Kapitel 39 - Das Urteil

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England, Westküste
Devonshire, Dartmoor
St. George, Haus der Fam. Jäger
5. November 1898, 20:35 Uhr


Sie legten die Strecke diesmal weit schneller zurück. Der Wald erhob sich wie ein finsterer Wall zu ihrer Seite, als sie dem schmalen Pfad zum Haus der Jäger folgten und schließlich das leise Blöken der kleinen Schafsherde vernahmen. In der Dunkelheit der Nacht reckte die Vogelscheuche ihre dürren Arme wie ein Schreckgespenst in den Himmel. Auf dem gesamten Weg wankte Kyle zwischen siedendem Groll und Schuldgefühlen.


Die Sache mit Elly verfolgte ihn wie ein eigener, finsterer Schatten und ließ seine Hand zittern, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Immer wieder fragte er sich, ob er etwas anderes hätte tun können, als zu schießen. Ob ihm die Ungereimtheiten mit Elly nicht hätten eher auffallen müssen. Warum er die Zeichen nicht erkannt hatte. All die Kleinigkeiten. Die verdammten Fliegen oder den Geruch!


Nach außen prahlte er stets so voller großer Worte, bildete sich viel auf seine Arkane Kunst und sein Wissen in diesem Bereich ein. Doch eigentlich... stand auch er noch am Anfang eines langen Weges. Er hatte Elly misstraut, sein Bauchgefühl hatte ihn gewarnt. Doch er hatte es ignoriert. Und das wiederum ließ Frust aufschäumen. Hatte Elly die ganze Zeit mit der alten Jäger zusammengearbeitet? Sie auf falsche Spuren geführt? War alles gelogen gewesen? Warum aber sollte sie dann die Familie Jäger erwähnt und erst in den Verdacht gerückt haben? Das alles ergab noch immer keinen Sinn. Eventuell hatte Elly aber auch einfach keine Lust mehr gehabt, sich benutzen zu lassen?


Das Motiv der Alten war dagegen nicht schwer zu erraten. War die Alte wirklich gerissener, als sie gedacht hatten? Was, wenn sie Elly das Buch gegeben und sie einfach als Rachewerkzeug benutzt hatte? Oder wollte sie das Mädchen als Sündenbock in ihrem Racheplan? Kyle presste die Lippen zusammen und haftete den Blick an die Holzpforte. Im Innern brannte kaum noch Licht, höchstens vermutlich die glimmenden Restkohlen des Feuers.


»Lass uns dem ein Ende setzen.« Erklang Dr. Archers dunkler getränkte Stimme neben ihm und Kyle nickte nur. Der Klumpen in seinem Magen und seinem Hals saß zu fest.


Diesmal prallten Dr. Archers Fäuste weit weniger höflich an das alte Holz. Die Tür erzitterte unter den Schlägen, als spürte sie das Sturmgrollen, das sich vor ihr zusammenbraute. Als kein Zeichen einer Reaktion folgte, hämmerte Dr. Archer noch deutlicher dagegen.


»Mrs. Jäger! Öffnen sie sofort oder wir brechen die Tür ein!« gellte seine Stimme laut in die Nacht. Ein bedrohlicher Klang hinter einer Drohung, die sie nicht zögern würden zu erfüllen. Dr. Archer zog die Waffe aus dem Halfter und umfasste den Revolver schussbereit mit beiden Händen. Muskeln spannten unter seiner Kleidung, verfestigten sich an seinem Hals und seinen Schultern und ließen den Mann ein paar Zentimeter größer erscheinen als zuvor schon.


Ein tänzelndes Licht erschien endlich in der Stube, dann folgten rasche aber feste Schritte.


»Wer ist da?« bellte es von der anderen Seite nicht weniger gereizt.


»Archer und Crowford! Öffnen Sie die Tür! « forderte der ehemalige Soldat mit der Stimme eines Mannes, der die Farbe seiner Stimmbänder einzusetzen wusste. Vielleicht lag es ihm auch im Blut seines hochwohlgeborenen Namens. Das Zusammenspiel von Nacht und der Härte seiner Züge ließ seine Mimik finster und bedrohlich erscheinen. Das erste Mal dachte sich Kyle, dass er Archer nicht unbedingt zum Feind wollte.

Die Akte GrimmWhere stories live. Discover now