Kapitel 102

4.7K 298 81
                                    

Ununterbrochen starrten Harry und ich uns schief dreinblickend an, keiner von uns gab einen Mucks von sich, nur das Ticken der Wanduhr war im düsteren Wohnzimmer zu vernehmen. Weiterhin irritiert runzelte ich die Stirn und trat über die Schwelle, gefolgt von Harry, der sich mechanisch vom Sessel erhob, imaginäre Krümel von der Jeans strich und auf mich zukam. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf dezent schief und fragte mit unklarer, rauer Stimme - als käme ich aus einem Heulkonzert: "Wieso bist du-?"

"Hast du ernsthaft erwartet, dass ich dich dermaßen verletzt und niedergeschmettert zurücklasse?", fragte Harry etwas beleidigt, zwang sich jedoch ein süßes Grinsen auf. Komischerweise überkam mir eine Woge von Scham und ich blickte peinlich berührt zu Boden, daraufhin fügte Harry hinzu: "Nachts ist Camberwell echt schön, wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?"

Überrumpelt schnellte ich den Kopf hoch und nickte steif, als könnte Harry meine Gedanken lesen oder wir waren uns einfach zu ähnlich. Während ich mein Vorhaben wieder aufnahm, schlüpfte auch Harry in seine recht eigenartigen Schuhe und in den Mantel, ließ mich voraus aus dem Haus gehen. Die kühle Nachtluft empfang mich herzlich wie eine kuschelige Wolldecke und ich inhalierte diese sehnsüchtig, meine verkrampften Muskeln lockerten sich langsam. Hinter mir hörte ich Harry die Haustür abschließen und auf mich zu schreiten, bis er beruhigend eine Hand auf meinen Rücken platzierte und somit die Führung übernahm. Glücklicherweise lag der Park, der offenbar Harrys Ziel war, nahezu vor meiner Haustür und tatsächlich - je mehr wir in den Park spazierten, desto ruhiger und entzückender wirkte dieser Ort. Die Bäumen raschelten leise im Wind und in der Ferne hörte man eine Eule rufen und mit den Flügeln schlagen, beschützend legte Harry einen Arm um mich.

Automatisch kuschelte ich mich in ihn hinein und genoss diese wohltuende Ruhe nach diesen Desasters des gestrigen Abends - wenn ich mich nicht täuschte, war es nach zwei am Morgen gewesen, als ich das letzte Mal auf die Uhr schaut habe. Unfassbar, dermaßen lang hatte sich diese Streitigkeit gezogen, bis in den nächsten Morgen? Betrübt stieß ich ein Seufzen aus und aus den Augenwinkeln erhaschte ich Harrys durchdringenden Blick, unsere Schritte passten sich einander an und führten uns in Richtung Parkmitte, fort vom Steinwege.

Stille herrschte zwischen uns, bis Harry andeutete, uns mitten auf den Rasen zu setzten und achtlos befolgte ich dies unmittelbar. Als auch er sich neben mich hinpflanzte, brach endlich die langsam unerträglich werdende Stille bei Harrys sanften Worten: "Du weißt, Honey, nun ist der Zeitpunkt gekommen, mir dein Herz auszuschütten."

Natürlich bemühte Harry sich, nicht feinfühliger als aufmunternd lustig zu sein, dies war halt mein großer Bruder. Ich unterdrückte ein heimliches Schmunzeln und entgegnete auf seine Worte mit einem schwachen Kopfschütteln, alles wieder hervorzuholen würde die ruhige Stimme in dem Moment verderben. Überraschenderweise verstand Harry dies ohne weiter nachzuhaken, winkelte ein Bein an und starrte verträumt über den Park, ich tat es ihm gleich.

Nach nur wenigen Augenblicken des Schweigens, fing Harry auf einmal an, eine Melodie zu summen und rhythmisch mit dem Kopf zu wippen. Verwirrt beobachtete ich ihn, seine langegewordenen Haare sahen recht gewöhnungsbedürftig aus, aber zugegeben - ihm standen diese - und sein Gesicht schien markanter und dünnen geworden zu sein. Plötzlich sang Harry aus ganzer Lunge heraus: "We are the kings and the queens of the new broken scene."

Flüchtig schenkte er mir ein breites, junges Grinsen und während ich ihn anstarrte, als wäre er völlig durchgeknallt, fuhr er mit seinem Gesang fort: "Yeah, we're alright though."

Leise in mich hineinlachend, lehnte ich den Kopf an Harrys Schulter und genoss die vertraute Nähe meines Beschützers, wohl der einzige Mensch, der noch bei mir stand und auch in der Lage war, aus der Schlucht zu ziehen und vielleicht aufzubauen. Dankbar blickte ich zu Harry hinab, der weiterhin diese Melodie summte und such offenbar ein kleines Lächeln verkniff.

c'mon c'mon » l.t. ✓Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang