Kapitel 46 - Der Mann in Schwarz

150 57 14
                                    



England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
Unbekannter Ort – Irgendwo im Wald
5. November 1898, 22:18 Uhr


Wie ein Hagelschauer prasselten die toten Körper auf sie herunter. Die Leiber der Raben waren genug um dumpfen Schmerz zu verursachen, wenn sie unvermittelt irgendwo auf ihre Körper trafen. Wo zuvor die scharfen Schnäbel nach seinen Augen und seinen Händen gepickt hatten, brannten die blutigen und aufgerissenen Wunden. Um sein Augenlicht zu schützen, hatte Benjamin zwangsläufig den Arm über sein Gesicht ziehen müssen.


Sein Haar war durchwühlt und eine tiefe Kratzspur zog sich über seine Wange und sein Kinn. Obwohl seine Hände bluteten und ebenfalls von Krallen aufgerissen worden waren, hielt er den Revolver noch immer fest umklammert. Sein warmes Blut verschmierte den Griff.


Jetzt stieß er die angehaltene Luft aus und versuchte die Situation zu bemessen. Im ersten Reflex wollte Ben wieder schützend an Kyle herantreten. Doch zu seinem Schrecken war jener verschwunden. Er starrte, dann flog sein Kopf suchend hin und her. Die Raben waren fort, die Laternen ebenso und von Kyle oder der Bedrohung in den Schatten fehlte jedwede Spur. Das laute Krächzen war verstummt, das wilde Flügelschlagen verschwunden und die erdrückende, beklemmende Stille zurückgekehrt, die nur von seinem Herzschlag durchbrochen wurde.


»KYLE!« Benjamins dunkler Bass wallte in die Stille. Aber keine Antwort erklang. Nirgends war eine Bewegung in der Dunkelheit zu bemerken oder zu hören. Da waren nur die schwarzen Stämme und die sich im Wind wiegenden Blätter an kargen Ästen. Benjamin kämpfte die immer weiter aufsteigende Unruhe nieder, während ihm das Herz in die Hose sank.


Das letzte Mal hatte er Crowford gerade noch vor dem Tode retten können. Was wenn er diesmal zu spät kam? Ebenso hätte Ben gegen den gewaltigen Wolf allein nicht den Hauch einer Chance gehabt. Wie sollte er sich ohne den Magier gegen diese Schrecken zur Wehr setzen? Bens Gedanken flackerten wie eine Kerze im Sturm. Er kam nicht gut damit zurecht allein zu sein. Finstere Erinnerungen griffen nach seinen Beinen, erinnerten ihn an das Gefecht im Sand. Nervös rieb er über seine Revolver.


Er durfte jetzt auf keinen Fall in Panik geraten. Dennoch drückte ihm die Erinnerung an das Geschehnis bittere Galle in den Mund und ließ seine Finger erkalten. Die Muskeln am Kiefer des Mannes spannten sich und ließen das kantige Kinn härter werden. Benjamin strich sich das Haar aus der Stirn und blickte sich aus zusammengekniffenen Augen um. Es dauerte etwas, bis sich seine Sicht ausreichend an die Dunkelheit ohne Lichtschein gewöhnt hatte.


Er befand sich offensichtlich nicht mehr an demselben Ort, an dem die Raben ihn und Crowford angegriffen hatten. Hier standen die Reihen der Bäume nicht mehr so dicht und trugen kaum noch Blätter in ihren knorrigen Astgabeln. Das Laub zu seinen Füssen bedeckte wie ein gewaltiger Teppich nahezu lückenlos überall den Waldboden. Das tote Laub formte haufenweise Hügel und ließ nur an wenigen Stellen noch Gras herausspähen. Doch auch jenes schien verkümmert, als wäre es trotz der andauernden Feuchtigkeit von Regen und Moor verdorrt. Nebelfetzen zogen wie geisterhafte Gestalten wabernd über den Boden und ein seltsam stickiger, schwerer Geruch lag in der Luft, den Benjamin jedoch nicht zu deuten wusste.


Aus einer Richtung drang ein dunkler Ton, ein Summen oder melodiöses Säuseln. Kaltes Kribbeln rollte über sein Rückgrat und zerstreute sich in seinem Bauch. Ben schob den Finger wieder vor den Abzug seiner Waffe und setzte seine Schritte mit Bedacht. Blätter rutschten beiseite und brachen knisternd unter seinem Gewicht, als er sich nach vorn schlich. Sein Herzschlag galoppierte in seiner Brust und der Druck nahm stetig zu. Ferne Trommeln zu einem Gardemarsch, der in all seiner Perfektion niemals mehr als Scharade war. Kalte Panik stieg langsam und unaufhaltsam in ihm auf. Er brauchte all seine Konzentration und Stärke, um sie zu unterdrücken. Als würde jemand eine Schlaufe um sein Herz legen und mit jedem Schritt, den er in Richtung Stimme tat, enger ziehen.

Die Akte GrimmWhere stories live. Discover now