: "Elian, was machst du so lange? Wir brauchen das Seil! Hopp, beeil dich oder hat sich dahinten etwa ein Mädchen versteckt?"

Lachen ertönte und jetzt traute ich mich erst recht nicht aus meinem Versteck. Wenn der Mann doch nur wusste, wie wahr seine Aussage war... Aber ich konnte mich jetzt auch nicht davor drücken. Jetzt hieß es, Zähne zusammenbeißen, Kopf hoch und möglichst selbstbewusst auftreten.

Ich schluckte schwer und trat gemeinsam mit Elian hinter den Kisten hervor. Auf dem Deck tummelten sich ziemlich viele Männer, die ähnliche Klamotten wie Elian trugen. Noch hatten sie uns nicht bemerkt und verrichteten ihre Arbeit. Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in mir auf, dass ich es unbemerkt bis zur Kajüte schaffen konnte. Dieser wurde aber sogleich zerstört, als einer der Piraten sein Kopf uns zuwandte mit einem lockeren Lächeln auf den Lippen, das sich aber schnell verabschiedete und einem verblüfften Gesichtsausdruck wich.

"Na, haben wir etwa einen Geist auf dem Schiff?, der Pirat grinste breit und musterte mich einmal von oben bis unten. Das war mir extrem unangenem und wurde auch nicht dadurch verbessert, dass die anderen Piraten mich jetzt auch bemerkten und genauso anstarrten.

"Komm, gehen wir.", flüsterte ich Elian zu und zupfte dabei an seinem Ärmel. Er nickte nur und führte mich durch die Piraten auf die Kajütentür zu. Auf dem Weg dorthin wurde ich weiter angegafft wie eine Attraktion, bis es mir zuviel wurde, ich stehen blieb und einmal laut brüllte: "Habt ihr nichts Besseres zu tun, als ein Mädchen, das erschöpft, verwirrt und nicht gerade in der besten Laune ist, anzuglotzen, als hättet ihr noch nie in eurem Leben eine weibliche Person gesehen? Denn ich ich bin mir ziemlich sicher, nein, ich weiß, dass ich nicht das erste Mädchen bin, das euch unter die Augen getreten ist! Also macht einfach mit eurer Arbeit weiter und lasst mich verdammt  noch mal in Ruhe!"

Danach war es ruhig und die Männer wandten teils erbost, teils bewundernd ihren Blick ab und fuhren fort das zu tun, was sie gerade gemacht hatten. Doch mein Gebrüll hatte wohl auch der Kapitän gehört, denn die Kajütetür wurde mit voller Wucht aufgeschmissen und ein Mann Ende vierzig trat wütend heraus. Ups.

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