Kapitel 27 - Die Geheimnisse

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England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
St. George, Skirrid Inn
5. November 1898, 11:19 Uhr


Hinter Kyles Augen brannte die zehrende Müdigkeit eines ermatteten Geistes. Seine Finger zogen Kreise an den Schläfen, und ein paar Strähnen des rabenschwarzen Haares kitzelten seine Haut. Da er heute Morgen noch immer das Gefühl hatte, von Blut und Morast verklebt zu sein, wusch er sich sogar zweimal das Haar. Nun trug er es zurückgekämmt. Während es begann zu trocknen, sprangen die Locken wieder hervor und fielen nach vorn in seine Züge und seine Stirn.


Dr. Archer war wohl genauso müde, denn er war noch wortkarger an diesem Morgen, als die Tage zuvor. Immer wieder rieb er sich auffallend über die Brust, sodass seine Haut an dieser Stelle schon etwas gerötet war. Er trug sein Hemd nicht völlig zugeknöpft, sein Schal hing lose um den Kragen und das Jackett ruhte über der Lehne seines Stuhls. Anders als Kyle, der sorgsam hergerichtet war, wirkte der Doktor eher, als wäre er tatsächlich zur Erholung an diesem Ort, käme aber mit den Betten nicht zurecht.


Kyle schloss die Augen für einen Moment. Heute war es nahezu vollkommen leer im Skirrid Inn. Nur an einem Tisch, am anderen Ende des Schankraumes, saßen zwei ältere Herren, wie auch den Tag zuvor. Sie unterhielten sich in gesenktem Tonfall, ein paar Augenblicke lang sogar über die arme Tochter der Walsh's. Langsam schien dem einen oder anderen Dorfbewohner doch zu dämmern, dass hier vielleicht mehr vor sich ging, als es bisher den Anschein hatte. Und für eine Gemeinschaft wie den Orden der Sucher, die genau das verhindern wollte, war das alles andere als gut. Das Damoklesschwert schwebte schon über ihren Köpfen. Auf keinen Fall durfte herauskommen, dass hier etwas Übernatürliches vor sich ging. Ihnen rannte so langsam die Zeit davon.


Kyle atmete tiefer ein. Ein leises Klirren erklang, als er die Teetasse zurück auf den Unterteller stellte und die Hände vor sich auf dem Tisch faltete. Sein Blick glitt zur Seite, prüfte einmal verstohlen den Raum und haftete sich dann an den anderen Sucher.


»Also.« begann er und Benjamin hob den Blick. »Was zur Hölle war das gestern Abend?«


»Welchen Teil genau meinst du?« fragte Dr. Archer. Kyle war sich sicher, dass Archer genau wusste, was er meinte! Kyle entging nicht, dass der Doktor seine Sitzposition veränderte, indem er ebenfalls die Tasse sinken ließ und sich etwas zurücklehnte. Die moosgrünen Augen legten sich auf den Magier und bemaßen ihn nahezu lauernd. Kyle kam sich vor, als hätte er gerade mit dem Stock einmal gegen ein Bienennest gestochert und lauschte nun dem wachsenden Summen im Innern, dass ihm eindeutig eine Warnung sein sollte. Die meisten Menschen nahmen die Schwingung in der Luft wahr, erahnten das Gewitter in der Ferne und ließen das Thema lieber fallen, ehe der erste Blitz auf sie niederfuhr. Ungeschickter Weise war Kyles Neugierde geweckt worden. Er streckte die Nase allzu gerne in den zunehmenden Wind, spürte dem Umschwung in der Luft nach und wusste schon vor manchen anderen, dass es Gewittern würde. Dennoch zog er sich nicht in schützendes Unterholz zurück wie ein Kaninchen, dass den Magiern so gern an die Seite gegeben wurde. Stattdessen streckte er dem Himmel die Hände entgegen um der Erste zu sein, der einen Tropfen auffing. Kyle wollte den Dingen auf den Grund gehen. Selbst wenn er sich bei dem Versuch in die Finger stechen würde.


Deshalb kräuselte er leicht die Lippen, dann hob er die Hand und deutete damit leicht auf die Stelle zwischen seiner Schulter und seiner Brust.


»Du hast meine Verletzungen irgendwie geheilt.« meinte Kyle trocken und ließ Dr. Archer dabei nicht aus den Augen.

Die Akte GrimmWhere stories live. Discover now