Prolog [überarbeitet]

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Wie beschreibt man am Besten diese erdrückende Sehnsucht nach einem bestimmten Menschen? Nach einem Menschen, der allein durch seine Präsenz dein Leben verschönert, ins Gleichgewicht bringt und dirzugleich den Boden unter den Füßen wegreißen kann, wenn er dich widerwillig verlassen muss? Was ist, wenn dieser bestimme Menschausgerechnet dein eigener Zwillingsbruder ist, der von Geburt an ununterbrochen an deiner Seite stand, dich beschützt, aufgeheitert, mit Liebe nahezu erdrückt, mit dir Tränen vergossen und nie einen Streit mit einem angefangen hat? Wie soll ich mein Leben normal weiterführen, wenn ich bei jedem Blick in den Spiegel an meinen großen Bruder Harry erinnert werde? Jadegrüne Augen, tiefliegende Grübchen, zart rosige Lippen, markantes Gesicht, leicht wellige Haare... Lediglich die Haarfarben unterscheiden uns: Die blonde Helen und der braunhaarige Harry- Tag und Nacht, Yin und Yang.

Seit mein geliebter Bruder als Teilnehmer einer Gesangsshow mit fünf weiteren jungen Männern zur Boygroup One Direction vereint wurde, die jedoch nicht als Siegergruppe die Show verließ, sondern die Jungen als Weltstars durchstarteten ließ, erblicke ich meinen eigenen Zwillingsbruder persönlich kaum noch. Aufgrund der unheimlich rasant gestiegenen Berühmtheit von One Direction können Harry und seine Bandkollegen keinen einzigen Schritt in die Öffentlichkeit mehr wagen, ohne von hysterisch kreischenden Fans, die in allen Ecken lauern, begrüßt zu werden. Dementsprechend muss die Band ihr persönliches Leben außerhalb der Musikbranche strengstens geheimhalten oder im besten Fall komplett heraushalten - normale Alltagsbeschäftigungen, damalige Hobbys, Ängste, Familien, Freunde, Beziehungen... Aber zu welchem Preis?

Nun ist es ein ganzes Jahr vergangen, seitdem One Directions überraschender Erfolg ihnen mehrere Millionen Fans, ein rekordverdächtiges Album und eine ausverkaufte Stadien-Tournee beschert hat. Seitdem meldet sich Harry nur selten bei Mum, unserer großen Schwester Gemma und mir. Kein Anruf, keine Nachricht. Oft erhalten wir die einzigen Lebenszeichnen von Harry durch Fernsehauftritte, Boulevardmagazine, Gerüchteküchen im Internet und ähnliches. Wenn wir ihn dann endlich erreichen, höre ich die Anspannung in seiner Stimme, erblicke die Müdigkeit in seinen Augen und den Stress an seiner fast mageren Erscheinung.

Harry leidet. Zwar lebt er den Traum eines jeden leidenschaftlichen Sängers, doch zugleich ist die Familie die wichtigste Stütze in seinem Leben, in seinem normalen, wahren Leben.

Harry vermisst mich. Zu damaligen, psychisch oft schweren Zeiten, war ich seine einzige Bezugsperson, seine Schulter zum Anlehnen und Ausweinen, sein Kuscheltier zum Kuscheln. Eben weil unsere Geschwisterbeziehung solch eine Innigkeit besitzt, kämpfe ich nahezu jeden Abend mit den Tränen. Doch dieser Teil der aktuellen Situation allein zerreißt uns beide innerlich noch nicht genug, denn zu allem Übel existiere ich eigentlich nicht in Harry Styles Weltstar-Leben.

Aufgrund One Directions eingeschlagender Berühmtheit, fanden Journalisten und Paparazzi in kürzester Zeit allerlei private Informationen über die fünf Bandmitglieder heraus, unter Anderem Familienbeziehungen und Freundschaften. Zum Glück waren weder Harry noch ich sonderlich aktiv im Internet oder viel unter Menschen in unserem herrlichen Holmes Chapel gewesen, denn dadurch konnten wir gewisse Abschnitte seines Lebens vor der unermüdlichen Presse verschleiern. Jedenfallssein letztes, bis dato streng behütetes Geheimnis... seine Zwillingsschwester.

Doch als ich mal wieder eines Nachts in unserem düsterem Wohnzimmer auf der Couch eingekuschelt lag und die Haustür behütete, in der Hoffnung, dass Harry bald spontan nach Hause zurückkehrte, hatte ich in diesem Moment keine blasse Ahnung, wie um Himmelwillen ich in einen turbulenden Sturm aus Freundschaften, Lektionen, Enttäuschungen und drastischen Veränderungen einmal um die halbe Welt geraten bin...

*~*~*

„Darling?", Mums besorgte, müde Stimme ertönte von der Treppe, während sie die knarrenden Stufen langsam herabstieg, „Magst du nicht langsam zu Bett gehen? Es ist schon spät."

Keines Blickes würdigend schüttelte ich energielos den Kopf und starrte weiterhin mit leerem Blick die Haustür an, trommelte in meiner geistigen Abwesenheit ungeduldig mit den Fingern auf meinem Oberarm. Mums Hausschuhe waren vom Flur aus zu vernehmen, als sie mithilfe ihrer Handy-Taschenlampe zur später Stunde sich den Weg zu mir ins Wohnzimmer verschaffte. Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich vorsichtig auf der Coucharmlehne über mir nieder, legte beruhigend eine Hand auf meinen Kopf. Behutsam streichelte sie meinblondes Haar, woraufhin ich kraftlos den Kopf zu ihr drehte. Ihre Augen schrien förmlich vor Mitleid und Sorge und ein trauriges Lächeln zierte ihre Lippen.

Sehnsüchtig seufzend blickte ich zur Seite, direkt auf die zahlreichen Fotorahmen mit Kinderbildern von Gemma, Harry und mir, die meinem Herzen einen Stich versetzten. Krampfhaft presste ich die Augen zu und erwiderte:„Das ist mir bewusst, aber Harry-"

Im dezent warnenden Ton unterbrach sie mich: „Helen, Darling...bitte."

Jeder konnte Mum wie ein offenes Buch lesen und erkennen, wie abgeneigt sie gegenüber diesem Thema war und wie allein ihre eigene Überfürsorge um Harry sie schon in den Wahnsinn trieb. Da gab mein nicht seltenes, gereiztes Quengeln und meine fortschreitend verschlechternde psychische Lage ihr den Rest. Tatsächlich war sie eine überausfürsorgliche Mutter, die ihre Kinder - alle drei waren eigentlich schon junge Erwachsene - wie hilflose Welpen behandelte. Leider blieb auch ich nicht verschont, denn seit ihr ältestes Kind, meine große Schwester Gemma, vor einiger Zeit ausgezogen ist, Harry mit seiner Band auf einer aufregenden Welttournee die halbe Welt bereiste und ich endgültig mit dem Studium fertig geworden bin, musste ich gezwungenermaßen die Rolle des Familienbabys einnehmen.

„Helen", Mum zerrte mich aus meinen Gedankengängen, „Bitte geh ins Bett. Höchstwahrscheinlich wird Harry die nächsten Wochen nicht nach Hause kommen."

Ihre Worte versetzten meinem nach Sehnsucht rasendem Herzen und pochendem Kopf einen eiskalten Stich. Bestürzt fuhr ich mit den Händen übers Gesicht, denn weitere Wochen des ungeduldigen Wartens auf meinen geliebten Zwillingsbruder würden mich weiter aus der Bahn werfen. Vor meinem inneren Augen flimmerten Szenen aus meiner Kindheit: Harry und ich beim Bauen von Kissenburgen, Harry und ich beim Singen und beim Spielen von Instrumenten. Harry und ich...

Heiße Tränen stiegen unerwarteterweise auf, ergebend nickte ich und setzte mich auf. Kurz schenkte ich Mum ein erzwungenes Lächeln, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und murmelte ein 'gute Nacht'.

Doch genau in dem Moment, als ich schon hastig die Treppenstufen ansteuerte und mich in meinem Zimmer verkriechen wollte, vernahm ich plötzlich ein dumpfes, klirrendes Geräusch von Schlüsseln. Hastig warf ich einen gebannten Blick über meine Schulter und Mum folgte völlig überrascht diesem, während sie sich langsam von der Couch erhob.

Ist es möglich? Ist es möglich, dass Harry in wenigen Sekunden die Türschwelle übertreten wird? Nach solch einer langen Zeit?

Endlich wurde das Schloss gedreht und die Haustür aufgedrückt, ganz vorsichtig und dramatisch, wobei ich beinahe vor Neugierde und Freude explodierte. Mein Herz hüpfte wie verrückt. Das fette Grinsen in meinem Gesicht schmerzte schon in den Wangen. Im düsteren Wohnzimmer konnte ich nur unscharf den späten Besucher erkennen, aber an diesen hell leuchtenden grünen Augen und dem vertrautem, heiterem Lachen wäre es möglich gewesen, ihn auch unter Tausenden ausfindig zumachen.

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Erschienen: 07. Juli 2013 ©

Die Geschichte ist schon recht alt, also entschuldigt mich, wenn mein Schreibstil früher nicht 'so dufte' war... Seid bitte nicht zu streng mit mir ^-^

~18.03.2020~

Momentan werden die Kapitel auf einige Fehler - bspw. Medien und a/n's - hin korrigiert :) x


c'mon c'mon » l.t. ✓Where stories live. Discover now